Dreiheiligenkirche

Dreiheiligenstraße 10

Dreiheiligenkirche Innsbruck

Das 16. Jahrhundert, oft als Wiege der Neuzeit bezeichnet, war alles andere als eine behagliche und ruhige Zeit. Die Kirchenspaltung bedrohte das Heilige Römische Reich. Fromme Kirchenmänner wie der Jesuit Petrus Canisius (88) stemmten sich der Reformation entgegen. Die fromme Bevölkerung war oft tief gespalten, sogar innerhalb von Familien kam es zu Zwistigkeiten ob der Religionsausübung. 1512 starben in Innsbruck über 500 Menschen an der Pest, 1543 kam der Schwarze Tod erneut nach Innsbruck. 1572 wurde Innsbruck von einem Erdbeben stark in Mitleidenschaft gezogen. Dazu kamen regelmäßig Hochwasserkatastrophen und Versorgungsschwierigkeiten wegen Missernten. Viele Menschen neigten in ihrer Frömmigkeit dazu, schlechte Ereignisse auf ihre eigenen Sünden vor Gott zu schieben. Die Bemühungen der Kirche, ihre verunsicherten Schäflein fromm zu halten, drückte sich nicht nur in einer möglichst gottgefälligen Lebensweise, sondern auch in prunkvollen Bauten und der Ansiedlung neuer Orden wie den Franziskanern oder den Jesuiten aus. Einer dieser frommen Bürger war Hofarzt Paul Weinhart (1570 – 1648). Während der Pestepidemie, die 1611 aus der Silberstadt Schwaz nach Innsbruck kam, leitete er als Contagationsarzt das Pestkollegium, das das Pesthaus in der Kohlstatt betreute. Seine Ehefrau war ein Opfer der Seuche geworden. Die Tiroler Landesregierung samt Anhang war zu dieser Zeit bereits aus der Stadt geflüchtet. Mit Maßnahmen wie Ausräuchern, Erhöhung der Hygiene und dem beliebten Aderlass versuchten die Ärzte, der Seuche Herr zu werden. Weinhart beschloss nicht nur seinen Kenntnissen zu vertrauen, sondern das Wohl der Stadt den Pestheiligen Pirmin, Sebastian und Rochus zu überantworten. Seitdem sind diese drei Heiligen die Schutzpatrone der Stadt. Die Gebeine des Heiligen Pirmin sind seit 1575 als Reliquie im Besitz der Jesuiten. Auf das Drängen des Arztes hin, entschloss sich Maximilian III. „der Deutschmeister zur Planung einer Kirche nahe dem Pestkrankenhaus am Stadtrand. Das ist insofern bemerkenswert, als die Kohlstatt eines der Arbeiterviertel der Stadt waren. Diese Mischung aus Heiligenglauben und Wissenschaft sind für diese Zeit nicht ungewöhnlich. Weinhart sah sich selbst nicht nur als Arzt, sondern auch als eine Art Seelsorger für die Pestkranken. Unter den Armen der Stadt war er als mildtätig bekannt und erfreute sich großer Beliebtheit. Auch unter Kollegen war Weinhart hoch angesehen. So schrieb der Stadtarzt Halls über die Spaziergänge mit Dr. Weinhart:

„Dieser Spaziergang ist mir, wie auch dem edlen, hochgelehrten meinem herzgeliebten Herrn Brudern Paulo Weinhard dermaßen wohl bekannt und befohlen, daß wir bisher wenig halbe Monate ausgelassen…“

Die Bewohner der Kohlstatt lebten unter ärmlichen Bedingungen in Holzbaracken. Es bedurfte eines frommen Landesfürsten wie Maximilian III. und des frommen Arztes, der 1627 zum Leibarzt Maximilians befördert wurde, um sich der christlichen Nächstenliebe auch für die Geringsten seiner Untertanen zu erinnern. Der Großmeister des Deutschen Ordens war ein frommer Landesfürst, der sich regelmäßig für lange Perioden in die Abgeschiedenheit seiner Studierstube im Kloster zurückzog, um dort unter bescheidensten Verhältnissen zu leben. Wie viele Habsburger musste er die christliche Nächstenliebe auf eigenartige Weise mit dem Amt des Landesfürsten unter einen Hut bringen. Die Dreiheiligenkirche wurde 1615 an der Stelle fertiggestellt, an der sich vorher das Pestspital befand. Die Kirchengemeinde ein größeres Gebäude. Das Zeughaus in unmittelbarer Nähe hatte diesen Stadtteil durch die Arbeitskräfte, die in diesem Arsenal benötigt wurden seit den Zeiten Maximilians (83) recht zügig wachsen lassen. Weinhart ließ sich am Deckengemälde neben dem Jesuiten Melchior Köstlan verewigen. 1860 wurde die Dreiheiligenkirche nochmals um ein Vorhallenjoch erweitert. 1900 wurde das von der Tiroler Glasmalerei angefertigte Mosaik an der Fassade angebracht, das neben den drei Pestheiligen auch den Heiligen Alexius, den Schutzheiligen gegen Erdbeben, darstellt.

