Innsbruck ist selbsternannte Hauptstadt der Alpen. Man mag über den Titel der Hauptstadt uneins sein, Grenoble, Turin, Trient, Bern – viele andere Städte könnten ihn wohl ebenfalls für sich beanspruchen. Innsbruck nimmt aber dank seiner eingekesselten Lage zwischen den umliegenden Bergen und der direkten Verbindung der Stadt mit ihnen einen besonderen Platz in dieser Wertung ein. Der höchste Punkt im Stadtgebiet ist der Gipfel der Praxmarerkarspitze auf 2642 Meter über Meereshöhe. Die Bergwelt war immer schon lebendiger und wichtiger Teil der Stadt, auch vor den Zeiten des Tourismus. Der Steinbruch war Lieferant der Höttinger Breccie, die bis ins 20. Jahrhundert Basis für Innsbrucker Bauten war. An den Hängen der Nordkette hatte Innsbruck bis ins frühe 16. Jahrhundert eigene Weinberge, allerdings mit geringem Ertrag.
Gemeinsam mit Panoramagebäude und der alten Kettenbrücke bildete die Bahn auf die Hungerburg Anfang des 20. Jahrhunderts das moderne Zentrum der Stadt. Den drei Sehenswürdigkeiten ist nicht nur die Lage im Saggen, sondern auch ein vorzeitiges Ende gemeinsam. Die alte, majestätische Kettenbrücke wurde 1939 gegen eine modernere Stahlbetonbrücke ersetzt, das Panoramagebäude steht seit 2011 leer. 2005 war es um die Hungerburgbahn, die bis heute viele Nostalgiker und Liebhaber historischer Verkehrsmittel und Züge besitzt, geschehen. Trotz mehrerer Appelle aus der Bevölkerung wurde der Betrieb der Bahn eingestellt. Erhalten blieben die Stahlfachwerkbrücke über den Inn und das Stampfbetonviadukt im oberen Bereich der Bahn.
101 Jahr zuvor war sie als Verbindung zwischen Innsbruck und dem neu angelegten, als Nobel- und Tourismusort konzipierten Ortsteil über der Stadt, das Gesprächsthema Nummer 1 in den Innsbrucker Nachrichten:
„Die Hungerburgbahn wurde heute früh um 7 Uhr – nicht gerade vom besten Wetter begünstigt, eröffnet. Die Züge verkehren viertelstündlich bis 10 Uhr abends. Wie es scheint, interessiert sich insbesondere auch die heimische Bevölkerung für die neue Bahn, die die erste Drahtseilbahn in Nordtirol ist. Im Hotel Mariabrunn vereinigte gestern ein interner Abend die Vertreter des Betriebes, der Bauleitung, der „Union“, des städtischen Elektrizitätswerkes und der Presse zu einem fröhlichen Zusammensein. Ingenieur Innerebner gedachte hierbei des derzeit in Karlsbad zur Kur weilenden Schöpfers der Bahn, Herrn Ing. Riehl … Die Betriebsleitung hat Betriebsinspektor Twerdy übernommen. Vor sechseinhalb Jahren hat der Genannte nur die Lokalbahn Innsbruck – Hall übernommen; seit dieser Zeit sind ihm vier Bahnen aller Systeme zugewachsen: die Mittelgebirgsbahn, die Stubaitalbahn, die elektrische Tramway und nunmehr die Drahtseilbahn auf die Hungerburg.“
Erste Standseilbahnen gingen in Europa um 1880 in Betrieb. Mit etwas Verspätung sollte auch Innsbruck sein Exemplar erhalten. Es war Tourismus- und Verkehrspionier Josef Riehl, der das Potenzial in der Verbindung von Stadt und Gebirge sah. Lange war die Bahn die einzige Verbindung zwischen Hungerburg und Innsbruck. Erst 1926 wurde die Höttinger Höhenstraße mit Start bei der Höttinger Kirche gebaut. Die Hungerburg, heute der teuerste Stadtteil Innsbrucks, plante er als stadtnahen Luftkurort. Ein künstlich angelegter See im ehemaligen Steinbruch sollte den Gästen den Aufenthalt versüßen. Alte Fotos des Hotel Seehof zeigen eine idyllische Postkartenwelt. Die Aussichtswarte steht heute noch erhaben über Innsbruck. Das für den Kurtourismus eröffnete Hotel Mariabrunn an den Hängen der Nordkette erweckte den Charme eines noblen Schlösschens oberhalb der Stadt. Ein paar Schritte westlich der Station Hungerburg erinnert das Gasthaus zur Linde mit seiner sehenswerten Fassade samt einer Darstellung der Frau Hitt noch an diese Zeit.
