Pradlerstraße
Pradlerstraße
Wissenswert
Bereits in der frühen Neuzeit führte eine Brücke über die Sill. Hier begann der von Ferdinand II. befestigte Fürstenweg, der bis zum Schloss Ambras führte. Der nördliche Teil dieser frühen Nord-Süd-Verbindung ist die heutige Pradlerstraße. Ein Blick auf den Werdegang dieses kleinen Gebietes erzählt die Entwicklungsgeschichte Innsbrucks zwischen dem 16. und dem 20. Jahrhundert.
Durch das Mittelalter und die frühe Neuzeit hindurch war Pradl eines von vielen kleinen, ländlich geprägten Dörfern. Wo heute die Leitgebhalle steht, befand sich bereits ab dem späten 17. Jahrhundert eine kleine Kapelle. Dieses Gotteshaus beheimatete eine Kopie von Lukas Cranachs Gnadenbild Mariahilf. Das Haus Pradlerstraße 9 an der Ecke zur Reichenauerstraße trägt an der nördlichen Fassade eine Kopie der beliebten Darstellung der Heiligen Maria. Dieses Haus war auch das Geburtshaus des Schriftstellers Rudolf Greinz (1866 – 1942), der sich mit Tiroler Heimatromanen so sehr in die Gunst seiner Leser schrieb, dass man in Pradl noch zu Lebzeiten eine Straße nach ihm benannte.
Im 19. Jahrhundert wurde Pradl wie die anderen Randgebiete zur industriellen Boomtown. Die Bauernhäuser wurden im Rahmen der Stadterweiterung nach und nach von den modernen Wohnhäusern und Siedlungen umschlungen. Damit einher gingen auch soziale Spannungen zwischen den zugezogenen Arbeitern und den „einheimischen“ Pradlern. Bereits vor der Vereinigung Pradls mit Innsbruck 1904 siedelten sich große Arbeitgeber wie die Seidenspinnerei Rhomberg und das Gaswerk an. Bäckereien, Metzger, kleine Läden und Gaststätten eröffneten. Es bedurfte neuer Häuser und Wohnungen für die Angestellten und Arbeiter. Zwischen den Kreuzungen Amthorstraße/Pradlerstraße und Gumppstraße/Pradlerstraße befinden sich bis heute mehrere dieser sehenswerten bürgerlichen Wohn- und Mietzinshäuser.
Pradlerstraße 32 war Wohnhaus und Werkstätte Rafael Thalers, der als Restaurator und Künstler für viele Fassadenmalereien und Fresken im Heimatstil in und rund um Innsbruck verantwortlich war. Das Gebäude wird von seinen eigenen Werken geschmückt. Haus Nummer 36 wird von einer Darstellung des Weinhändlers Benedikt Fritz geziert. Hausnummer 38 ist ein wunderbares Beispiel für den Heimatstil, der zu dieser Zeit charakteristisch für Innsbrucks Architektur war. Die Wandmalerei dieses Eckhauses, ebenfalls von Rafael Thaler, zeigt zwei Frauenfiguren, die Handel und Gewerbe repräsentieren. Das darunter stehende Bonmot war Ausdruck eines neuen bürgerlichen, jedoch noch immer konservativen, Selbstverständnisses der Besitzer.
„Arbeit ist des Bürgers Zierde,
Segen ist der Mühe Preis,
ehrt den König seine Würde,
ehret uns der Hände Fleiß“
Die wachsende Bevölkerung musste nicht nur mit Arbeit, sondern auch mit Bildung und Seelsorge versorgt werden. Zwischen den Bauernhäusern im Norden und den Wohnhäusern im Süden der Pradlerstraße entstand ein neues Stadtteilzentrum rund um die Wahrzeichen der Pradler Erweiterung, die Leitgebschule und die neue Pfarrkirche.
Um den vielen neuen Seelen Pradls Herr zu werden, war die kleine Kirche im 19. Jahrhundert zu klein geworden. Von 1905 bis 1908 wurde die Pradler Kirche errichtet. Eindrucksvoll ist das Löwenportal aus rotem Marmor. Die Flügeltüre wurde nach einem Bombenschaden im Zweiten Weltkrieg neu gestaltet. Die neoromanische Kirche stellt das letzte Hurra der monarchischen Dominanz in der Architektur dar. Das gegenüberliegende Gebäude, obwohl gleichzeitig errichtet, weist schon den Weg zu einer moderneren Architektur. Die Leitgebschule wurde zwischen 1907 und 1908 nach Plänen Eduard Klinglers erbaut. Namensgeber war der Innsbrucker Schriftsteller Josef Leitgeb (1897 – 1952), dessen Erzählungen und Gedichte einen Einblick in die bewegte Zwischenkriegszeit Österreichs geben. Der auf den ersten Blick sperrige und nüchterne Kubus wirkt bei näherem Hinsehen in seinen Details erstaunlich leicht, beinahe klassizistisch.
Zwischen die alten Bauernhäuser der Frühen Neuzeit im Süden, die schicken Gründerzeithäuser und die Mietskasernen der Jahrhundertwende mischen sich viele Wohnprojekte, die in der Nachkriegszeit errichtet wurden. Wegen ihrer Nähe zum Bahnhof wurden viele Gebäude der Pradlerstraße Opfer des Luftkrieges. Die Bronzeschilder mit der Aufschrift
„Dieses Haus wurde in den Kriegsjahren 1939/45 zerstört und aus Fondsmitteln des Bundesministeriums f. Handel u. Wiederaufbau in den Jahren unter dem Bundeskanzler Ing. Julius Raab wiederhergestellt.“
deuten auf diese Zerstörung und den darauffolgenden Wiederaufbau hin.