Der Deutsche Orden & Maximilian III.

Der Deutsche Orden wurde als Ritterorden um 1120 in Jerusalem in einem Hospiz gegründet. Es war die Zeit der Kreuzzüge. Christliche Herrscher waren seit 1096 dazu aufgerufen, die Heilige Stadt Jerusalem aus den Händen der Ungläubigen zu befreien. Auf mehreren abenteuerlichen Expeditionen machten sich Europäer aus allen Ländern unter christlicher Fahne auf Richtung Osten. Kirche und Rittertum vereinten sich in Orden, die Pilgern den Besuch der Heiligen Städten in Jerusalem, vor allem der Grabeskirche, ermöglichen sollten. Der Aufwand für diese heilige Mission war immens. 1229 begannen die Ritter des Deutschen Ordens mit dem Bau der Festung Montfort bei Akko an der Mittelmeerküste Palästinas, dem heutigen Israel. Gleichzeitig schaute man sich aber in weiser Voraussicht ob der drohenden Niederlage in Palästina nach neuen Territorien in Europa um. Nach der Vertreibung aus dem Nahen Osten engagierten sich die Ritter des Deutschen Ordens für die christlichen Ungarn in Siebenbürgen im heutigen Rumänien gegen heidnische Stämme. Im 13. Jahrhundert konnte der Orden unter Hermann von Salza im Baltikum im Kampf gegen die heidnischen Prußen viel Land gewinnen und den Deutschordensstaat errichten. Bei der Bekehrung der Heiden ging man nicht zimperlich vor. Im Prinzip handelte es sich dabei auch um einen Kreuzzug, auch wenn das Ziel nicht die Befreiung Jerusalems war. Der Deutsche Orden trat als eine Art Staatlichkeit auf, die sich ähnlich den religiösen Fundamentalisten heute, auf Gott berief und dessen Ordnung auch auf Erden herstellen wollte. Die Marienburg im heutigen Polen ist ein eindrucksvolles Zeugnis von Macht und Reichtum des Deutschen Ordens. Entitäten wie der Deutsche Orden dienen gut dazu, die Denkweise des Mittelalters zu erklären. Ergebene Frömmigkeit und Gottesfurcht traf in der Zeit bis 1500 häufig auf die Ausübung von weltlicher Macht. Es waren die Ideale wie christliche Nächstenliebe und der Schutz der Armen und Hilflosen, die auch den Deutschen Orden in seinem Kern antrieben. Die Durchsetzung dieser Ideale mit Waffengewalt ohne Rücksicht auf die nichtchristliche Perspektive wirkt aus unserer Sicht paradox, war aber lange Zeit gängige Praxis. Mit der Zeit der Söldnerheere änderten sich die Moral von Ritterlichkeit und damit auch das Verhalten am Schlachtfeld. Nach dem Niedergang des Ordens im 15. Jahrhundert in Nordosteuropa behielt der Orden durch geschickte Verbindung zum Adel und zum Militär vor allem im Habsburgerreich noch Besitzungen und Macht.

Gleich zwei einflussreiche Hochmeister des Deutschen Ordens haben einen starken Bezug zu Innsbruck. Maximilian III. war Landesfürst von Tirol, Erzherzog Eugen, der oberste Befehlshaber der österreichisch-ungarischen Armee an der Italienfront des Ersten Weltkriegs. Beide Mitglieder der Familie Habsburg sind im Dom zu St. Jakob in Innsbruck begraben. Die Geschichte Maximilians III. ist ein gutes Beispiel, um die Verbindung von weltlicher und kirchlicher Macht im Mittelalter und der frühen Neuzeit durch den Deutschen Orden aufzuzeigen. Er war nicht nur Hochmeister des Ordens, sondern auch Erzherzog von Österreich und Administrator von Preußen. Trotz aller Macht lebte er enthaltsam. Oft zog er sich für Wochen in seine Kammer im heutigen Kapuzinerkloster zurück, um trotz seines Status als Landesfürst unter spartanischen Bedingungen zu leben. Die Kapuziner waren 1594 in Innsbruck eingezogen. Maximilian der Deutschmeister folgte 1602, auch wenn er erst 1612 die offizielle Position als Gubernator von Tirol einnahm. Unter ihm zogen in Innsbruck strenge Sitten ein. Erzählungen nach soll Kindern sogar das Spielen auf der Straße verboten worden sein. Der Dreißigjährige Krieg brach unter seiner Regentschaft aus, verschonte Innsbruck aber zu größten Teilen. Im selben Jahr verstarb Maximilian. Sein Grab im Innsbrucker Dom zählt zu den eindrucksvollsten Gräbern der Barockzeit.

