Rennerschule & Städtischer Kindergarten
Pembaurstraße 18 & 20 / Gabelsbergerstraße
Wissenswert
Mit dem Schlachthofblock und dem Pembaurblock waren im Osten der Stadt zwischen 1922 und 1926 zwei neue Wohnanlagen entstanden. Bauplaner Theodor Prachensky, der bei beiden maßgeblich an der Planung beteiligt war, begann in Folge mit der Planung eines Kindergartens und einer Hauptschule, um Lücke in der Infrastruktur des neuen Wohnquartiers zu schließen. Ganz Sozialdemokrat, sollte der moderne Bürger neben dem puren Wohnen auch in den Genuss solider Bildung kommen. War in Mariahilf wenige Jahre zuvor gegen Ende der Monarchie noch die Kirche maßgeblich an der Errichtung der Schule beteiligt, übernahmen in der Ersten Republik nun Staat und Gemeinde federführend diese Aufgaben. Am 20. Jänner 1926 stand in den Innsbrucker Nachrichten über die Notwendigkeit eines Kindergartens in Pradl zu lesen:
„Im Häuserviereck am Schlachthof wären 150 Kinder, die einen eigenen Kindergarten brauchten, auch in Pradl sollte längst ein Kindergarten eingerichtet werden. Auch muss eine Oberbehörde für die Kindergärten bestimmt werden, der sie unterstehen, die Unterrichtsverhälrnisse müssen weniger den Volksschulen als Tagesheimen angepasst werden. Der Wohlfahrtsausschuss möge nach einer ausführlichen Denkschrift, die der Leiter des Jugendamtes, Dr. Schüler, dem Bürgermeister überreicht hat, sich der Angelegenheit annehmen.“
Der Bau am Kindergarten begann 1928 und konnte im selben Jahr beendet werden. Die Überlegungen rund um die Fürsorge um Babys und Kleinkinder waren revolutionär. Der Pembaurblock gegenüber beherbergte die Mutterberatung. Ein Kindergarten war der nächste Schritt in der republikanischen Vorstellung von Erziehung. In seinem typisch kubischen Stil entwarf Prachensky für die Tagesstätte Innsbrucks jüngster Bürger ein zweistöckiges Gebäude, das symbolisch für einen Neuanfang nicht nur in der Architektur, sondern auch in der Kindererziehung stand. Die großen Fenster sollten Licht und Luft spenden. Die steinernen Pfosten dazwischen zeigen kindlich gestaltete Tiersymbole.
Weniger Glück war der geplanten Schule in ihren ersten Jahrzehnten beschieden. Prachensky entwarf 1928 die Pläne für das neue Gebäude. Erneut setzte er dabei auf moderne Architektur abseits des militärischen Charakters im Bildungswesen vergangener Tage. Wie der Kindergarten sollte auch die Hauptschule modernen Konzepten des Kindeswohles Genüge tun. Ein großer Hof umschloss die viergeschossigen Gebäudeteile in der Pembaurstraße und der Gabelsbergerstraße, die den Unterricht zeitgenössisch korrekt in Buben und Mädchen unterteilte. Turnsäle verbanden die beiden Trakte. Vor der Schule befinden sich bis heute die für die 1930er Jahre typischen Stelen mit Laterne als Zierde des Eingangsbereiches. Das große Schwungrad einer Dampfmaschine an der Fassade zur Pembaurstraße hingegen wurde erst 1997 aufgestellt.
1931 konnte der Rohbau beendet werden, bevor die Wirtschaftskrise alle staatlichen Investitionen abrupt zum Stillstand brachte. Die Schüler des Viertels wurden in die Schulen anderer Stadtteile aufgeteilt. Als die Situation 1936 untragbar wurde, bat der Gemeinderat die Bevölkerung zu spenden und beschloss eine Anleihe für die Fertigstellung der Schule aufzunehmen. Im November des Folgejahres zogen die ersten Buben in die sieben Klassenzimmer des Knabentraktes ein.
