Waisenhaus & Siebererschule

Siebererstraße 7-9

Wissenswert

Als am 1. Oktober 1889 das Sieberer Waisenhaus eröffnet wurde, überschlugen sich die Innsbrucker Nachrichten in ihrem Lob für den Gönner Johann von Sieberer, dessen Spende das Projekt erst ermöglicht hatte.

"Wohl selten hat eine Stadtgemeinde gerechtere und begründetere Ursache sich zu freuen und festlich zu schmücken, als heute die Stadt Innsbruck, da eine Stiftung derselben übergeben wird, wie eine solche wohl selten eine Stadt sich erfreuen kann. Diese Freude und Festestimmung wird noch erhöht durch die Anwesenheit des erlauchten Bruders unseres geliebten Monarchen, seiner k. und k. Hoheit des Herrn Erzherzogs Karl Ludwig, der hierher gekommen ist um zu beweisen wie hoch der edle Prinz ein Werk reinster Menschenfreundlichkeit zu schätzen weiß und demselben seine Anerkennung zu zollen. Schon wenn der Name des kaiserlichen Prinzen ertönt, schlägt höher das Tiroler Herz...."

Den Beschluss zum Bau des Waisenhauses fasste Sieberer bereits 1885, nachdem das Land Salzburg sein Angebot mit der Begründung ausschlug, dass es dort bereits genügend solcher Institutionen. Es war pures Glück, dass sich Sieberer seiner Tiroler Wurzeln entsann und die Hauptstadt Innsbruck für sein Wirken auserkor. Die Stadt hatte eine Unternehmung in diese Richtung selbst schon erwogen, es fehlten aber die finanziellen Mittel. Sieberer überließ der Stadt einen Teil seines Vermögens in Form einer Kaution auf seine Wiener Immobilien, um damit Grundstück und Bau zu bezahlen.

Die Widmung war an die Bedingung geknüpft, dass das Waisenhaus vom Orden der Barmherzigen Schwestern betrieben werde und maximal 200 katholische Kinder Innsbrucker Eltern zwischen 6 und 15 Jahren aufgenommen werden dürfen. Der Bau entstand zwischen 1886 und 1889 und wurde im Neorenaissancestil aufwändig verwirklicht. Die beiden Statuen über dem Eingang repräsentieren den "Unterricht" und die "Menschenliebe", zwei Dinge, die dem katholischen Humanisten Sieberer sehr wichtig waren. Der Architekt Eugen Sehnal war dazu angehalten, auf Geheiß des Stifters dessen Vorstellungen von Moral und Tugend in der Stadt baulich zu verankern.

Durch die Aufklärung setzte auch ein Umdenken im Umgang mit unehelichen Kindern ein. War es bislang unter Strafe gestanden und teils mit dem Pranger oder Schlimmerem bestraft worden, wenn eine Frau ein uneheliches Kind zur Welt brachte, so war dies kein Strafbestand mehr. Vor allem unverheiratetes Dienstpersonal und Mägde konnten ihre Kinder häufig nicht behalten. Die Kinder wurden, falls es innerhalb der Familie keine Möglichkeit der Unterbringung gab, katholischen Pflegeeltern oder einem Waisenhaus übergeben. Die christliche Moral des Volkes zog noch lange nicht mit dem Gesetz nach. Die betroffenen Frauen blieben, obwohl ein erheblicher Teil der Kinder unehelich war, bis weit ins 20. Jahrhundert ausgegrenzt. Goethes Drama Faust gibt einen guten Einblick in die Sitten der Zeit über das Schicksal Gretchens, die sich wegen einer unehelichen Schwangerschaft das Leben nimmt.

Staatliche Waisenhäuser bereiteten die Buben häufig auf eine Karriere im Militär vor. Das Exerzieren gehörte schon von Kindesbeinen an zum Tagesablauf. Waisenhäuser waren für das Militär eine Quelle, um den im 18. Jahrhundert steigenden Bedarf an menschlichem Material zu befriedigen. Gleichzeitig ermöglichte das Militär den Waisen einen Karriereweg, der den sozial Benachteiligten vorher meist verwehrt geblieben war. Der fromme Sieberer wollte die Kinder aber nicht militärisch, sondern christlich erziehen lassen. Ein Kaplan kümmerte sich um Messen und Religionsunterricht, die Ordensfrauen der Barmherzigen Schwestern um die Verpflegung und sonstige Erziehung.