Barock: Kunstrichtung und Lebenskunst

Wer in Österreich unterwegs ist, kennt die Kuppen und Zwiebeltürme der Kirchen in Dörfern und Städten. Diese Form der Kirchtürme entstand in der Zeit der Gegenreformation und ist ein typisches Kennzeichen des Barock. Prachtvoll und prunkvoll sollten Gotteshäuser sein, ein Symbol des Sieges des rechten Glaubens. Die Religiosität spiegelte sich in der Kunst wider: Großes Drama, Pathos, Leiden, Glanz und Herrlichkeit vereinten sich zum Barock.  Barock war nicht nur eine Stilrichtung, es war ein Lebensgefühl, das seinen Ausgang zur Mitte des 17. Jahrhunderts nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges, der Mitteleuropa schwer in Mitleidenschaft gezogen hatte, nahm. Die Türkengefahr aus dem Osten, die in der zweimaligen Belagerung Wiens gipfelte, bestimmte die Politik, während die Reformation den christlichen Glauben spaltete. Nach den Entbehrungen dieser turbulenten Jahre und der theologischen Streitigkeiten sollte der öffentliche Raum in einem neuen Stil, abseits der dunklen Gotik neu erstrahlen. Die Bedeutung des Religiösen gegenüber dem Weltlichen sowie die Einflussnahme des Religiösen auf das Weltliche nahmen nach der kritischen Renaissance wieder zu. Die Barockkultur war ein zentrales Element des Katholizismus und der politischen Darstellung derselben in der Öffentlichkeit. Der Alltag der Menschen wurde von Feiertagen mit christlichem Hintergrund aufgehellt. Architektur, Musik und Malerei waren reich, füllig und üppig. Man wollte den katholischen Glauben gegenüber dem protestantischen für die Bevölkerung attraktiver machen. Der Strenge Calvins und Luthers, die den Fehler machten, die Volksfrömmigkeit in Form der Wallfahrten, Marien- und Heiligenverehrung als Aberglauben abzutun, ja sogar verbieten zu lassen, gefiel nicht allen. Die Macht des Kaisers wurde vom Papst legitimiert. Die Ideen Martin Luthers und anderer Reformatoren waren nicht nur katholischen Herrschern ein Dorn im Auge. Der Barockstil wurde in der Zeit der Gegenreformation häufig als eine Art Propagandamittel gegen die Reformation genutzt, um die Einheit von Kaisertum und Katholizismus in all seiner Pracht zu demonstrieren. Man musste nicht lesen können, um die allgegenwärtige Bildsprache zu verstehen. Prunk und Protz statt puritanischer Genügsamkeit und sparsamer Lebensart, die Reformatoren zu eigen war. Kreuzwege mit Kapellen durchzogen die Landschaft. Auch absolutistische Fürsten wählten den Barock als architektonisches und künstlerisches Stilmittel, um ihre Macht in der Mode der Zeit zu demonstrieren. Jesus wurde verstärkt als der Gekreuzigte dargestellt, um sein Leiden für die Welt hervorzuheben und so das Leiden der Masse der bäuerlichen Bevölkerung innerhalb des Feudalsystems zu rechtfertigen. Neben Kirchen sind es die prunkvollen Schlösser und Parkanlagen, die in ganz Europa in dieser Zeit errichtet wurden. Das Bürgertum wollte den Adeligen und Fürsten nicht nachstehen und ließen ihre Privathäuser im Stile des Barocks errichten. Auf Bauernhäusern prangen ebenfalls häufig Heiligenbilder, Darstellungen der Mutter Gottes und des Herzen Jesu als eine Art bäuerlicher Barock.