Pradl entwickelte sich seit den 1950er Jahren zu einem typischen Wohnviertel der Innsbrucker Mittelklasse. Seit den 1990er Jahren erlitt die Pradlerstraße das typische Schicksal zentrumsnaher Stadtviertel Europas. Während der bayerischen Besatzung zur Zeit der napoleonischen Kriege war die Straße mit Papeln zu beiden Seiten geschmückt worden. Während der Industrialisierung Pradls und in der finanziell klammen Zwischenkriegszeit wurde auf die Pflege der einst schönen Allee nach und nach vergessen. Im Rahmen der Straßenverbreiterung der autozentrierten 1960er Jahre wurden die Bäume endgültig dem Autoverkehr geopfert. Alteingesessene Gewerbe- und Handelsbetriebe werden nicht mehr übernommen, neue Geschäfte sperrten häufig auf, um kurz darauf wieder zu schließen. Einkäufe wurden nicht mehr lokal, sondern in den Einkaufszentren am Stadtrand oder im Sillpark erledigt. Seit einigen Jahren gibt es Initiativen, um die einstige Prachtstraße neu erblühen zu lassen.
Klingler, Huter, Retter & Co: Baumeister der Erweiterung
Die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts gingen als Gründerzeit in die österreichische Geschichte ein. Nach einer Wirtschaftskrise 1873 begann sich die Stadt im Wiederaufschwung auszudehnen. Von 1880 bis 1900 wuchs Innsbrucks Bevölkerung von 20.000 auf 26.000 Einwohner an. Das 1904 eingemeindete Wilten verdreifachte sich von 4000 auf 12.000. Im Zuge technischer Innovationen veränderte sich auch die Infrastruktur. Gas, Wasser, Elektrizität wurden Teil des Alltags von immer mehr Menschen. Das alte Stadtspital wich dem neuen Krankenhaus. Im Saggen entstanden das Waisenhaus und das Greisenasyl Sieberers. Das erste Telephon Innsbrucks meldete sich 1893 zum Dienst. Um die Jahrhundertwende gab es bereits über 300 Anschlüsse in der Stadt.
Die Gebäude, die in den jungen Stadtvierteln gebaut wurden, waren ein Spiegel dieser neuen Gesellschaft. Unternehmer, Freiberufler, Angestellte und Arbeiter mit politischem Stimmrecht entwickelten andere Bedürfnisse als Untertanen ohne dieses Recht. Anders als im ländlichen Bereich Tirols, wo Bauernfamilien samt Knechten und Mägden in Bauernhäusern im Verbund einer Sippschaft lebten, kam das Leben in der Stadt dem Familienleben, das wir heute kennen, nahe. Der Wohnraum musste dem entsprechen. Der Lifestyle der Städter verlangte nach Mehrzimmerwohnungen und freien Flächen zur Erholung nach der Arbeitszeit. Das wohlhabende Bürgertum bestehend aus Unternehmern und Freiberuflern hatte den Adel zwar noch nicht überholt, den Abstand aber verringert. Sie waren es, die nicht nur private Bauprojekte beauftragten, sondern über ihre Stellung im Gemeinderat auch über öffentliche Bauten entschieden.
Die 40 Jahre vor dem Ersten Weltkrieg waren für Baufirmen, Handwerker, Baumeister und Architekten eine Art Goldgräberzeit. Die Gebäude spiegelten die Weltanschauung ihrer Bauherren wider. Baumeister vereinten dabei mehrere Rollen und ersetzten oft den Architekten. Die meisten Kunden hatten sehr klare Vorstellungen, was sie wollten. Es sollten keine atemberaubenden Neukreationen sein, sondern Kopien und Anlehnungen an bestehende Gebäude. Ganz im Geist der Zeit entwarfen die Innsbrucker Baumeister nach dem Wunsch der finanziell potenten Auftraggeber die Gebäude in den Stilen des Historismus und des Klassizismus sowie des Tiroler Heimatstils. Klare Formen, Statuen und Säulen waren stilprägende Elemente bei der Anlage neuer Gebäude. In einem teils wüsten Stilmix wurden die Vorstellungen, die Menschen vom klassischen Griechenland und dem antiken Rom hatten, verwirklicht. Nicht nur Bahnhöfe und öffentliche Gebäude, auch große Mietshäuser und ganze Straßenzüge, sogar Kirchen und Friedhöfe entstanden entlang der alten Flurwege in diesem Design. Das gehobene Bürgertum zeigte sein Faible für die Antike mit neoklassizistischen Fassaden. Katholische Traditionalisten ließen Heiligenbilder und Darstellungen der Landesgeschichte Tirols in Wandmalereien auf ihren Heimatstilhäusern anfertigen. Während im Saggen und Wilten der Neoklassizismus dominiert, finden sich in Pradl Großteils Gebäude im konservativen Heimatstil.
Viele Bauexperten rümpften lange Zeit die Nase über die Bauten der Emporkömmlinge und Neureichen. Heinrich Hammer schrieb in seinem Standardwerk „Kunstgeschichte der Stadt Innsbruck“:
„Schon diese erste rasche Erweiterung der Stadt fiel nun freilich in jene baukünstlerisch unfruchtbare Epoche, in der die Architektur, statt eine selbstständige, zeiteigene Bauweise auszudenken, der Reihe nach die Baustile der Vergangenheit wiederholte.“
Die Zeit der großen Villen, die die Adelsansitze vergangener Tage mit bürgerlicher Note nachahmten, kam mangels Platzgründen nach einigen wilden Jahrzehnten an ihr Ende. Eine weitere Bebauung des Stadtgebietes mit Einzelhäusern war nicht mehr möglich, zu eng war der Platz geworden. 1898 beschloss der Gemeinderat, östlich der Claudiastraße nur noch Wohnblöcke anstatt der Villen im großzügigen Cottage Stil zu genehmigen. Der Bereich Falkstraße / Gänsbachstraße / Bienerstraße gilt bis heute als Villensaggen, die Gebiete östlich als Blocksaggen. In Wilten und Pradl kam es zu dieser Art der Bebauung gar nicht erst gar nicht. Trotzdem versiegelten Baumeister im Goldrausch immer mehr Boden. Albert Gruber hielt zu diesem Wachstum 1907 eine mahnende Rede, in der er vor Wildwuchs in der Stadtplanung und Bodenspekulation warnte.