Die erste Seilschwebebahn der Welt war nur 20 Jahre zuvor im schweizerischen Grindelwald in Betrieb gegangen. Die Schwebebahn auf die Nordkette wurde 1928 eröffnet, im gleichen Jahr wie ihr Äquivalent auf der südlichen Seite des Inntales auf den Patscherkofel. Das atemberaubende Projekt in der Tiroler Landeshauptstadt umfasste die Talstation auf der Hungerburg, die Mittelstation auf der Seegrube und die Bergstation am Hafele Kar im hochalpinen Bereich. Die Arbeiten an diesen hochalpinen Projekten wurden zum größten Teil noch mit Trägern gemacht, die das Material auf den Berg schleppen mussten. Nur für besonders exponierte Stellen kamen Flugzeuge zum Einsatz. Trotzdem betrug die Bauzeit nur wenig mehr als ein Jahr.
Entworfen hatte das Wunderwerk der bis dahin unbekannte Franz Baumann, der sich in einer Ausschreibung durchsetzte. Er wandte sich von den vorherrschenden Stilen des 19. Jahrhunderts, dem Klassizismus, dem Heimatstil und dem Historismus ab. Die Gebäude sollten sich an die Landschaft anschmiegen und darin aufgehen, anstatt zu stören. Baumann verstand es, die funktionellen Stationen mit Maschinenhäusern und Ein- und Ausstiegszonen mit den gastronomischen Bereichen harmonisch zu verbinden. Die Mittelstation auf der Seegrube beheimatet ein Restaurant und Hotel. Großen Wert legte er auf die Terrasse, die einen atemberaubenden Blick auf die umliegende Bergwelt bietet.
Besonders spektakulär präsentiert sich die Bergstation am Hafele Kar, die sich wie ein Adlerhorst an die Felsen schmiegt und in Form eines Viertelkreises einem Gasthaus Platz bietet. Baumann designte sowohl die Gebäude wie auch das Interieur. Traditionelle alpine Gastlichkeit mit Kachelöfen traf auf moderne Möbel wie dem berühmt gewordenen Baumann-Stuhl. Clemens Holzmeister, der international bekannteste Architekt der Tiroler Moderne outete sich in einem Fachartikel 1929 als Fan der Nordkettenbahn:
„Die Bahn nimmt ihren Ausgangspunkt am sog. Hungerburgplateau (300 Meter über Innsbruck). Die Station ist duch schlichte Einpassung ins Waldgebiet und eine besonders bemerkenswerte Treppenanlage gekennzeichnet. Die Zwischenstation Seegrube (1905 Meter Seehöhe) läßt wegen nachträglicher Erweiterungsbauten die Geschlossenheit der Anlage … vermissen, erscheint jedoch in Haltung und Detailausbildung prächtig vor das Felskar der Seegrubenspitzen gestellt. Am besten gelungen in der Einpassung in den wilden Zipfelschrofen und aus einem Guß ist die Endstation (2.256 Meter Seehöhe). Auf alles ist Bedacht genommen und die Selbstverständlichkeit wirkt befreiend.“
Seit 1979 betreiben die Innsbrucker Verkehrsbetriebe die Bergbahn. Beim Umbau 2007 wurden so weit als möglich sowohl das Interieur wie auch das Äußere der Mittel- und Bergstation erhalten. Heute kann man am Kongresshaus mitten in der Stadt in die Nordkettenbahn einsteigen und ist innerhalb kürzester Zeit am Hafele Kar auf 2256 m Höhe. Die Stationen der neuen Bahn beim Löwenhaus, beim Alpenzoo und der Hungerburg wurden von der Stararchitktin Zaha Hadid in atemberaubend futuristischem Design entworfen.
In den 1930er Jahren wurde auf der Nordkette Wissenschaftsgeschichte geschrieben. Victor Franz Hess veranlasste 1931 die Einrichtung eines Labors in einer aufgelassenen Baubaracke auf dem Hafele Kar in 2300 m Seehöhe, um dort ein Labor für Ultrastrahlenforschung zum Studium der kosmischen Strahlung zu betreiben. 1936 erhielt er dafür den Nobelpreis für Physik.
Auf der westlichen Seite der Nordkette (Anm.: von der Stadt aus gesehen links) erhebt sich eine markante Bergzacke. Mit etwas Fantasie ähnelt diese Felsformation einer Frau auf einem Pferd. Diese Figur steht Pate für die bekannteste Sage des Innsbrucker Raumes, die es im 19. Jahrhundert in den bekannten Geschichtenkatalog der Gebrüder Grimm schaffte. Es geht darin um die geizige, hartherzige und gierige Riesenkönigin Frau Hitt. Beim Spielen fiel ihr Sohn samt seiner teuren Kleidung in ein Moor und kam von oben bis unten verdreckt nach Hause. Frau Hitt schaffte einem Diener an, den Buben in Milch zu baden und mit Weißbrot zu säubern. Später begegnete der Königin eine Bettlerin, die die reiche Frau hoch zu Ross um Brot anflehte. Anstatt eines Almosens reichte ihr Frau Hitt einen Stein. Daraufhin ließ ein Erdbeben ihren Palast einstürzen eine Mure verschüttete ihre Ländereien und Frau Hitt wurde zur Strafe in die Steinsäule verwandelt, die noch heute gut sichtbar über der Stadt prangt. Mit dieser Sage, deren Moral vor Hochmut und Verschwendung warnen soll, wachsen Innsbrucker Kinder seit Generationen auf.