Waisenhaus & Siebererschule

Siebererstraße 7-9

Sieberer Waisenheim und Siebererschule

Als am 1. Oktober 1889 das Sieberer Waisenhaus eröffnet wurde, überschlugen sich die Innsbrucker Nachrichten in ihrem Lob für den Gönner Johann von Sieberer, dessen Spende das Projekt erst ermöglicht hatte.

Wohl selten hat eine Stadtgemeinde gerechtere und begründetere Ursache sich zu freuen und festlich zu schmücken, als heute die Stadt Innsbruck, da eine Stiftung derselben übergeben wird, wie eine solche wohl selten eine Stadt sich erfreuen kann. Diese Freude und Festestimmung wird noch erhöht durch die Anwesenheit des erlauchten Bruders unseres geliebten Monarchen, seiner k. und k. Hoheit des Herrn Erzherzogs Karl Ludwig, der hierher gekommen ist um zu beweisen wie hoch der edle Prinz ein Werk reinster Menschenfreundlichkeit zu schätzen weiß und demselben seine Anerkennung zu zollen. Schon wenn der Name des kaiserlichen Prinzen ertönt, schlägt höher das Tiroler Herz….“ 

Den Beschluss zum Bau des Waisenhauses fasste Sieberer bereits 1885, nachdem das Land Salzburg sein Angebot mit der Begründung ausschlug, dass es dort bereits genügend solcher Institutionen. Es war pures Glück, dass sich Sieberer seiner Tiroler Wurzeln entsann und die Hauptstadt Innsbruck für sein Wirken auserkor. Die Stadt hatte eine Unternehmung in diese Richtung selbst schon erwogen, es fehlten aber die finanziellen Mittel. Sieberer überließ der Stadt einen Teil seines Vermögens in Form einer Kaution auf seine Wiener Immobilien, um damit Grundstück und Bau zu bezahlen.

Die Widmung war an die Bedingung geknüpft, dass das Waisenhaus von den Barmherzigen Schwestern betrieben werde und maximal 200 katholische Kinder Innsbrucker Eltern zwischen 6 und 15 Jahren aufgenommen werden dürfen. Der Bau entstand zwischen 1886 und 1889 und wurde im Neorenaissancestil aufwändig verwirklicht. Die beiden Statuen über dem Eingang repräsentieren den „Unterricht“ und die „Menschenliebe„, zwei Dinge, die dem katholischen Humanisten Sieberer sehr wichtig waren. Der Architekt Eugen Sehnal war dazu angehalten, auf Geheiß des Stifters dessen Vorstellungen von Moral und Tugend in der Stadt baulich zu verankern.

Durch die Aufklärung setzte auch ein Umdenken im Umgang mit unehelichen Kindern ein. War es bislang unter Strafe gestanden und teils mit dem Pranger oder Schlimmerem bestraft worden, wenn eine Frau ein uneheliches Kind zur Welt brachte, so war dies kein Strafbestand mehr. Vor allem unverheiratetes Dienstpersonal und Mägde konnten ihre Kinder häufig nicht behalten. Die Kinder wurden, falls es innerhalb der Familie keine Möglichkeit der Unterbringung gab, katholischen Pflegeeltern oder einem Waisenhaus übergeben. Die christliche Moral des Volkes zog noch lange nicht mit dem Gesetz nach. Die betroffenen Frauen blieben, obwohl ein erheblicher Teil der Kinder unehelich war, bis weit ins 20. Jahrhundert ausgegrenzt. Goethes Drama Faust gibt einen guten Einblick in die Sitten der Zeit über das Schicksal Gretchens, die sich wegen einer unehelichen Schwangerschaft das Leben nimmt.

Staatliche Waisenhäuser bereiteten die Buben häufig auf eine Karriere im Militär vor. Das Exerzieren gehörte schon von Kindesbeinen an zum Tagesablauf. Waisenhäuser waren für das Militär eine Quelle, um den im 18. Jahrhundert steigenden Bedarf an menschlichem Material zu befriedigen. Gleichzeitig ermöglichte das Militär den Waisen einen Karriereweg, der den sozial Benachteiligten vorher meist verwehrt geblieben war. Der fromme Sieberer wollte die Kinder aber nicht militärisch, sondern christlich erziehen lassen. Ein Kaplan kümmerte sich um Messen und Religionsunterricht, die Ordensfrauen der Barmherzigen Schwestern um die Verpflegung und sonstige Erziehung.