„Es ist die schwierigste und verantwortungsvollste Aufgabe, welche unsere Stadtväter trifft. Bis zu den 80er Jahren (Anm.: 1880), sagen wir im Hinblick auf unsere Verhältnisse, ist noch ein gewisses langsames Tempo in der Stadterweiterung eingehalten worden. Seit den letzten 10 Jahren jedoch, kann man sagen, erweitern sich die Städtebilder ungeheuer rasch. Es werden alte Häuser niedergerissen und neue an ihrer Stelle gesetzt. Natürlich, wenn dieses Niederreißen und Aufbauen planlos, ohne jede Überlegung, nur zum Vorteil des einzelnen Individuums getrieben wird, dann entstehen zumeist Unglücke, sogenannte architektonische Verbrechen. Um solche planlose, der Allgemeinheit nicht zum Frommen und Nutzen gereichende Bauten zu verhüten, muß jede Stadt dafür sorgen, daß nicht der Einzelne machen kann, was er will: es muß die Stadt dem schrankenlosen Spekulantentum auf dem Gebiete der Stadterweiterung eine Grenze setzen. Hierher gehört vor allem die Bodenspekulation.“
Eine Handvoll Baumeister und das Bauamt Innsbruck begleiteten diese Entwicklung in Innsbruck. Bezeichnet man Wilhelm Greil als Bürgermeister der Erweiterung, verdient der gebürtige Wiener Eduard Klingler (1861 – 1916) wohl den Titel als deren Architekt. Klingler prägte das Stadtbild Innsbrucks in seiner Funktion als Beamter und Baumeister wesentlich mit. 1883 begann er für das Land Tirol zu arbeiten. 1889 trat er zum städtischen Bauamt über, das er ab 1902 leitete. In Innsbruck gehen unter anderem die Handelsakademie, die Leitgebschule, der Friedhof Pradl, die Dermatologische Klinik im Klinikareal, der Städtische Kindergarten in der Michael-Gaismair-Straße, die Trainkaserne (Anm.: heute ein Wohnhaus), die Markthalle und das Tiroler Landeskonservatorium auf Klinglers Konto als Leiter des Bauamtes. Ein sehenswertes Gebäude im Heimatstil nach seinem Entwurf ist das Ulrichhaus am Berg Isel, das heute den Alt-Kaiserjäger-Club beheimatet.
Das vielleicht bedeutendste Innsbrucker Baubüro war Johann Huter & Söhne. Johann Huter übernahm das kleine Baugewerbe seines Vaters. 1856 erwarb er das erste Firmengelände, die Hutergründe, am Innrain. Drei Jahre später entstand in der Meranerstraße der erste repräsentative Hauptsitz. Die Firmeneintragung gemeinsam mit seinen Söhnen Josef und Peter stellte 1860 den offiziellen Startschuss des bis heute existierenden Unternehmens dar. Huter & Söhne verstand sich wie viele seiner Konkurrenten als kompletter Dienstleister. Eine eigene Ziegelei, eine Zementfabrik, eine Tischlerei und eine Schlosserei gehörten ebenso zum Unternehmen wie das Planungsbüro und die eigentliche Baufirma. 1906/07 errichteten die Huters ihren eigenen Firmensitz in der Kaiser-Josef-Straße 15 im typischen Stil der letzten Vorkriegsjahre. Das herrschaftliche Haus vereint den Tiroler Heimatstil umgeben von Garten und Natur mit neogotischen und neoromanischen Elementen. Bekannte von Huter & Söhne errichtete Gebäude in Innsbruck sind das Kloster der Ewigen Anbetung, die Pfarrkirche St. Nikolaus und mehrere Gebäude am Claudiaplatz.
Der zweite große Player war Josef Retter. Der gebürtige Tiroler wuchs in der Wachau auf. In früher Jugend absolvierte er eine Maurerlehre bevor er die k.k. Staatsgewerbeschule in Wien und die Werkmeisterschule der baugewerblichen Abteilung besuchte. Nach Berufserfahrungen über das Gebiet der Donaumonarchie verteilt in Wien, Kroatien und Bozen konnte er dank der Mitgift seiner Ehefrau im Alter von 29 Jahren seine eigene Baufirma mit Sitz in Innsbruck eröffnen. Wie Huter beinhaltete auch sein Unternehmen ein Sägewerk, ein Sand- und Schotterwerk und eine Werkstatt für Steinmetzarbeiten. 1904 eröffnete er in der Schöpfstraße 23a seine Wohn- und Bürogebäude, das bis heute als Retterhaus bekannt ist. Mit einem Neubau des Akademischen Gymnasiums und dem burgähnlichen Schulgebäude für die Handelsakademie und der Evangelischen Christuskirche im Saggen, der herrschaftlichen Sonnenburg in Wilten und dem neugotischen Schloss Mentlberg am Sieglanger realisierte er einige der bis heute für diese Zeit herausragendsten Gebäude Innsbrucks.
Spätberufen aber mit einem ähnlich praxisorientieren Hintergrund, der typisch für die Baumeister des 19. Jahrhunderts war, startete Anton Fritz 1888 sein Baubüro. Er wuchs abgelegen in Graun im Vinschgau auf. Nach Stationen als Polier, Stuckateur und Maurer beschloss er mit 36 Jahren die Gewerbeschule in Innsbruck zu besuchen. Talent und Glück bescherten ihm mit der Villa im Landhausstil in der Karmelitergasse 12 seinen Durchbruch als Planer. Seine Baufirma beschäftigte zur Blütezeit 150 Personen. 1912, kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs und dem damit einhergehenden Einbruch der Baubranche, übergab er sein Unternehmen an seinen Sohn Adalbert. Das eigene Wohnhaus in der Müllerstraße 4, das Haus Mader in der Glasmalereistraße sowie Häuser am Claudiaplatz und dem Sonnenburgplatz zählen zu den Hinterlassenschaften von Anton Fritz.