Das Stadtbild Innsbrucks veränderte sich enorm. Viele Palazzi der Neustadt, der heutigen Maria-Theresienstraße erstrahlten unter den Baumeistern der Familie Gumpp (94), oder Johann Georg Fischers. Einer der bekanntesten Vertreter in der Malerei war Franz Altmutter. Seine Bilder verbinden auf überfrachtete Art und Weise Himmel und Erde. Die Antike als Vorbild wie es in der Renaissance üblich war, hatte ausgedient. Die bekanntesten Gotteshäuser Innsbrucks wie der Dom, die Johanneskirche oder die Jesuitenkirche, sind im Stile des Barocks gehalten. Die gotische Altstadt wurde mit Ausnahme des Helblinghaus in ihrem Stil erhalten. Um- und Neubauten sowie Innenräume wurden aber häufig barock ausgestattet. Das Alte Landhaus in der Altstadt, das Neue Landhaus in der Maria-Theresien-Straße, die unzähligen Palazzi, Bilder, Figuren – der Barock war im 17. und 18. Jahrhundert das stilbildende Element des Hauses Habsburg und brannte sich in den Alltag ein. Besonders in Österreich gab es das Phänomen der Barockfrömmigkeit, die von Kaiser und Fürsten zur Erziehung der Untertanen eingesetzt wurde. Auch wenn der Ablass, das Freikaufen von Sünden, in der Zeit nach dem 16. Jahrhundert keine gängige Praxis mehr in der katholischen Kirche war, so gab es doch noch eine rege Vorstellung von Himmel und Hölle. Durch ein tugendhaftes Leben, sprich ein Leben im Einklang mit katholischen Werten und gutem Verhalten als Untertan gegenüber der göttlichen Ordnung, konnte man dem Paradies einen großen Schritt näherkommen. Die sogenannte christliche Erbauungsliteratur war in der Bevölkerung beliebt und zeigte vor, wie das Leben zu führen war. Der Historiker Ernst Hanisch beschrieb den Barock und den Einfluss, den er auf die österreichische Lebensart hatte, so:

Österreich entstand in seiner modernen Form als Kreuzzugsimperialismus gegen die Türken und im Inneren gegen die Reformatoren. Das brachte Bürokratie und Militär, im Äußeren aber Multiethnien. Staat und Kirche probierten den intimen Lebensbereich der Bürger zu kontrollieren. Jeder musste sich durch den Beichtstuhl reformieren, die Sexualität wurde eingeschränkt, die normengerechte Sexualität wurden erzwungen. Menschen wurden systematisch zum Heucheln angeleitet.

Die Rituale und das untertänige Verhalten gegenüber der Obrigkeit hinterließen auch im Alltag ihre Spuren in Verhalten und sozialer Alltagskultur, die katholische Länder wie Österreich und Italien bis heute von protestantisch geprägten Regionen wie Deutschland oder Skandinavien unterscheiden. Die Leidenschaft für akademische Titel der Österreicher hat ihren Ursprung in den barocken Hierarchien. Diese Hierarchien manifestierten sich in einem feudalen System der Patronage, das heute als Vitamin B Korruption im Kleinen begünstigt. Auch die Sprache, das typisch österreichische „Schaumamal“ zum Beispiel, lässt auf barocke Art und Weise dem Sprecher mehr Handlungsspielraum als eine konkrete Aussage. Während man in Deutschland politische Sachlichkeit schätzt, ist der Stil von Politikern in Österreich eher theatralisch, angelehnt an die katholischen Prozessionen, die in protestantischen Ländern nicht Teil des Alltags waren. Der konservative politische Beamte Bernhard Bonelli, der vor Gericht mit einer Zeichnung des Lieben Gottes, die sein Sohn angefertigt hatte, anmerkte, er wäre für einen guten Ausgangs der Verhandlung wallfahrten gegangen, mag skurril erscheinen, ist aber nichts weiter als eine Ausprägung der barocken Tradition Österreichs. Der Ausdruck Barockfürst bezeichnet noch immer einen besonders patriarchal-gönnerhaften Politiker, der mit großen Gesten sein Publikum zu becircen weiß. Es ist kein Zufall, dass die ersten fixen Theater im deutschsprachigen Raum ebenfalls in der Zeit der Gegenreformation entstanden. Nur langsam konnte sich die Aufklärung ausgehend von England und Frankreich, quasi als eine Art Gegenbewegung zur absoluten Frömmigkeit des Barock, durchsetzen. Der bekannteste aufgeklärte Vertreter der Habsburger war Josef II., der Sohn Maria Theresias. Unter ihm begann auch Österreich sich des säkularen Lebens stärker zu besinnen. Beamte, Militärs, Universitätsprofessoren, Lehrer, Juristen, Mediziner und aufgeklärte Theologen wagten sich aus der Deckung um die Vormachtstellung der Kirche, besonders der Jesuiten im Bildungsbereich in Frage zu stellen. Im konservativen Tirol wurden diese Schritte besonders misstrauisch beäugt. Wie man sieht, prägen Barockbauten, aber auch Gebräuche wie Prozessionen, Feiertage und Festlichkeiten, die in dieser Zeit entstanden, das Leben in Österreich bis heute.