Der Alltag der Zöglinge des Waisenhauses erfolgte ganz im Sinne Sieberers streng nach katholischen Maßstäben. Der Stifter stand persönlich in stetem Austausch mit dem Personal um den Gesundheitszustand, die Ernährung, Disziplin und Schulerfolg zu überwachen. Der Tagesablauf war streng geregelt, Unordnung wurde weder beim Personal noch bei den Kindern geduldet.

Der Schriftsteller Josef Leitgeb (1897 – 1952), der gemeinsam mit seinem Bruder nach dem Tod seiner Mutter zwischen 1906 und 1910 ein Zögling des Waisenhauses war, beschrieb die Atmosphäre des Hauses in seinem autobiografischen Roman Das unversehrte Jahr so:

…die geometrische Rechtwinkligkeit des Gebäudes fand in der Hausregel ihr Widerspiel, die nun unser Leben wie ein Netz von feinen Drähten überzog. Wir waren aus einem warmen, blühenden Ungefähr in eine kühle graue Regelhaftigkeit geraten.“

Mit dem Ersten Weltkrieg und den Problemen der Folgezeit mit Geldentwertung und Wirtschaftskrise kam das Waisenhaus nach dem Tod des Stifters in finanzielle Bedrängnis. Damit einher ging der Verlust der Qualität der Versorgung und Erziehung. Das Waisenhaus ist heute eine Volksschule mit Kindergarten. Im Untergeschoss ließ sich Freiherr Johann von Sieberer seine Gruft samt einer letzten Ruhestätte aus Marmor errichten.

Johann von Sieberer: Innsbrucks guter Geist

Waren es in Mittelalter und Früher Neuzeit vor allem Kirche und Aristokratie, die für die Entwicklung von Infrastruktur und Bauten im öffentlichen Raum verantwortlich waren, machten sich im 18. und 19. Jahrhundert Mitglieder des wohlhabenden Bürgertums dazu auf, das Stadtbild mit ihren Projekten zu prägen. Das bekannteste Mitglied dieser neuen Klasse erfolgreicher Unternehmer in Innsbruck war Freiherr Johann von Sieberer.

Johann Sieberer kam 1830 in Going bei Kitzbühel als uneheliches Kind zur Welt. Der Bischof von Salzburg verbrachte seine freien Tage gerne in den Tiroler Bergen. Das Schulwesen des Tiroler Unterlandes wurde damals ebenfalls von der Diözese Salzburg administriert. Bei einer Visite der örtlichen Volksschule bemerkte er einen besonders wiffen Burschen.  

1840 wurde Sieberer auf Geheiß des Bischofs im Borromäum zu Salzburg als Singknabe aufgenommen. Der Erzbischof von Salzburg erkannte früh das herausragende Talent und ermöglichte dem Jungen den Besuch des Franziskanergymnasiums in Hall in Tirol.

Nach dem Schulabschluss studierte er in Wien Rechtswissenschaften, bevor er in den Dienst der Familie des Bischofs von Salzburg, den Fürsten von Schwarzenberg eintrat. Diese Familie zählte zu den einflussreichsten der österreichischen Aristokratie. Erzherzog Albrecht, in dessen Dienst Sieberer stand, war der Begründer der Wiener Kunstsammlung Albertina. Sieberer arbeitete in der Administration der Industrieanlagen der Familie und lernte auf Reisen durch die Monarchie viele Mitglieder der Aristokratie und des Geldadels der K&K Monarchie kennen. Als er auf Vermittlung Albrechts ab 1860 für die Versicherungsgesellschaft Österreichischer Phönix arbeitete, konnte er diese Kontakte zu Geld machen. Durch den Verkauf hoher Polizzen an Mitglieder der Habsburgerfamilie und andere Adlige kam er zu einem großen Vermögen. In Meidling bei Wien erwarb er seine Privatvilla und legte sein Geld in Zinshäusern in der Hauptstadt an.