Mit Carl Kohnle, Carl Albert, Karl Lubomirski und Simon Tommasi hatte Innsbruck weitere Baumeister, die sich mit typischen Gebäuden des späten 19. Jahrhunderts im Stadtbild verewigten. Sie alle ließen Innsbrucks neue Straßenzüge im architektonisch vorherrschenden Zeitgeist der letzten 30 Jahre der Donaumonarchie erstrahlen. Wohnhäuser, Bahnhöfe, Amtsgebäude und Kirchen im Riesenreich zwischen der Ukraine und Tirol schauten sich flächendeckend ähnlich. Nur zögerlich kamen neue Strömungen wie der Jugendstil auf. In Innsbruck war es der Münchner Architekt Josef Bachmann, der mit der Neugestaltung der Fassade des Winklerhauses einen neuen Akzent in der bürgerlichen Gestaltung setzte. Mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges setzte die Bautätigkeit aus. Nach dem Krieg war die Zeit des neoklassizistischen Historismus und Heimatstils endgültig Geschichte. Spaziergänge im Saggen und in Teilen von Wilten und Pradl versetzen zurück in die Gründerzeit. Der Claudiaplatz und der Sonnenburgplatz zählen zu den eindrücklichsten Beispielen. Die Baufirma Huter und Söhne existiert bis heute. Das Unternehmen ist mittlerweile im Sieglanger in der Josef-Franz-Huter-Straße, benannt nach dem Firmengründer.
Wilhelm Greil: DER Bürgermeister Innsbrucks
Einer der wichtigsten Akteure der Stadtgeschichte war Wilhelm Greil (1850 – 1923). Von 1896 bis 1923 bekleidete der Unternehmer das Amt des Bürgermeisters, nachdem er vorher bereits als Vizebürgermeister die Geschicke der Stadt mitgestaltet hatte. Es war die Zeit des Wachstums, der Eingemeindung ganzer Stadtviertel, technischer Innovationen, neuer Medien und bis dahin unvorstellbarer gesellschaftlicher, sozialer und politischer Umwälzungen.
Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war in der Politik vom Kampf liberaler und konservativer Kräfte geprägt. Die Konservativen hatten es, anders als im restlichen Tirol, schwer in Innsbruck, dessen Bevölkerung seit der Zeit Napoleons liberale Morgenluft geschnuppert hatte. Jede Seite hatte nicht nur Politiker, sondern auch Vereine und eigene Zeitungen. Steuern, Gesellschaftspolitik, Bildungswesen, Wohnbau und die Gestaltung des öffentlichen Raumes wurden mit Leidenschaft und Eifer diskutiert. Bedingt durch eine Wahlordnung, die auf das Stimmrecht über Vermögensklassen aufgebaut war, konnten nur etwa 10% der gesamten Innsbrucker Bevölkerung zur Wahlurne schreiten. Dabei galt das relative Wahlrecht innerhalb der drei Wahlkörper, was so viel heißt wie: The winner takes it all. Massenparteien wie die Sozialdemokraten konnten sich bis zur Wahlrechtsreform der Ersten Republik nicht durchsetzen. Bürgermeister wie Greil konnten auf 100% Rückhalt im Gemeinderat bauen, was die Entscheidungsfindung und Lenkung natürlich erheblich vereinfachte.
Greil gehörte der "Deutschen Volkspartei" an, einer liberalen und national-großdeutschen Partei. Was uns heute als Widerspruch erscheint, liberal und national, war im 19. Jahrhundert ein politisch übliches und gut funktionierendes Gedankenpaar. Der Pangermanismus war keine politische Besonderheit einer rechtsradikalen Minderheit, sondern besonders in deutschsprachigen Städten des Reiches eine Strömung der Mitte, die bis nach dem Zweiten Weltkrieg durch fast alle Parteien hindurch in unterschiedlicher Ausprägung Bedeutung hatte. Wer Ausgaben der liberalen Innsbrucker Nachrichten der Zeit rund um die Jahrhundertwende unter die Lupe nimmt, findet unzählige Artikel, in denen das Gemeinsame zwischen dem Deutschen Reich und den deutschsprachigen Ländern zum Thema des Tages gemacht wurde.
Greil war ein geschickter Politiker, der sich innerhalb der vorgegebenen Machtstrukturen seiner Zeit bewegte. Er wusste sich um die traditionellen Kräfte, die Monarchie und den Klerus geschickt zu manövrieren und sich mit ihnen zu arrangieren. Die Zeit bis zum Ersten Weltkrieg war von einer allgemeinen wirtschaftlichen Boomzeit charakterisiert. Das verschaffte ihm viel Gestaltungsspielraum. Unter ihm wurde von der Stadt ganz im Stil eines Kaufmanns vorausschauend Grund angekauft, um Projekte zu ermöglichen. Unter Wilhelm Greil erweiterte sich Innsbruck im Eiltempo. Der Politiker Greil konnte sich bei den großen Bauprojekten der Zeit auf die Beamten und Stadtplaner Eduard Klingler, Jakob Albert und Theodor Prachensky stützen. Infrastrukturprojekte wie das neue Rathaus in der Maria-Theresienstraße 1897, die Hungerburgbahn 1906 und die Karwendelbahn wurden umgesetzt. Weitere Meilensteine waren die Erneuerung des Marktplatzes und der Bau der Markthalle.