Glaube, Kirche, Obrigkeit und Herrschaft

Die Fülle an Kirchen, christlichen Bauten, Denkmälern und Symbolen im öffentlichen Raum Innsbrucks ist für viele Besucher aus anderen Ländern erstaunlich. Nicht nur Gotteshäuser, auch viele Privathäuser sind mit Darstellungen der Heiligen Familie oder biblischen Szenen geschmückt. Sie manifestieren den Einfluss, den das Christentum auf Politik und soziale Struktur in Europa bis ins 20. Jahrhundert hatte. Religion ist einerseits der Glaube an eine göttliche Macht, andererseits die Etablierung einer gesellschaftlichen Ordnung. Um die Bedeutung der Religion im Alltag der Menschen vergangener Zeiten zu begreifen, bedarf es einiges an Umdenken für uns Menschen des 21. Jahrhunderts. Um Handlungen und Mentalität der Menschen zu verstehen, ist es wichtig, sich ein ungefähres Bild von Religion und Glauben zu machen, waren sie alltagsbestimmend. Vieles, das wir heute als Kulturgut erleben, ist ohne Religion nicht denkbar. Allein die Dimension der Kirchen umgelegt auf die Verhältnisse vergangener Zeiten sind gigantisch. Eine Stadt wie Innsbruck mit etwa 5000 Einwohnern besaß im 16. Jahrhundert mehrere Kirchen, die in Pracht und Größe jedes andere Gebäude überstrahlte, auch die Paläste der Aristokratie. Das Kloster Wilten war ein Riesenkomplex inmitten eines kleinen Bauerndorfes, das sich darum gruppierte. Die räumlichen Ausmaße der Gotteshäuser spiegelt die Bedeutung im politischen und sozialen Gefüge wider. Die Glocken ordneten den Alltag der Untertanen. Ihr Klang rief zur Arbeit, zum Gottesdienst oder informierte als Totengeläut über das Dahinscheiden eines Mitglieds der Gemeinde. Menschen konnten einzelne Glockenklänge und ihre Bedeutung voneinander unterscheiden. Glocken waren mehr als Gegenstände. Das Einschmelzen von Glocken, wie es während den Weltkriegen passierte, hatte eine starke Symbolkraft. Anders als heute, war Religion keineswegs Privatsache. Sie war intersubjektive Realität, ein Teil des sozialen und gesetzlichen Alltags. Reliquien waren heiß begehrt. Schon in kleinsten Partikeln des Körpers eines Heiligen wurden Kräfte vermutet, die Wunder wirken konnten. Zauberei und Hexerei (81) wurden für Unglück, schlechte Ernte, Krankheit und Naturkatastrophen verantwortlich gemacht. Häresie war ein Verbrechen, das von weltlichen Gerichten geahndet wurde. Kaiser und Könige erhielten Macht und Legitimation in den Augen ihrer Untertanen direkt von Gott. Das Feudalsystem, dessen Kopf der König war und durch das die Gesellschaft Struktur und Ordnung erhielt, war gottgewollt. Bauern arbeiteten am Feld, um den für das Seelenheil betenden Klerus und die für die Schutzlosen kämpfenden und den Klerus beschützende Aristokratie zu ernähren. Man sah den Menschen ihren sozialen Stand an, nicht nur an der Kleidung. Der Großteil der Menschen litt unter Mangelernährung, je nach Region, Ernte und Grundherr. Diese Mangelernährung zog Krankheiten, schlechte Haut und Zähne nach sich. Ritter sollten wohlernährt und stark sein. Der Adel war einem komplexen System aus Ehre und christlicher Nächstenliebe verpflichtet, zumindest am Papier. Es war eine Dreierbeziehung in der eine Seite Gebet für das Seelenheil, eine Seite Schutz und die dritte Seite Gehorsam, Treue und Arbeit einbrachten. Der christliche Kirchenvater Paulus legte in seinem Römerbrief die theologische Basis für dieses System:

Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, ist sie von Gott angeordnet. Darum: Wer sich der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt Gottes Anordnung; die ihr aber widerstreben, werden ihr Urteil empfangen. Denn die Gewalt haben, muss man nicht fürchten wegen guter, sondern wegen böser Werke. Willst du dich aber nicht fürchten vor der Obrigkeit, so tue Gutes, dann wirst du Lob von ihr erhalten. Denn sie ist Gottes Dienerin, dir zugut. Tust du aber Böses, so fürchte dich; denn sie trägt das Schwert nicht umsonst. Sie ist Gottes Dienerin und vollzieht die Strafe an dem, der Böses tut. Darum ist es notwendig, sich unterzuordnen, nicht allein um der Strafe, sondern auch um des Gewissens willen. Deshalb zahlt ihr ja auch Steuer; denn sie sind Gottes Diener, auf diesen Dienst beständig bedacht.