Wofür Johann von Sieberer vor allem bekannt ist, sind seine großzügigen Stiftungen in Innsbruck. Mit den gesellschaftlichen Veränderungen des 19. Jahrhunderts begann im städtischen Bereich die traditionelle Großfamilie ihre Rolle als erste Anlaufstelle in Not zu verlieren. Der Staat hatte zwar die Wohlfahrt von der Kirche seit Maria Theresia mehr und mehr übernommen und an die Kommunen ausgelagert, häufig fehlten aber die Mittel dafür. Diese Lücke schloss der streng gläubige und fromme Katholik Sieberer in Innsbruck als eine Art patriotischer Mäzen im Sinne der christlichen Nächstenliebe.

Von 1885 bis zu seinem Tod 1914 ließ Sieberer der Tiroler Landeshauptstadt seine Wohltätigkeit angedeihen. Das Waisenhaus samt einem Fond zu dessen Betreibung sowie das Franz-Joseph-Jubiläums-Greisenasyl gehen auf die Spenden des Menschenfreunds Sieberer zurück. Auch am Umbau der Jesuitenkirche beteiligte er sich. Leider nur mehr auf Archivbildern zu sehen ist der prachtvolle Vereinigungsbrunnen, der 1906 am damals noch protzigen Bahnhofsplatz im Stile des Historismus errichtet wurde und 1940 dem neuen Verkehrskonzept weichen musste.

Das Waisenhaus und das Kaiser-Franz-Josef-Greisenasyl waren Infrastruktur, die von der Stadt ob der angespannten finanziellen Lage nicht finanziert werden konnte. Auch Aristokratie und Kirche fielen nach den Reformen von 1848 als Sponsor aus. Sieberer fühlte sich dem, was Max Weber als protestantische Arbeitsethik bezeichnete, zugehörig, ahmte aber die konservativen Adelskreise, in denen er sozialisiert worden war, nach. Der einzelne, tugendhafte Bürger sollte dem Kollektiv als Exempel dienen. Seine beiden Bauprojekte waren Statements und Ausdruck eines neuen bürgerlichen Selbstverständnisses. Interessant ist, dass Sieberer sich, anders als Monarchen und Fürsten der Vergangenheit, nicht namentlich auf seinen Projekten inszenieren ließ.

1909 wurde Sieberer von Bürgermeister Wilhelm Greil zum Ehrenbürger Innsbrucks, 1910 vom Kaiser zum Freiherrn ernannt. In Innsbruck erinnert die Siebererstraße im Stadtteil Saggen an diesen großen Innsbrucker. Ein Denkmal zu Ehren Sieberers war noch zu dessen Lebzeiten geplant. Der Erste Weltkrieg und die darauffolgenden politischen und finanziellen Probleme verhinderten die Errichtung. 

Klingler, Huter, Retter & Co: Baumeister der Erweiterung

Die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts gingen als Gründerzeit in die österreichische Geschichte ein. Nach einer Wirtschaftskrise 1873 begann sich die Stadt im Wiederaufschwung auszudehnen. Von 1880 bis 1900 wuchs Innsbrucks Bevölkerung von 20.000 auf 26.000 Einwohner an. Das 1904 eingemeindete Wilten verdreifachte sich von 4000 auf 12.000. Im Zuge technischer Innovationen veränderte sich auch die Infrastruktur. Gas, Wasser, Elektrizität wurden Teil des Alltags von immer mehr Menschen. Das alte Stadtspital wich dem neuen Krankenhaus. Im Saggen entstanden das Waisenhaus und das Greisenasyl Sieberers.

Die Gebäude, die in den jungen Stadtvierteln gebaut wurden, waren ein Spiegel einer neuen Gesellschaft. Unternehmer, Freiberufler, Angestellte und Arbeiter mit politischem Stimmrecht entwickelten andere Bedürfnisse als Untertanen ohne dieses Recht. Anders als im ländlichen Bereich Tirols, wo Bauernfamilien samt Knechten und Mägden in Bauernhäusern im Verbund einer Sippschaft lebten, kam das Leben in der Stadt dem Familienleben, das wir heute kennen, nahe. Der Wohnraum musste dem entsprechen. Der Lifestyle der Städter verlangte nach Mehrzimmerwohnungen und freien Flächen zur Erholung nach der Arbeitszeit. Das wohlhabende Bürgertum bestehend aus Unternehmern und Freiberuflern hatte den Adel zwar noch nicht überholt, den Abstand aber verringert. Sie waren es, die nicht nur private Bauprojekte beauftragten, sondern über ihre Stellung im Gemeinderat auch über öffentliche Bauten entschieden.