Neben den Großprojekten entstanden in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts aber viele unauffällige Revolutionen. Vieles, was in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorangetrieben wurde, gehört heute zum Alltag. Für die Menschen dieser Zeit waren diese Dinge aber eine echte Sensation und lebensverändernd. Die vier Jahrzehnte zwischen der Wirtschaftskrise 1873 und dem Ersten Weltkrieg von einem nie dagewesenen Wirtschaftswachstum und einer rasenden Modernisierung gekennzeichnet. Die Wirtschaft der Stadt boomte. Betriebe in Pradl und Wilten gründeten sich und lockten Arbeitskräfte an. Auch der Tourismus brachte frisches Kapital in die Stadt. Die Ansammlung an Menschen auf engstem Raum unter teils prekären Hygieneverhältnissen brachte gleichzeitig aber auch Probleme mit sich. Besonders die Randbezirke der Stadt und die umliegenden Dörfer wurden regelmäßig von Typhus heimgesucht.
Bereits Greils Vorgänger Bürgermeister Heinrich Falk (1840 – 1917) hatte erheblich zur Modernisierung der Stadt und zur Besiedelung des Saggen beigetragen. Seit 1859 war die Beleuchtung der Stadt mit Gasrohrleitungen stetig vorangeschritten. Mit dem Wachstum der Stadt und der Modernisierung wurden die Senkgruben, die in Hinterhöfen der Häuser als Abort dienten und nach Entleerung an umliegende Landwirte als Dünger verkauft wurden, zu einer Unzumutbarkeit für immer mehr Menschen. 1880 wurde das Raggeln, so der Name im Volksmund für die Entleerung der Aborte, in den Verantwortungsbereich der Stadt übertragen. Zwei pneumatische Maschinen sollten den Vorgang zumindest etwas hygienischer gestalten. Zwischen 1887 und 1891 wurde Innsbruck mit einer modernen Hochdruckwasserleitung ausgestattet, über die auch Wohnungen in höher gelegenen Stockwerken mit frischem Wasser versorgt werden konnten. Wer auf sich hielt und es sich leisten konnte, hatte damit erstmals die Gelegenheit eine Spültoilette im Eigenheim zu installieren.
Greil setzte diesen Feldzug der Modernisierung fort. Nach jahrzehntelangen Diskussionen wurde 1903 mit dem Bau einer modernen Schwemmkanalisation begonnen. Ausgehend von der Innenstadt wurden immer mehr Stadtteile an diesen heute alltäglichen Luxus angeschlossen. Greil überführte auch das Gaswerk in Pradl und das Elektrizitätswerk in Mühlau in städtischen Besitz. Die Straßenbeleuchtung wurde im 20. Jahrhundert von den Gaslaternen auf elektrisches Licht umgestellt.
Greil konnte sich bei dieser Innsbrucker Renaissance neben der wachsenden Wirtschaftskraft in der Vorkriegszeit auch auf Mäzen aus dem Bürgertum stützen. Waren technische Neuerungen und Infrastruktur Sache der Liberalen, verblieb die Fürsorge der Ärmsten weiterhin bei klerikal gesinnten Kräften, wenn auch nicht mehr bei der Kirche selbst. Freiherr Johann von Sieberer stiftete das Greisenasyl und das Waisenhaus im Saggen. Leonhard Lang stiftete das Gebäude, das vorher als Hotel genutzt wurde, in das das Rathaus von der Altstadt 1897 übersiedelte, gegen das Versprechen der Stadt ein Lehrlingsheim zu bauen.
In seinen letzten Amtsjahren begleitete Greil Innsbruck am Übergang von der Habsburgermonarchie zur Republik durch Jahre, die vor allem durch Hunger, Elend, Mittelknappheit und Unsicherheit geprägt waren. Er war 68 Jahre alt, als italienische Truppen nach dem Ersten Weltkrieg die Stadt besetzten und Tirol am Brenner geteilt wurde, was für ihn als Vertreter des Deutschnationalismus besonders bitter war.
1928 verstarb Altbürgermeister Greil als Ehrenbürger der Stadt Innsbruck im Alter von 78 Jahren. Die Wilhelm-Greil-Straße war noch zu seinen Lebzeiten nach ihm benannt worden.
Innsbrucks Industrielle Revolutionen
Im 15. Jahrhundert begann sich in Innsbruck eine erste frühe Form der Industrialisierung zu entwickeln. Glocken- und Waffengießer wie die Löfflers errichteten in Hötting, Mühlau und Dreiheiligen Betriebe, die zu den führenden Werken ihrer Zeit gehörten. Unternehmer waren zwar nicht von edlem Blut, sie hatten aber oft mehr Kapital zur Verfügung als die Aristokratie. Die alten Hierarchien bestanden zwar noch, begannen aber zumindest etwas brüchig zu werden. Die Industrie änderten nicht nur die Spielregeln im Sozialen durch den Zuzug neuer Arbeitskräfte und ihrer Familien, sie hatte auch Einfluss auf die Erscheinung Innsbrucks. Die Arbeiter waren, anders als die Bauern, keines Herren Untertanen. Sie brachten neue Mode mit und kleideten sich anders. Kapital von außerhalb kam in die Stadt. Wohnhäuser und Kirchen für die neu zugezogenen Untertanen entstanden. Die großen Werkstätten veränderten den Geruch und den Klang der Stadt. Die Hüttenwerke waren laut, der Rauch der Öfen verpestete die Luft.