Dieses Patronatssystem, das Schutz auf der einen gegen Gehorsam auf der anderen Seite tauschte, war ein Erbe der Antike. In mancherlei Hinsicht ist es vor allem in katholischen Ländern heute noch Teil des Alltags, man denke an das berühmte „Vitamin B“, das uns von der Wiege bis zur Bahre begleitet. Das Verhältnis zwischen Gott, dem gütigen Pater Familias und seinen untertänigen Schäflein, wie die Kirche es sah, war die himmlische Fortführung des irdischen Patronats. Bis in kleine Details des täglichen Lebens regelte die Kirche lange Zeit das alltägliche Sozialgefüge der Menschen. Sonn- und Feiertage strukturierten die Zeit. Fastentage regelten den Speiseplan. Familienleben, Sexualität und individuelles Verhalten hatten sich an den von der Kirche vorgegebenen Moral zu orientieren. Das Seelenheil im nächsten Leben war für viele Menschen wichtiger als das Lebensglück auf Erden, war dies doch ohnehin vom determinierten Zeitgeschehen und göttlichen Willen vorherbestimmt. Priester und Mönche waren lange Zeit die intellektuelle Elite, die im Gegensatz zum Großteil der Bevölkerung Lesen und Schreiben beherrschte. Zeitungen, Fernsehen, Radio gab es nicht. Die Menschen waren auf die Erfahrungen, die sie in ihrem Umkreis, der oft nicht über das Dorfleben hinausging, und das, was der Pfarrer in der Kirche, bei der Beichte und dem Gottesdienst ihnen erzählte, angewiesen, um sich ein Bild der Welt zu machen. Häufig waren Pfarrer am Land auch als Lehrer tätig, was den Einfluss noch verstärkte. Gepredigt wurde auf Latein, der Sprache der Bibel. Fegefeuer, letztes Gericht und Höllenqualen waren mehr als ein Märchen, mit dem man kleine Kinder erzog. Sie waren Realität und verschreckten und disziplinierten auch Erwachsene, die regelrecht besessen vom Dasein nach dem Tod waren. Es gab zwar Denker wie den Dominikaner Thomas von Aquin (1225 – 1274), der mit antiker Philosophie und Logik den Glauben unterfütterte, der überwiegende Teil des Klerus war aber eher in der populären Darstellung von Himmel und Hölle beheimatet. Auch steuerfordernd und rechtsprechend war die Kirche als einer der größten Grundbesitzer stets präsent. Gleichzeitig war es auch in Innsbruck der Klerus, der sich in großen Teilen um das Sozialwesen, Krankenpflege, Armen- und Waisenversorgung, Speisungen und Bildung sorgte. Der Glaube an die göttliche Ordnung, die sich im Feudalsystem auf Erden manifestierte, war in der Vergangenheit das, was für uns heute der Glaube an die freie Marktwirtschaft, Verfassung und Konsum darstellt: eine intersubjektive Realität, die eingehalten werden muss, um Ordnung aufrecht zu erhalten.

Die kirchlichen Anfänge Innsbrucks liegen außerhalb der damaligen Stadt. Im heutigen Stadtteil Wilten etablierte sich während der römischen Herrschaft wahrscheinlich schon vor dem 5. Jahrhundert eine Kirchengemeinschaft. Die bajuwarischen Landesherren, die den Römern im Inntal als Machtfaktor folgten, nahmen die Kirchenmänner nur allzu gerne als Verwaltungsinstitution in Anspruch. Dafür wurde das Kloster Wilten mit allerlei weltlichen Sonderrechten und Landbesitz belohnt. Der Papst in Rom war der Oberhirte der Christenheit. Kulte, die bereits vorhanden waren, wurden mit dem neuen Glauben an den einen Gott gemischt. Die Heiligen des Christentums ersetzten die vielen Götter des Volksglaubens. Alte Feste wie die Wintersonnwende, Erntedankbräuche oder der Frühlingsbeginn wurden in den christlichen Kalender integriert. Sagengestalten wie die Saligen Fräulein wurden auch von gläubigen Christen angebetet und von der offiziellen Kirche toleriert. Es war kein Entweder-Oder, mehr ein tolerantes Sowohl-als-auch. Aberglaube, Volksfrömmigkeit und theologische Lehren verschwommen mit Einfluss der Kirche in der irdischen zu einem recht komplexen System von Märchen, Moral, Gesetz und Glaube. Die Amraser Gnadenmutter, die auf Bauernhäusern in der Philippine-Welser-Straße (57) zu sehen ist, ist ein gutes Beispiel für diese Volksfrömmigkeit. Die Menschen zogen nicht in Erwägung, dass das Übernatürliche einen Einfluss auf Wetter, Ernte oder Gesundheit hatte, für sie war es eine Tatsache. Hexenprozesse wurden nicht vor kirchlichen, sondern vor weltlichen Gerichten abgehandelt. So wurden die große Pestwelle von 1347 und eine Heuschreckenplage kurz zuvor dem Faktum zugeschrieben, dass die Tiroler Landesfürstin Margarethe „Maultasch“ wegen ihrer unchristlichen Ehe vom Papst exkommuniziert worden war.