Die 40 Jahre vor dem Ersten Weltkrieg waren für Baufirmen, Handwerker, Baumeister und Architekten eine Art Goldgräberzeit. Die Gebäude spiegelten die Weltanschauung ihrer Bauherren wider. Baumeister vereinten dabei mehrere Rollen und ersetzten oft den Architekten. Die meisten Kunden hatten sehr klare Vorstellungen, was sie wollten. Es sollten keine atemberaubenden Neukreationen sein, sondern Kopien und Anlehnungen an bestehende Gebäude. Ganz im Geist der Zeit entwarfen die Innsbrucker Baumeister nach dem Wunsch der finanziell potenten Auftraggeber die Gebäude in den Stilen des Historismus und des Klassizismus sowie des Tiroler Heimatstils. Klare Formen, Statuen und Säulen waren stilprägende Elemente bei der Anlage neuer Gebäude. In einem teils wüsten Stilmix wurden die Vorstellungen, die Menschen vom klassischen Griechenland und dem antiken Rom hatten, verwirklicht. Nicht nur Bahnhöfe und öffentliche Gebäude, auch große Mietshäuser und ganze Straßenzüge, sogar Kirchen und Friedhöfe entstanden entlang der alten Flurwege in diesem Design. Das gehobene Bürgertum zeigte sein Faible für die Antike mit neoklassizistischen Fassaden. Katholische Traditionalisten ließen Heiligenbilder und Darstellungen der Landesgeschichte Tirols in Wandmalereien auf ihren Heimatstilhäusern anfertigen. Während im Saggen und Wilten der Neoklassizismus dominiert, finden sich in Pradl Großteils Gebäude im konservativen Heimatstil.

Die Zeit der großen Villen, die die Adelsansitze vergangener Tage mit bürgerlicher Note nachahmten, kam mangels Platzgründen nach einigen wilden Jahrzehnten an ihr Ende. Eine weitere Bebauung des Stadtgebietes mit Einzelhäusern war nicht mehr möglich, zu eng war der Platz geworden. 1898 beschloss der Gemeinderat, östlich der Claudiastraße nur noch Wohnblöcke anstatt der Villen im großzügigen Cottage Stil zu genehmigen. Der Bereich Falkstraße / Gänsbachstraße / Bienerstraße gilt bis heute als Villensaggen, die Gebiete östlich als Blocksaggen. In Wilten und Pradl kam es zu dieser Art der Bebauung gar nicht erst gar nicht. Trotzdem versiegelten Baumeister im Goldrausch immer mehr Boden. Albert Gruber hielt zu diesem Wachstum 1907 eine mahnende Rede, in der er vor Wildwuchs in der Stadtplanung und Bodenspekulation warnte.

„Es ist die schwierigste und verantwortungsvollste Aufgabe, welche unsere Stadtväter trifft. Bis zu den 80er Jahren (Anm.: 1880), sagen wir im Hinblick auf unsere Verhältnisse, ist noch ein gewisses langsames Tempo in der Stadterweiterung eingehalten worden. Seit den letzten 10 Jahren jedoch, kann man sagen, erweitern sich die Städtebilder ungeheuer rasch. Es werden alte Häuser niedergerissen und neue an ihrer Stelle gesetzt. Natürlich, wenn dieses Niederreißen und Aufbauen planlos, ohne jede Überlegung, nur zum Vorteil des einzelnen Individuums getrieben wird, dann entstehen zumeist Unglücke, sogenannte architektonische Verbrechen. Um solche planlose, der Allgemeinheit nicht zum Frommen und Nutzen gereichende Bauten zu verhüten, muß jede Stadt dafür sorgen, daß nicht der Einzelne machen kann, was er will: es muß die Stadt dem schrankenlosen Spekulantentum auf dem Gebiete der Stadterweiterung eine Grenze setzen. Hierher gehört vor allem die Bodenspekulation.“