Die zweite Welle der Industrialisierung erfolgte im Verhältnis zu anderen europäischen Regionen in Innsbruck spät. Das Kleine Handwerk, die bäuerliche Herstellung von allerlei Gebrauchsgegenständen vor allem im weniger arbeitsintensiven Winter, und die ehemaligen in Zünften organisierten Handwerksbetriebe der Stadt gerieten unter den Errungenschaften der modernen Warenherstellung unter Druck. In St. Nikolaus, Wilten, Mühlau und Pradl entstanden entlang des Mühlbaches und des Sillkanals moderne Fabriken. Viele innovative Betriebsgründer kamen von außerhalb Innsbrucks. Im heutigen Haus Innstraße 23 gründete der aus der Lausitz nach Innsbrucker übersiedelte Peter Walde 1777 sein Unternehmen, in dem aus Fett gewonnene Produkte wie Talglichter und Seifen hergestellt wurden. Acht Generationen später besteht Walde als eines der ältesten Familienunternehmen Österreichs noch immer. Im denkmalgeschützten Stammhaus mit gotischem Gewölbe kann man heute das Ergebnis der jahrhundertelangen Tradition in Seifen- und Kerzenform kaufen. 1838 kam die Spinnmaschine über die Dornbirner Firma Herrburger & Rhomberg über den Arlberg nach Pradl. H&R hatte ein Grundstück an den Sillgründen erworben. Der Platz eignete sich dank der Wasserkraft des Flusses ideal für die schweren Maschinen der Textilindustrie. Neben der traditionellen Schafwolle wurde nun auch Baumwolle verarbeitet.
Wie 400 Jahre zuvor veränderte auch die Zweite Industrielle Revolution die Stadt nachhaltig. Stadtteile wie Mühlau, Pradl und Wilten wuchsen rasant. Die Betriebe standen oft mitten in den Wohngebieten. Über 20 Betriebe nutzten den Sillkanal um 1900. Der Lärm und die Abgase der Motoren waren für die Anrainer die Hölle, wie ein Zeitungsartikel aus dem Jahr 1912 zeigt:
„Entrüstung ruft bei den Bewohnern des nächst dem Hauptbahnhofe gelegenen Stadtteiles der seit einiger Zeit in der hibler´schen Feigenkaffeefabrik aufgestellte Explosionsmotor hervor. Der Lärm, welchen diese Maschine fast den ganzen Tag ununterbrochen verbreitet, stört die ganz Umgebung in der empfindlichsten Weise und muß die umliegenden Wohnungen entwerten. In den am Bahnhofplatze liegenden Hotels sind die früher so gesuchten und beliebten Gartenzimmer kaum mehr zu vermieten. Noch schlimmer als der ruhestörende Lärm aber ist der Qualm und Gestank der neuen Maschine…“
Auch so mancher Angehörige des Kleinadels investierte das Geld der Grundentlastung von 1848 in Industrie und Wirtschaft. Der steigende Arbeitskräftebedarf wurde von ehemaligen Knechten und Landwirten ohne Land gedeckt. Während sich die neue vermögende Unternehmerklasse Villen in Wilten, Pradl und dem Saggen bauen ließ und mittlere Angestellte in Wohnhäusern in denselben Vierteln wohnten, waren die Arbeiter in Arbeiterwohnheimen und Massenunterkünften untergebracht. Die einen sorgten in Betrieben wie dem Gaswerk, dem Steinbruch oder in einer der Fabriken für den Wohlstand, während ihn die anderen konsumierten. Schichten von 12 Stunden in engen, lauten und rußigen Bedingungen forderten den Arbeitern alles ab. Zu einem Verbot der Kinderarbeit kam es erst ab den 1840er Jahren. Frauen verdienten nur einen Bruchteil dessen, was Männer bekamen. Die Arbeiter wohnten oft in von ihren Arbeitgebern errichteten Mietskasernen und waren ihnen mangels eines Arbeitsrechtes auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Es gab weder Sozial- noch Arbeitslosenversicherungen. Wer nicht arbeiten konnte, war auf die Wohlfahrtseinrichtungen seines Heimatortes angewiesen. Angemerkt sei, dass sich dieser für uns furchterregende Alltag der Arbeiter nicht von den Arbeitsbedingungen in den Dörfern unterschied, sondern sich daraus entwickelte. Auch in der Landwirtschaft waren Kinderarbeit, Ungleichheit und prekäre Arbeitsverhältnisse die Regel.
Die Industrialisierung betraf aber nicht nur den materiellen Alltag. Innsbruck erfuhr eine Gentrifizierung wie man sie heute in angesagten Großstadtvierteln wie dem Prenzlauer Berg in Berlin beobachten kann. Der Wechsel vom bäuerlichen Leben des Dorfes in die Stadt beinhaltete mehr als einen örtlichen Wechsel. Wie die Menschen die Verstädterung des ehemals ländlichen Bereichs erlebten, lässt uns der Innsbrucker Schriftsteller Josef Leitgeb in einem seiner Texte wissen:
„…viel fremdes, billig gekleidetes Volk, in wachsenden Wohnblocks zusammengedrängt, morgens, mittags und abends die Straßen füllend, wenn es zur Arbeit ging oder von ihr kam, aus Werkstätten, Läden, Fabriken, vom Bahndienst, die Gesichter oft blaß und vorzeitig alternd, in Haltung, Sprache und Kleidung nichts Persönliches mehr, sondern ein Allgemeines, massenhaft Wiederholtes und Wiederholbares: städtischer Arbeitsmensch. Bahnhof und Gaswerk erschienen als Kern dieser neuen, unsäglich fremden Landschaft.“
Für viele Innsbrucker kam es nach dem Revolutionsjahr 1848 und den neuen wirtschaftlichen Gegebenheiten zu einer Verbürgerlichung. Geschichten, von Menschen, die mit Fleiß, Glück, Talent und etwas finanzieller Starthilfe aufstiegen, gab es immer wieder. Bekannte Innsbrucker Beispiele außerhalb der Hotellerie und Gastronomie, die bis heute existieren sind die Tiroler Glasmalerei, der Lebensmittelhandel Hörtnagl oder die Seifenfabrik Walde. Erfolgreiche Unternehmer übernahmen die einstige Rolle der adeligen Grundherren. Gemeinsam mit den zahlreichen Akademikern bildeten sie eine neue Schicht, die auch politisch mehr und mehr Einfluss gewann. Beda Weber schrieb dazu 1851:
„Ihre gesellschaftlichen Kreise sind ohne Zwang, es verräth sich schon deutlich etwas Großstädtisches, das man anderwärts in Tirol nicht so leicht antrifft."