Der Alltag der Zöglinge des Waisenhauses erfolgte ganz im Sinne Sieberers streng nach katholischen Maßstäben. Der Stifter stand persönlich in stetem Austausch mit dem Personal um den Gesundheitszustand, die Ernährung, Disziplin und Schulerfolg zu überwachen. Der Tagesablauf war streng geregelt, Unordnung wurde weder beim Personal noch bei den Kindern geduldet. 

Der Schriftsteller Josef Leitgeb (1897 – 1952), der gemeinsam mit seinem Bruder nach dem Tod seiner Mutter zwischen 1906 und 1910 ein Zögling des Waisenhauses war, beschrieb die Atmosphäre des Hauses in seinem autobiografischen Roman Das unversehrte Jahr so:

…die geometrische Rechtwinkligkeit des Gebäudes fand in der Hausregel ihr Widerspiel, die nun unser Leben wie ein Netz von feinen Drähten überzog. Wir waren aus einem warmen, blühenden Ungefähr in eine kühle graue Regelhaftigkeit geraten.“

Mit dem Ersten Weltkrieg und den Problemen der Folgezeit mit Geldentwertung und Wirtschaftskrise kam das Waisenhaus nach dem Tod des Stifters in finanzielle Bedrängnis. Damit einher ging der Verlust der Qualität der Versorgung und Erziehung. Das Waisenhaus ist heute eine Volksschule mit Kindergarten. Im Untergeschoss ließ sich Freiherr Johann von Sieberer seine Gruft samt einer letzten Ruhestätte aus Marmor errichten.

Johann von Sieberer: Innsbrucks guter Geist

Waren es in Mittelalter und Früher Neuzeit vor allem Kirche und Aristokratie, die für die Entwicklung von Infrastruktur und Bauten im öffentlichen Raum verantwortlich waren, machten sich im 18. und 19. Jahrhundert Mitglieder des wohlhabenden Bürgertums dazu auf, das Stadtbild mit ihren Projekten zu prägen. Das bekannteste Mitglied dieser neuen Klasse erfolgreicher Unternehmer in Innsbruck war Freiherr Johann von Sieberer.

Johann Sieberer kam 1830 in Going bei Kitzbühel als uneheliches Kind zur Welt. Der Bischof von Salzburg verbrachte seine freien Tage gerne in den Tiroler Bergen. Das Schulwesen des Tiroler Unterlandes wurde damals ebenfalls von der Diözese Salzburg administriert. Bei einer Visite der örtlichen Volksschule bemerkte er einen besonders wiffen Burschen.  

1840 wurde Sieberer auf Geheiß des Bischofs im Borromäum zu Salzburg als Singknabe aufgenommen. Der Erzbischof von Salzburg erkannte früh das herausragende Talent und ermöglichte dem Jungen den Besuch des Franziskanergymnasiums in Hall in Tirol.

Nach dem Schulabschluss studierte er in Wien Rechtswissenschaften, bevor er in den Dienst der Familie des Bischofs von Salzburg, den Fürsten von Schwarzenberg eintrat. Diese Familie zählte zu den einflussreichsten der österreichischen Aristokratie. Erzherzog Albrecht, in dessen Dienst Sieberer stand, war der Begründer der Wiener Kunstsammlung Albertina. Sieberer arbeitete in der Administration der Industrieanlagen der Familie und lernte auf Reisen durch die Monarchie viele Mitglieder der Aristokratie und des Geldadels der K&K Monarchie kennen. Als er auf Vermittlung Albrechts ab 1860 für die Versicherungsgesellschaft Österreichischer Phönix arbeitete, konnte er diese Kontakte zu Geld machen. Durch den Verkauf hoher Polizzen an Mitglieder der Habsburgerfamilie und andere Adlige kam er zu einem großen Vermögen. In Meidling bei Wien erwarb er seine Privatvilla und legte sein Geld in Zinshäusern in der Hauptstadt an.