Eine Handvoll Baumeister und das Bauamt Innsbruck begleiteten diese Entwicklung in Innsbruck. Bezeichnet man Wilhelm Greil als Bürgermeister der Erweiterung, verdient der gebürtige Wiener Eduard Klingler (1861 – 1916) wohl den Titel als deren Architekt. Klingler prägte das Stadtbild Innsbrucks in seiner Funktion als Beamter und Baumeister wesentlich mit. 1883 begann er für das Land Tirol zu arbeiten. 1889 trat er zum städtischen Bauamt über, das er ab 1902 leitete.  In Innsbruck gehen unter anderem die Handelsakademie, die Leitgebschule, der Friedhof Pradl, die Dermatologische Klinik im Klinikareal, der Städtische Kindergarten in der Michael-Gaismair-Straße, die Trainkaserne (Anm.: heute ein Wohnhaus), die Markthalle und das Tiroler Landeskonservatorium auf Klinglers Konto als Leiter des Bauamtes. Ein sehenswertes Gebäude im Heimatstil nach seinem Entwurf ist das Ulrichhaus am Berg Isel, das heute den Alt-Kaiserjäger-Club beheimatet.

Das vielleicht bedeutendste Innsbrucker Baubüro war Johann Huter & Söhne. Johann Huter übernahm das kleine Baugewerbe seines Vaters. 1856 erwarb er das erste Firmengelände, die Hutergründe, am Innrain. Drei Jahre später entstand in der Meranerstraße der erste repräsentative Hauptsitz. Die Firmeneintragung gemeinsam mit seinen Söhnen Josef und Peter stellte 1860 den offiziellen Startschuss des bis heute existierenden Unternehmens dar. Huter & Söhne verstand sich wie viele seiner Konkurrenten als kompletter Dienstleister. Eine eigene Ziegelei, eine Zementfabrik, eine Tischlerei und eine Schlosserei gehörten ebenso zum Unternehmen wie das Planungsbüro und die eigentliche Baufirma. 1906/07 errichteten die Huters ihren eigenen Firmensitz in der Kaiser-Josef-Straße 15 im typischen Stil der letzten Vorkriegsjahre. Das herrschaftliche Haus vereint den Tiroler Heimatstil umgeben von Garten und Natur mit neogotischen und neoromanischen Elementen. Bekannte von Huter & Söhne errichtete Gebäude in Innsbruck sind das Kloster der Ewigen Anbetung, die Pfarrkirche St. Nikolaus und mehrere Gebäude am Claudiaplatz.

Der zweite große Player war Josef Retter. Der gebürtige Tiroler wuchs in der Wachau auf. In früher Jugend absolvierte er eine Maurerlehre bevor er die k.k. Staatsgewerbeschule in Wien und die Werkmeisterschule der baugewerblichen Abteilung besuchte. Nach Berufserfahrungen über das Gebiet der Donaumonarchie verteilt in Wien, Kroatien und Bozen konnte er dank der Mitgift seiner Ehefrau im Alter von 29 Jahren seine eigene Baufirma mit Sitz in Innsbruck eröffnen. Wie Huter beinhaltete auch sein Unternehmen ein Sägewerk, ein Sand- und Schotterwerk und eine Werkstatt für Steinmetzarbeiten. 1904 eröffnete er in der Schöpfstraße 23a seine Wohn- und Bürogebäude, das bis heute als Retterhaus bekannt ist. Mit einem Neubau des Akademischen Gymnasiums und dem burgähnlichen Schulgebäude für die Handelsakademie und der Evangelischen Christuskirche im Saggen, der herrschaftlichen Sonnenburg in Wilten und dem neugotischen Schloss Mentlberg am Sieglanger realisierte er einige der bis heute für diese Zeit herausragendsten Gebäude Innsbrucks.

Spätberufen aber mit einem ähnlich praxisorientieren Hintergrund, der typisch für die Baumeister des 19. Jahrhunderts war, startete Anton Fritz 1888 sein Baubüro. Er wuchs abgelegen in Graun im Vinschgau auf. Nach Stationen als Polier, Stuckateur und Maurer beschloss er mit 36 Jahren die Gewerbeschule in Innsbruck zu besuchen. Talent und Glück bescherten ihm mit der Villa im Landhausstil in der Karmelitergasse 12 seinen Durchbruch als Planer. Seine Baufirma beschäftigte zur Blütezeit 150 Personen. 1912, kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs und dem damit einhergehenden Einbruch der Baubranche, übergab er sein Unternehmen an seinen Sohn Adalbert. Das eigene Wohnhaus in der Müllerstraße 4 sowie Häuser am Claudiaplatz und dem Sonnenburgplatz zählen zu den Hinterlassenschaften von Anton Fritz.