Auch die Arbeiter verbürgerlichten. War der Grundherr am Land noch Herr über das Privatleben seiner Knechte und Mägde und konnte bis zur Sexualität über die Freigabe zur Ehe über deren Lebenswandel bestimmen, waren die Arbeiter nun individuell zumindest etwas freier. Sie wurden zwar nur schlecht bezahlt, immerhin erhielten sie aber nun ihren eigenen Lohn anstelle von Kost und Logis und konnten ihre Privatangelegenheiten für sich regeln ohne grundherrschaftliche Vormundschaft.
Innsbruck ist keine traditionelle Arbeiterstadt. Zur Bildung einer bedeutenden Arbeiterbewegung wie in Wien kam es in Tirol trotzdem nie. Innsbruck war immer schon vorwiegend Handels- und Universitätsstadt. Zwar gab es Sozialdemokraten und eine Handvoll Kommunisten, die Zahl der Arbeiter war aber immer zu klein, um wirklich etwas zu bewegen. Maiaufmärsche werden vom Großteil der Menschen maximal wegen billiger Schnitzel und Freibier besucht. Auch sonst gibt es kaum Erinnerungsorte an die Industrialisierung und die Errungenschaften der Arbeiterschaft. In der St.-Nikolaus-Gasse und in vielen Mietzinshäusern in Wilten und Pradl haben sich vereinzelt Häuser erhalten, die einen Eindruck vom Alltag der Innsbrucker Arbeiterschaft geben.
Maria hilf Innsbruck!
Heiligenverehrung und Volksfrömmigkeit wandelten stets auf einem schmalen Grat zwischen Glauben, Aberglauben und Magie. In den Alpen, wo die Menschen der kaum erklärbaren Umwelt mehr als in anderen Regionen ausgesetzt waren, nahm diese Form des Glaubens bemerkenswerte und oft skurrile Formen an. Heilige wurden bei verschiedenen Aufgaben im Alltag um Hilfe angefleht. Anna sollte Haus und Herdfeuer schützen, zur in Tirol besonders beliebten Heiligen Notburga von Rattenberg betete man für gute Ernte. Als dafür verstärkt Dünger und landwirtschaftliche Maschinen eingesetzt wurden, stieg sie zur Schutzheiligen der Trachtenträgerinnen auf. Bergleute vertrauten ihr Schicksal in ihrem gefährlichen Job unter Tage der Heiligen Barbara und dem Heiligen Bernhard an. Die Kapelle bei den Herrenhäusern im Halltal nahe Innsbruck gibt einen faszinierenden Einblick in die Glaubenswelt zwischen Bettelwurfgeist und Anbetung diverser lokaler Schutzpatrone. Die Heilige, die alle anderen in der Verehrung bis heute überstrahlt, ist Maria. Von der Kräuterweihe zu Maria Himmelfahrt bis zum rechtsdrehenden Wasser in Maria Waldrast am Fuß der Serles und Votivbildern in Kirchen und Kapellen ist sie beliebter Dauergast in der Volksfrömmigkeit. Wer aufmerksam durch Innsbruck spaziert, findet ein spezielles Bild immer wieder auf Fassaden von Gebäuden: Das Gnadenbild Mariahilf von Lucas Cranach (ca. 1472 – 1553).
Cranachs Madonna ist eine der populärsten und am häufigsten kopierten Darstellungen Marias im Alpenraum. Das Bild ist eine Neuinterpretation der klassischen ikonographischen Mutter Gottes. Ähnlich wie die Mona Lisa da Vincis, die zu einer ähnlichen Zeit entstand, lächelt Maria dem Betrachter verschmitzt zu. Cranach verzichtete auf jede Form der Sakralisierung wie Mondsichel oder Heiligenschein und lässt sie in zeitgenössischer Alltagskleidung auftreten. Die rotblonden Haare von Mutter und Kind transferieren sie von Palästina nach Europa. Aus der Heiligen und jungfräulichen Maria wurde eine gewöhnliche Frau mit Kind aus der gehobenen Mittelschicht des 16. Jahrhunderts.
Entstehung, Reise und Verehrung des Gnadenbildes Mariahilf erzählen im Kleinen die Geschichte von Reformation, Gegenreformation und Volksfrömmigkeit in den Deutschen Ländern. Die Odyssee des lediglich 78 x 47 cm großen Bildes begann im heutigen Thüringen am landesfürstlichen Hof, einem der kulturellen Zentren Europas der damaligen Zeit. Kurfürst Friedrich III. von Sachsen (1463 – 1525) war ein frommer Mensch. In seinem Besitz befand sich eine der umfangreichsten Reliquiensammlungen der Zeit hatte. Trotz seiner tiefen Verwurzelung im populären Glauben an Reliquien und seinen ausgeprägten Hang zur Marienverehrung unterstütze er 1518 nicht nur aus religiösen, sondern auch aus machtpolitischen Gründen Martin Luther. Freies Geleit des mächtigen Landesfürsten und die Unterbringung auf der Wartburg ermöglichten Luther die Arbeit an der deutschen Übersetzung der Heiligen Schrift und seiner Vorstellung einer neuen, reformierten Kirche.
Wie zu dieser Zeit üblich, hatte Friedrich auch einen Art Director in seinem Gefolge. Lucas Cranach war seit 1515 als Hofmaler in Wittenberg. Cranach war wie andere Maler seiner Zeit nicht nur äußerst produktiv, sondern auch äußerst geschäftstüchtig. Neben seiner künstlerischen Tätigkeit führte er in Wittenberg eine Apotheke und eine Weinschenke. Dank seines finanziellen Wohlstandes und Ansehens stand er der Gemeinde ab 1528 als Bürgermeister vor. Cranach galt als schneller Maler mit großem Output. Er erkannte Kunst als Medium, um Zeit und Zeitgeist festzuhalten und zu verbreiten. Ähnlich wie Albrecht Dürer schuf er populäre Werke mit großer Reichweite. Seine Porträts der damaligen High Society prägen bis heute unser Bild damaliger Promis wie die seines Arbeitgebers Friedrich, Maximilian I., Martin Luther oder seinem Standeskollegen Dürer.