Während des Mittelalters bis weit hinein ins 19. Jahrhundert war die Kirche neben dem Landesfürsten der größte Besitzer von Grund und Boden in Tirol. Der Bischof von Brixen war formal hierarchisch dem Landesfürsten gleichgestellt, verlor aber im Laufe der Jahrhunderte immer mehr an politischem Einfluss. Die Bauern arbeiteten auf den Landgütern des Bischofs für den Bischof wie sie auf den Landgütern eines weltlichen Fürsten für diesen arbeiteten. Die kirchlichen Grundbesitzer galten dabei nicht als weniger streng, sondern sogar als besonders fordernd gegenüber ihren Untertanen. Die Kirche hatte über den Glauben nicht nur genug Macht und Legitimation, um dieses System aufrecht zu erhalten, sie stand sogar im Wettstreit mit dem Kaiser und den mittelalterlichen Königen, was die Macht anbelangt. Der Römisch Deutsche Kaiser (73) war der militärische Schutzherr des Papsttums, der Papst krönte den Kaiser und legitimierte dessen weltliche Macht über das Gottesgnadentum. Weltliche Fürsten und Ritter zogen in den Krieg, um die Untertanen zu schützen, die dafür auf dem Feld zu arbeiten, den Zehent als Steuer zu bezahlen und zu gehorchen hatten. Die Kirche bestimmte über Moralvorstellungen und hatte das Bildungswesen fest in der Hand. Auf ihren Territorien hatte die Kirche auch die Gerichtsbarkeit über, wenn auch nur die niedrige. Vögte dienten als Verwalter. Zu glauben, alle Kirchenmänner wären zynische Machtmenschen gewesen, die ihre ungebildeten Untertanen ausnützten, ist nicht richtig. Der Großteil sowohl des Klerus wie auch der Adeligen war fromm und gottergeben, wenn auch auf eine aus heutiger Sicht nur schwer verständliche Art und Weise. Außerdem ist auch der frommste Mann nicht vor dem Rausch und dem Missbrauch der Macht gefeit.

Mit den Reformatoren des 15. und 16. Jahrhunderts begann das Feudalsystem, das Kirche und Adel über Volk und Bürgerschaft sah, brüchig zu werden. Der böhmische Geistliche Jan Hus hatte im 15. Jahrhundert als einer der ersten in Festlandeuropa Papst und den hohen Klerus angezweifelt. In Frankreich und der Schweiz war es Jean Calvin, der die Römische Kirche im 16. Jahrhundert herausforderte, im Heiligen Römischen Reich vor allem Martin Luther. In Tirol begann unter dem Sterzinger Michael Gaismair 1525 ein blutiger Aufstand, in dessen Rahmen auch das Stift Wilten als Großgrundbesitzer und Verwaltungsstelle der Macht von aufgebrachten Bauern belagert wurde.

In den folgenden Religionskriegen war Tirol als Teil des Hauses Habsburg stets auf Seiten der Katholiken. Der Dreißigjährige Krieg zog an Tirol und der Stadt Innsbruck größtenteils vorbei, Protestanten hatten es in Tirol aber bis ins 20. Jahrhundert alles andere als leicht. Die Habsburger hatten in Innsbruck mehrere Orden neben den bis dato alles bestimmenden Prämonstratensern des Stiftes Wilten zugelassen, um das Voranschreiten der Protestanten einzudämmen. Besonders dominant traten ab den 1560er Jahren die Jesuiten auf, die zuerst auf das Schulwesen, später auf die Universität erheblichen Einfluss ausübten. Weite Teile Europas wurden ab dem 17. Jahrhundert von der Aufklärung, im 19. Jahrhundert von Säkularisierung, Republikanismus und Nationalismus ergriffen. Natürlich gab es auch in Tirol, vor allem in der Hauptstadt Innsbruck Teile des Bürgertums die diesen neuen Ideen positiv gegenüberstanden. Die breite Masse des Volkes war aber weiterhin der Mischung aus obrigkeitshörigem, konservativem Katholizismus und abergläubischer Volksfrömmigkeit verbunden. Es war eine Art Tauschgeschäft. Die Kirche versprach Seelenheil und das ewige Leben, sorgte fürsorglich für die Ärmsten, verlangte dafür aber Gehorsam von ihren Schäflein. Von der Wiege bis zur Bahre war vieles von der Kirche geregelt. Die Moralvorstellungen basierten auf den konservativen Werten des Feudalsystems, in dem jeder seinen Platz hatte. Vorstellungen von Fegefeuer und Hölle sorgten für artiges Benehmen gegenüber Obrigkeiten kirchlicher und weltlicher Natur. Der Glaube schenkte Trost, das Leben nach dem irdischen Tod war eine Aussicht, die man sich nicht durch missliebiges Benehmen verderben wollte. Demokratische oder gar sozialistisch-umstürzlerische Gedanken wurden nicht nur von weltlichen, sondern auch von kirchlichen Autoritäten verdammt. Kirchenmänner vom Dorfpfarrer bis zum Bischof, die ihr an die Monarchie gebundenes Primat, erhalten wollten, schürten diese Mischung von den Kanzeln weiter an. Tradition vor Innovation. Die Tiroler Schützen vertrauten ihr Schicksal vor einer entscheidenden Schlacht im Kampf gegen Napoleon 1796 (98) dem Herzen Jesu an und schlossen einen Bund mit Gott persönlich, der ihr Heiliges Land Tirol vor dem gottlosen Napoleon behüten sollte. Die Säcularfeier des Bundes Tirols mit dem göttlichen Herzen Jesu wurde noch im 20. Jahrhundert unter großer Anteilnahme der politischen Elite des Landes Tirols gefeiert. Während des Ersten Weltkrieges war es in Tirol Bruder Willram alias Anton Müller, Theologe und Autor, der gegen Italiener und Franzosen hetzte und die Bevölkerung für Gott, Kaiser und Vaterland zu den Waffen und zur Schlachtbank hetzte. Ein Auszug seines literarischen Werkens kann an der Fassade der Hauptkapelle am Tummelplatz begutachtet werden.