Mit Carl Kohnle, Carl Albert, Karl Lubomirski und Simon Tommasi hatte Innsbruck weitere Baumeister, die sich mit typischen Gebäuden des späten 19. Jahrhunderts im Stadtbild verewigten. Sie alle ließen Innsbrucks neue Straßenzüge im architektonisch vorherrschenden Zeitgeist der letzten 30 Jahre der Donaumonarchie erstrahlen. Wohnhäuser, Bahnhöfe, Amtsgebäude und Kirchen im Riesenreich zwischen der Ukraine und Tirol schauten sich flächendeckend ähnlich. Nur zögerlich kamen neue Strömungen wie der Jugendstil auf. In Innsbruck war es der Münchner Architekt Josef Bachmann, der mit der Neugestaltung der Fassade des Winklerhauses einen neuen Akzent in der bürgerlichen Gestaltung setzte. Mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges setzte die Bautätigkeit aus. Nach dem Krieg war die Zeit des neoklassizistischen Historismus und Heimatstils endgültig Geschichte. Spaziergänge im Saggen und in Teilen von Wilten und Pradl versetzen zurück in die Gründerzeit. Der Claudiaplatz und der Sonnenburgplatz zählen zu den eindrücklichsten Beispielen. Die Baufirma Huter und Söhne existiert bis heute. Das Unternehmen ist mittlerweile im Sieglanger in der Josef-Franz-Huter-Straße, benannt nach dem Firmengründer.

Wilhelm Greil: DER Bürgermeister Innsbrucks

Einer der wichtigsten Akteure der Stadtgeschichte war Wilhelm Greil (1850 – 1923). Von 1896 bis 1923 bekleidete der Unternehmer das Amt des Bürgermeisters, nachdem er vorher bereits als Vizebürgermeister die Geschicke der Stadt mitgestaltet hatte. Es war die Zeit des Wachstums, der Eingemeindung ganzer Stadtviertel, technischer Innovationen, neuer Medien und bis dahin unvorstellbarer gesellschaftlicher, sozialer und politischer Umwälzungen.

Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war in der Politik vom Kampf liberaler und konservativer Kräfte geprägt. Die Konservativen hatten es, anders als im restlichen Tirol, schwer in Innsbruck, dessen Bevölkerung seit der Zeit Napoleons liberale Morgenluft geschnuppert hatte. Jede Seite hatte nicht nur Politiker, sondern auch Vereine und eigene Zeitungen. Steuern, Gesellschaftspolitik, Bildungswesen, Wohnbau und die Gestaltung des öffentlichen Raumes wurden mit Leidenschaft und Eifer diskutiert. Bedingt durch eine Wahlordnung, die auf das Stimmrecht über Vermögensklassen aufgebaut war, konnten nur etwa 10% der gesamten Innsbrucker Bevölkerung zur Wahlurne schreiten. Dabei galt das relative Wahlrecht innerhalb der drei Wahlkörper, was so viel heißt wie: The winner takes it all. Massenparteien wie die Sozialdemokraten konnten sich bis zur Wahlrechtsreform der Ersten Republik nicht durchsetzen. Bürgermeister wie Greil konnten auf 100% Rückhalt im Gemeinderat bauen, was die Entscheidungsfindung und Lenkung natürlich erheblich vereinfachte.

Greil gehörte der "Deutschen Volkspartei" an, einer liberalen und national-großdeutschen Partei. Was uns heute als Widerspruch erscheint, liberal und national, war im 19. Jahrhundert ein politisch übliches und gut funktionierendes Gedankenpaar. Der Pangermanismus war keine politische Besonderheit einer rechtsradikalen Minderheit, sondern besonders in deutschsprachigen Städten des Reiches eine Strömung der Mitte, die bis nach dem Zweiten Weltkrieg durch fast alle Parteien hindurch in unterschiedlicher Ausprägung Bedeutung hatte. Wer Ausgaben der liberalen Innsbrucker Nachrichten der Zeit rund um die Jahrhundertwende unter die Lupe nimmt, findet unzählige Artikel, in denen das Gemeinsame zwischen dem Deutschen Reich und den deutschsprachigen Ländern zum Thema des Tages gemacht wurde.

