Vom heilkräftigen Dirschenöl
Dr. Franz Wöß
Erschienen: Innsbrucker Nachrichten / 2. Oktober 1938
Über diesen Text...
Die Haymonsage und ihre Moral zeigten sich im Laufe der Jahrhundert je nach Zeitgeist ebenso flexibel wie das Christentum bei seiner Einführung in der Spätantike. Vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert standen die Konvertierung Haymons, der Schutz der bäuerlichen Untertanen durch das christliche Rittertum und die Klostergründung im Mittelpunkt, um das segensreiche Feudalwesen zu untermauern. In diesem Artikel hingegen entfiel das katholische Element des Klosterbaus fast komplett, dafür wurde das deutsche stärker betont. Haymon beendete sein Leben nicht im Stift Wilten als Kleriker, sondern als Einsiedler am Seefelder Plateau.
Vom heilkräftigen Dirschenöl
Wie die Sage vermeldet, zog mit Dietrich von Bern, der auf der alten Römerstraße vom Süden nach Tirol kam, auch der Riese Haymon, ein Edler aus rheinischem Geschlechte, der „was sehr fromm“. Er erschlug im Streit einen andern Riesen, den Wildenmann, der die Felder verwüstete und die Bauern baten ihn, er möge sie auch weiterhin als ihr Herr beschützen. Haymons junge Herrschaft wollte aber ein einheimischer Riese aus der Seefelder Gegend, Thyrsus, nicht dulden.
Wo heute das Dörfchen Zirl an der Oberinntalstraße liegt, kam es zum Kampf zwischen den beiden Riesen. Sie trafen einander in der Reschenfuhrung, wie sie das schöne Gemälde der Wiltener Stiftskirche in Innsbruck zeigt. Haymon, der christliche Ritter mit Schwert und Schild, Thyrsus, der heidnische Unmensch, mit einem ungeheuren, scharf gezahnten Zirbelnussholz. Haymon siegte. Thyrsus, der zu Tode getroffen, in die Berge vor Seefeld flüchtete, wo er sterbend sein Blut in das Gestein fließen ließ, damit seine Bauern daraus Heilkraft schöpfen könnten:
„Geh’ hin, unflüssiges Blut,
Das sei für Tier und Menschen gut!“
Mit diesem letzten Worte verehrte Thyrsus den Seefeldern und Reither Bauern ein wertvolles Gut, das „Thyrsusblut“ oder Dirschenöl, das spätere Ichthyol.
Haymon bereute seine Untat und erbaute zur Sühne das heilige stille Wirken an der Stelle seines Kampfes: das Stift Wilten. Dann lebte er als Büßer weiter in einer Höhle am Bergkegel. Beim Tode seines Walles entblößte er einmal, wie auch der versöhnte Ort prophezeite, das wertvolle Öl.
Die Bauern der Seefelder Gegend verwendeten dieses Thyrsusmittel durch obiges Deifikationswort als ein „Einheimisches“. Die häufigen Schiefergeschiebe mit ihren ölhaltigen Dirschenflüssigkeitsgefäßen auf einen Herd gebracht und dort durch Ausdünstung- und Schwitzprozess Ichthyol gewonnen, wie auch heute wieder – der Seefelder Oelfischer durch Jahrhunderte das heilkräftige Oel geliefert hatte, verwendeten man als Heilöl, zu Heizungssalben, wie den Maximilianischen Zimmern zu Brixen oder auch im Wiener Krankenhaus verbrachte Salben und Rollen. Doch das seiner feinen Erdöl und harzigen Rückstände entölte Ichthyol entfesselt das innerste Urwesen.
Dass aus Dirschenöl das Blut des erschlagenen Riesen Thyrsus sei, das noch wohl nun die Seefelder Bauern geglaubt haben, die das Mittel mühsam aus dem Stein gewannen, hoch über dem Inntal, wie es der Kampf der kulturbringenden, bergfahrigen Germanenstämme mit der Urbevölkerung versinnbildlicht, ist kaum der Wirklichkeit nachzufühlen. Ichthyol – nach der griechischen Schrift über das Fischöl – erteilt keinen giftigen oder süßsäuerlichen Reiz, der bei den Stinkölen häufig auftritt.
Ebenso wie bei der Darstellung, daß dieses wertvolle Heilöl von einem christlichen Riesen sei, das ihm der Riesen Thyrsus hinterließ, herrscht auch bei der Namensnennung Ichthyol die Vorstellung, daß organisches Leben die Grundlage dieses Lebenssaftes, die Fische und andere Wasserwesen, entließen im Schieferkitt für den Menschen zur Verwendung. Nun finden sich solche Fischreste allerdings meist nicht im eigentlichen Ichthyolschiefer, sondern nur im Gestein; man kann den Namen Ichthyol daher nicht als so berechtigt ansehen, weil dieser Gesteinsschiefer und Erdöl zweifellos besonders schwefelreich sind. Der Seefelder Schiefer enthält bis zu 10 % Rohöl und trotz viel Harz und Fett wenig Schwefel. Der Schwefel soll die Heilwirkung abgeschlossen haben.
Der deutsche Arzneialmanach empfiehlt Ichthyol gegen entzündliche Vorgänge an Haut und Glied. Ebenso gehört es zu einem edlen Bestand der Urotropintherapie, aber auch in der Tierheilkunde findet Ichthyol viel Verwendung.