Unter sich ändernden Vorzeichen und in wechselnder Intensität blieben die römisch-katholische Kirche und die habsburgischen Landesherren Tirols sowie ihre konservativen Nachfolger nach 1918 eng miteinander verbunden. Die Kirchenmänner entwickelten sich durch die Jahrhunderte, ihre Treue zum Herrscherhaus blieb erhalten. So war Professor Joachim Suppan, der Rektor der Universität Innsbruck nach deren Wiedereröffnung 1826, ein aufgeklärter und wissenschaftlich interessierter Mann, gleichzeitig geweihter Priester. Wie sehr dieser Kleriker und Beamte der staatlichen Obrigkeit verbunden war, zeigt die abschließende Ermahnung der Studenten bei einer Eröffnungsrede, „dereinst dem Vaterlande durch Kenntnis und Tugend ersprießliche Dienste zu leisten“. Die Kirche St. Nikolaus gibt ein gutes Bild der von oben verordneten Volksfrömmigkeit samt Verehrung diverser Heiliger und dem Herzen Jesu. Das Jahr 1848 (100) schlug zwar ein paar Kerben in die Allmacht von Kirche und Obrigkeit, konnte sie aber auch im mehr und mehr sich urbanisierenden Innsbruck nicht brechen. In der Zwischenkriegszeit wurde mit Ignaz Seipel ein ehemaliger Priester Bundeskanzler. In der Periode, die als Austrofaschismus (109) in den 1930ern in die österreichische Geschichte einging, stützten sich die Kanzler Dollfuß und Schuschnigg auf die katholische Kirche, die in der Verfassung ihren Platz fand. Während des Nationalsozialismus (110) wurde die katholische Kirche systematisch bekämpft. Der Rückhalt des Katholizismus in breiten Teilen der Bevölkerung war den neuen Machthabern ein Dorn im Auge. Die Treue sollte nicht der Religion, sondern dem Staat gelten. Katholische Schulen wurden umfunktioniert, Jugendorganisationen verboten, Klöster geschlossen, besonders hartnäckige Pfarrer wie Otto Neururer verfolgt und in Konzentrationslager gebracht. Die Kirche konnte Einfluss und Macht zu einem guten Teil trotzdem auch in dieser Zeit bewahren beziehungsweise nach dem Krieg wieder aufbauen. Die Kirchenaustritte der letzten Jahrzehnte haben der offiziellen Mitgliederzahl zwar eine Delle versetzt, die Bedeutung besteht aber noch immer. Die römisch-katholische Kirche als Entität besitzt noch immer viel Grund in und rund um Innsbruck, auch außerhalb der Mauern der jeweiligen Klöster und Ausbildungsstätten. So ist zum Beispiel das Gelände des Berg Isel im Besitz des Stiftes Wilten. Etliche Schulen in und rund um Innsbruck stehen noch unter dem Einfluss konservativer Kräfte und der Kirche. Und wer immer einen freien Feiertag genießt, ein Osterei ans andere peckt oder eine Kerze am Christbaum anzündet, muss nicht Christ sein, um über die Tradition im Namen Jesu zu handeln.