Greil war ein geschickter Politiker, der sich innerhalb der vorgegebenen Machtstrukturen seiner Zeit bewegte. Er wusste sich um die traditionellen Kräfte, die Monarchie und den Klerus geschickt zu manövrieren und sich mit ihnen zu arrangieren. Die Zeit bis zum Ersten Weltkrieg war von einer allgemeinen wirtschaftlichen Boomzeit charakterisiert. Das verschaffte ihm viel Gestaltungsspielraum. Unter ihm wurde von der Stadt ganz im Stil eines Kaufmanns vorausschauend Grund angekauft, um Projekte zu ermöglichen. Unter Wilhelm Greil erweiterte sich Innsbruck im Eiltempo. Der Politiker Greil konnte sich bei den großen Bauprojekten der Zeit auf die Beamten und Stadtplaner Eduard Klingler, Jakob Albert und Theodor Prachensky stützen. Infrastrukturprojekte wie das neue Rathaus in der Maria-Theresienstraße 1897, die Hungerburgbahn 1906 und die Karwendelbahn wurden umgesetzt. Weitere Meilensteine waren die Erneuerung des Marktplatzes und der Bau der Markthalle.

Vieles, was in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorangetrieben wurde, gehört heute zum Alltag. Für die Menschen dieser Zeit waren diese Dinge aber eine echte Sensation und lebensverändernd. Die vier Jahrzehnte zwischen der Wirtschaftskrise 1873 und dem Ersten Weltkrieg von einem nie dagewesenen Wirtschaftswachstum und einer rasenden Modernisierung gekennzeichnet. Die Wirtschaft der Stadt boomte. Betriebe in Pradl und Wilten gründeten sich und lockten Arbeitskräfte an. Auch der Tourismus brachte frisches Kapital in die Stadt. Die Ansammlung an Menschen auf engstem Raum unter teils prekären Hygieneverhältnissen brachte gleichzeitig aber auch Probleme mit sich. Besonders die Randbezirke der Stadt wurden immer wieder von Typhus heimgesucht.

Bereits sein Vorgänger Bürgermeister Heinrich Falk (1840 – 1917) hatte erheblich zur Modernisierung der Stadt und zur Besiedelung des Saggen beigetragen. Seit 1859 war die Beleuchtung der Stadt mit Gasrohrleitungen stetig vorangeschritten. Zwischen 1887 und 1891 wurde Innsbruck mit einer modernen Hochdruckwasserleitung ausgestattet, über die auch Wohnungen in höher gelegenen Stockwerken mit frischem Wasser versorgt werden konnten. Wilhelm Greil veranlasste die Übernahme des Gaswerks in Pradl und des Elektrizitätswerks in Mühlau in städtischen Besitz. Die Straßenbeleuchtung wurde auf elektrisches Licht umgestellt.

Greil konnte sich bei dieser Innsbrucker Renaissance auf der Stadt geneigte Mäzen aus dem Bürgertum stützen. Freiherr Johann von Sieberer stiftete das Greisenasyl und das Waisenhaus im Saggen. Leonhard Lang stiftete das Gebäude, das vorher als Hotel genutzt wurde, in das das Rathaus von der Altstadt 1897 übersiedelte, gegen das Versprechen der Stadt ein Lehrlingsheim zu bauen.

Noch vor dem Ersten Weltkrieg kam es zu Veränderungen im politischen Alltag. Die ersten freien Wahlen innerhalb der k.u.k. Monarchie zum Reichsrat für alle männlichen Bürger im Jahr 1907 veränderten die sozialen Spielregeln. In seinen letzten Amtsjahren begleitete Greil Innsbruck am Übergang von der Habsburgermonarchie zur Republik durch Jahre, die vor allem durch Hunger, Elend, Mittelknappheit und Unsicherheit geprägt waren. Er war 68 Jahre alt, als italienische Truppen nach dem Ersten Weltkrieg die Stadt besetzten und Tirol am Brenner geteilt wurde, was für ihn als Vertreter des Deutschnationalismus besonders bitter war.

1928 verstarb Altbürgermeister Greil als Ehrenbürger der Stadt Innsbruck im Alter von 78 Jahren. Die Wilhelm-Greil-Straße war noch zu seinen Lebzeiten nach ihm benannt worden.