Wofür Johann von Sieberer vor allem bekannt ist, sind seine großzügigen Stiftungen in Innsbruck. Mit den gesellschaftlichen Veränderungen des 19. Jahrhunderts begann im städtischen Bereich die traditionelle Großfamilie ihre Rolle als erste Anlaufstelle in Not zu verlieren. Der Staat hatte zwar die Wohlfahrt von der Kirche seit Maria Theresia mehr und mehr übernommen und an die Kommunen ausgelagert, häufig fehlten aber die Mittel dafür. Diese Lücke schloss der streng gläubige und fromme Katholik Sieberer in Innsbruck als eine Art patriotischer Mäzen im Sinne der christlichen Nächstenliebe.

Von 1885 bis zu seinem Tod 1914 ließ Sieberer der Tiroler Landeshauptstadt seine Wohltätigkeit angedeihen. Das Waisenhaus samt einem Fond zu dessen Betreibung sowie das Franz-Joseph-Jubiläums-Greisenasyl gehen auf die Spenden des Menschenfreunds Sieberer zurück. Auch am Umbau der Jesuitenkirche beteiligte er sich. Leider nur mehr auf Archivbildern zu sehen ist der prachtvolle Vereinigungsbrunnen, der 1906 am damals noch protzigen Bahnhofsplatz im Stile des Historismus errichtet wurde und 1940 dem neuen Verkehrskonzept weichen musste.

Das Waisenhaus und das Kaiser-Franz-Josef-Greisenasyl waren Infrastruktur, die von der Stadt ob der angespannten finanziellen Lage nicht finanziert werden konnte. Auch Aristokratie und Kirche fielen nach den Reformen von 1848 als Sponsor aus. Sieberer fühlte sich dem, was Max Weber als protestantische Arbeitsethik bezeichnete, zugehörig, ahmte aber die konservativen Adelskreise, in denen er sozialisiert worden war, nach. Der einzelne, tugendhafte Bürger sollte dem Kollektiv als Exempel dienen. Seine beiden Bauprojekte waren Statements und Ausdruck eines neuen bürgerlichen Selbstverständnisses. Interessant ist, dass Sieberer sich, anders als Monarchen und Fürsten der Vergangenheit, nicht namentlich auf seinen Projekten inszenieren ließ.

1909 wurde Sieberer von Bürgermeister Wilhelm Greil zum Ehrenbürger Innsbrucks, 1910 vom Kaiser zum Freiherrn ernannt. In Innsbruck erinnert die Siebererstraße im Stadtteil Saggen an diesen großen Innsbrucker. Ein Denkmal zu Ehren Sieberers war noch zu dessen Lebzeiten geplant. Der Erste Weltkrieg und die darauffolgenden politischen und finanziellen Probleme verhinderten die Errichtung. 

Wilhelm Greil: DER Bürgermeister Innsbrucks

Einer der wichtigsten Akteure der Stadtgeschichte war Wilhelm Greil (1850 – 1923). Von 1896 bis 1923 bekleidete der Unternehmer das Amt des Bürgermeisters, nachdem er vorher bereits als Vizebürgermeister die Geschicke der Stadt mitgestaltet hatte. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war in der Innsbrucker Stadtpolitik vom Kampf liberaler und konservativer Kräfte geprägt. Greil war ein geschickter Politiker, der sich innerhalb der vorgegebenen Machtstrukturen seiner Zeit bewegte. Er wusste sich um die traditionellen Kräfte, die Monarchie und den Klerus geschickt zu manövrieren und sich mit ihnen zu arrangieren.

Unter ihm wurde von der Stadt ganz im Sinne des Kaufmanns vorausschauend Grund angekauft, um Projekte zu ermöglichen. Unter Wilhelm Greil erweiterte sich Innsbruck beträchtlich. Der Politiker Greil konnte sich bei den großen Bauprojekten der Zeit auf die Beamten und Stadtplaner Eduard Klingler, Jakob Albert und Theodor Prachensky stützen. Neben den Villen im Saggen entstanden auch die Wohnhäuser im östlichen Teil des Stadtviertels. Infrastrukturprojekte wie das neue Rathaus in der Maria-Theresienstraße 1897, die Hungerburgbahn 1906 und die Karwendelbahn wurden umgesetzt. Andere Projekte waren die Erneuerung des Marktplatzes und der Bau der Markthalle.