Auf Schloss Wittenberg lernten sich Cranach und die Kirchenkritiker Philipp Melanchthon und Martin Luther kennen. Spätestens durch diese Bekanntschaft wurde der Künstler zum Anhänger des neuen, reformierten Christentums, das noch keine offizielle Erscheinungsform hatte. Die Unschärfen in den religiösen Überzeugungen und Praktiken dieser Zeit vor der offiziellen Kirchenspaltung spiegeln sich in Cranachs Werken wider. Trotz der Ablehnung Luthers und Melanchthons von Heiligenverehrung, Marienkult und ikonographischer Darstellungen in Kirchen malte Cranach weiterhin für seine Auftraggeber nach deren Geschmack.
Ebenso unscharf wie der Übergang von einer Konfession zur anderen im 16. Jahrhundert ist das Entstehungsdatum des Gnadenbildes Mariahilf. Cranach fertigte es irgendwann zwischen 1510 und 1537 entweder für den Hausalter von Friedrichs Schwägerin, Herzogin Barbara von Sachsen oder für die Heiligkreuzkirche in Dresden an. Kunstexperten sind sich bis heute uneins. Die Freundschaft zwischen Cranach und Martin Luther legt nahe, Cranach hätte es nach seiner Hinwendung zum Luthertum gemalt und diese verweltlichte Darstellung einer Mutter mit Kind sei ein Ausdruck eines neuen religiösen Weltbildes. Es ist aber durchaus möglich, dass der geschäftstüchtige Künstler das Bild nach der Vorstellung des Auftraggebers komplett ohne ideologischen Hintergrund, sondern als Ausdruck der Mode der Zeit bereits vor der Ankunft Luthers in Wittenberg malte.
Nach dem Tod Friedrichs trat Cranach in den Dienst seines Nachfolgers Johann Friedrichs I. von Sachsen. Als sein Arbeitgeber 1547 nach der Schlacht von Mühlberg in Gefangenschaft des Kaisers geriet, folgte ihm Hofmaler Cranach trotz seines hohen Alters bis nach Augsburg und Innsbruck. Nach fünf Jahren im Schlepptau der wohl luxuriös untergebrachten Geisel kehrte Cranach zurück nach Wittenberg, wo er seinem für damalige Verhältnisse biblischen Alter erlag.
Das Gnadenbild Mariahilf wurde, wahrscheinlich um es vor eifernden Bilderstürmen vor der Zerstörung zu retten, während der turbulenten Jahre der Konfessionskriege in die Kunstkammer des sächsischen Landesfürsten überführt. Knapp 65 Jahre später sollte es wie zuvor sein Erschaffer auf verschlungenen Pfaden seinen Weg nach Innsbruck finden. Als der kunstsinnige Passauer Bischof aus dem Hause Habsburg 1611 zu Gast am Hof in Dresden war, erwählte er das Gnadenbild Cranachs als Gastgeschenk und nahm es mit in seine fürstbischöfliche Residenz an der Donau. Dort sah es sein Domdekan und war so angetan, dass er eine Kopie für seinen Hausaltar anfertigen ließ. Rasch entstand rund um das Bild ein Wallfahrtskult.
Als aus dem Passauer Bischof sieben Jahre später Erzherzog Leopold V. von Österreich und Landesfürst Tirols wurde, übersiedelte das populäre Gemälde mit seinem Besitzer an den Hof in Innsbruck. Um die Stadt während des Dreißigjährigen Krieges zu beschützen, wurde das Bild häufig aus der Hofkapelle geholt und für die öffentliche Verehrung ausgestellt. Die verzweifelte Innsbrucker Bevölkerung schrie dem kleinen Gemälde bei diesen Massengebeten ein lautstarkes „Maria Hilf“ entgegen, eine Praxis, die dank der Jesuiten im Volksglauben Einzug gehalten hatte. 1647, im Moment höchster Not schworen die Tiroler Landstände, rund um das Bild eine Kirche zu bauen, sollte der Schutz Marias das Land vor der Verwüstung durch bayerische und schwedische Truppen bewahren. Dass die reformierte Darstellung der Heiligen Maria, gemalt von einem Freund Martin Luthers, zum Schutz der Stadt vor protestantischen Truppen angefleht wurde, entbehrt wohl nicht einer gewissen Ironie.
Die Kirche Mariahilf wurde zwar gebaut, das Bild aber wurde 1650 in der Pfarrkirche St. Jakob innerhalb der sicheren Stadtmauern ausgestellt. Das neu erbaute Gotteshaus erhielt eine von Michael Waldmann angefertigte Kopie. Es sollte nicht die letzte ihrer Art werden. Das Motiv und die Darstellung Cranachs der Mutter Gottes erfreute sich allerhöchster Beliebtheit und findet sich bis heute nicht nur in Kirchen, sondern auf unzähligen Privathäusern wieder. Kunst wurde durch diese Kopien zum Massenphänomen. Vom Privatbesitz des sächsischen Landesfürsten war das Marienbild in den öffentlichen Raum gewandert. Jahrhunderte vor Andy Warhol und Roy Lichtenstein waren Cranach und Dürer zu viel kopierten Künstlern geworden und ihre Bilder zu einem Teil des öffentlichen Raumes und Alltags. Das Original des Gnadenbildes Mariahilf mag im Dom St. Jakob hängen, die Kopie und die drumherum entstandene Pfarre aber gaben einem ganzen Stadtteil seinen Namen.