Vieles, was in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorangetrieben wurde, gehört heute zum Alltag. Für die Menschen dieser Zeit waren diese Dinge aber eine echte Sensation und lebensverändernd. Die vier Jahrzehnte zwischen der Wirtschaftskrise 1873 und dem Ersten Weltkrieg von einem nie dagewesenen Wirtschaftswachstum und einer rasenden Modernisierung gekennzeichnet. Die Wirtschaft der Stadt boomte. Betriebe in Pradl und Wilten gründeten sich und lockten Arbeitskräfte an. Auch der Tourismus brachte frisches Kapital in die Stadt.

Bereits sein Vorgänger Bürgermeister Heinrich Falk (1840 – 1917) hatte erheblich zur Modernisierung der Stadt und zur Besiedelung des Saggen beigetragen. Seit 1859 war die Beleuchtung der Stadt mit Gasrohrleitungen stetig vorangeschritten. Zwischen 1887 und 1891 wurde Innsbruck mit einer modernen Hochdruckwasserleitung ausgestattet, über die auch Wohnungen in höher gelegenen Stockwerken mit frischem Wasser versorgt werden konnten. Wilhelm Greil veranlasste die Übernahme des Gaswerks in Pradl und des Elektrizitätswerks in Mühlau in städtischen Besitz. Die Straßenbeleuchtung wurde auf elektrisches Licht umgestellt.

Greil konnte sich bei dieser Innsbrucker Renaissance auf der Stadt geneigte Mäzen aus dem Bürgertum stützen. Freiherr Johann von Sieberer stiftete das Greisenasyl und das Waisenhaus im Saggen. Leonhard Lang stiftete das Gebäude, das vorher als Hotel genutzt wurde, in das das Rathaus von der Altstadt 1897 übersiedelte, gegen das Versprechen der Stadt ein Lehrlingsheim zu bauen.

In seinen letzten Amtsjahren begleitete Greil Innsbruck am Übergang von der Habsburgermonarchie zur Republik durch Jahre, die vor allem durch Hunger, Elend, Mittelknappheit und Unsicherheit geprägt waren. Er war 68 Jahre alt, als italienische Truppen nach dem Ersten Weltkrieg die Stadt besetzten und Tirol am Brenner geteilt wurde, was für ihn als Vertreter des Deutschnationalismus besonders bitter war.

Greil gehörte der "Deutschen Volkspartei" an, einer liberalen und national-großdeutschen Partei. Was uns heute als Widerspruch erscheint, liberal und national, war im 19. Jahrhundert ein politisch übliches und gut funktionierendes Gedankenpaar. Der Pangermanismus war keine politische Besonderheit einer rechtsradikalen Minderheit, sondern eine Strömung der Mitte, die bis nach dem Zweiten Weltkrieg durch fast alle Parteien hindurch in unterschiedlicher Ausprägung Bedeutung hatte. Unter anderem war Bürgermeister Wilhelm Greil ein Verfechter einer deutschnationalen Lösung, die sich mehr nach Norden als in die östlichen Teile der Monarchie orientierte.

Bedingt durch eine Wahlordnung, die auf das Stimmrecht über Vermögensklassen aufgebaut war, konnten sich große Massenparteien wie die Sozialdemokraten noch nicht durchsetzen. Die Konservativen hatten es, anders als im restlichen Tirol, schwer in Innsbruck, dessen Bevölkerung seit der Zeit Napoleons liberale Morgenluft geschnuppert hatte. Viel mehr waren es eben die von wohlhabenden Bürgern und Unternehmern unterstützten liberalnationalen Politiker, die den politischen Ton Innsbrucks dieser Zeit vorgaben.

1928 verstarb Altbürgermeister Greil als Ehrenbürger der Stadt Innsbruck im Alter von 78 Jahren. Die Wilhelm-Greil-Straße war noch zu seinen Lebzeiten nach ihm benannt worden.