Die wechselhaften Titulierungen und Verwendungszwecke der Folgejahre geben nicht nur einen Einblick in die weitere Schulgeschichte, sie spiegeln die generellen politischen Geschehnisse der Zeit wider. Der Plan, die Schule nach dem österreichischen Bundeskanzler in Dr-Schuschnigg-Schule“ zu nennen, wurde von der Machtübernahme der Nationalsozialisten zunichte gemacht. An die Stelle des Tirolers Kurt Schuschnigg als Patron für die Schule trat der 1935 bei einem Flugzeugabsturz verstorbene ehemalige Gauleiter der Bayerischen Ostmark und Kultusminister Hans Schemm. Schemm war bereits seit 1923 der NSDAP beigetreten. Anders als viele seiner Parteikameraden lehnte er Religion nicht ab, sondern war ein Vertreter des sogenannten Positiven Christentums. Im Jahr der Machtübernahme Hitlers veröffentlichte er ein Buch mit dem Titel „Unsere Religion heißt Christus, unsere Politik heißt Deutschland!“. Mit diesem Ansatz passte der „gute Nazi“ zum Heiligen Land Tirol, wo viele Menschen gleichzeitig Nationalsozialisten und Katholiken sein wollten. Im letzten Jahr des Zweiten Weltkrieges diente das Gebäude als Kaserne. Die Schüler wurden, auch um sie vor den alliierten Luftangriffen in Sicherheit zu bringen, nach Berwang versetzt. Nach dem Krieg quartierten sich wie in vielen Amts- und Schulgebäuden amerikanische und französische Besatzungstruppen ein. Im November 1945 konnte der Unterricht wieder aufgenommen werden. Neben den Hauptschülern fanden auch die Pradler Volksschüler, deren Schulgebäude durch die Luftangriffe zerstört wurde, vorübergehend Unterschlupf. Mit dem Ende des Krieges musste auch ein neuer Name gefunden werden. 1953 wurde sie nach dem ersten Kanzler der Zweiten Republik Karl Renner getauft. Als vier Jahre später die Alliierten abgezogen waren und die Schule auf Grund eines neuen Gesetzes wegen ihrer Größe in 2 Institutionen geteilt werden musste, entsorgte man zur Vorsicht auch den sozialdemokratischen Kanzler aus dem Namen. Die Rennerschule wurde pragmatisch zur Hauptschule Pradl I und Hauptschule Pradl II. Als es in den 1980er Jahren schick wurde, Kinder wenn auch nur irgendwie möglich aufs Gymnasium zu schicken, schwanden die Schülerzahlen und die getrennten Schulen wurden wieder vereint. Zum offiziellen Namensgeber wurde 1990 Innsbrucks bekanntester Komponist der Monarchie, Leiter verschiedener Musikvereine und Mitbegründer des Tiroler Landeskonservatoriums Josef Pembaur (1848 – 1923).
Trotz all der Namensänderungen, Zweckentfremdungen und dem schlechten Ruf, den die Schule im Lauf der Zeit hatte, wird im denkmalgeschützten Gebäude noch immer unterrichtet. Um die 200 Schüler besuchen die technisch und handwerklich orientierte Neue Mittelschule, die im Innsbrucker Volksmund bis heute den Namen trägt, der an der Fassade prangt. Der markante Schriftzug Rennerschule im Design der 1950er Jahr kann noch heute bewundert werden.
Theodor Prachensky: Beamter zwischen Kaiser und Republik
Ab der zweiten Hälfte der 1920er Jahre wurden große Wohnbauprojekte umgesetzt, um die größte Not der vielen Innsbrucker, die in Baracken oder bei Verwandten auf engstem Raum wohnten, zu lindern. Ganze Stadtviertel entstanden neu mit Kindergärten und Schulen. Sport- und Freizeitstätten wie das Tivoli oder das Städtische Hallenbad entstanden. Einer der Baumeister, der Innsbruck in dieser Zeit nachhaltig veränderte war Theodor Prachensky (1888 – 1970).
Als Mitarbeiter des Bauamtes Innsbruck zwischen 1913 und 1953 war er für Wohnbau- und Infrastrukturprojekte verantwortlich. Die von ihm umgesetzten Projekte sind nicht so spektakulär wie die Bergstationen seines Schwagers Baumann. Prachenskys Bauten, die die Zeit überdauerten, wirken vielfach nüchtern und rein funktionell. Sieht man sich aber seine Zeichnungen im Archiv für Baukunst der Universität Innsbruck an, erkennt man, dass Prachensky mehr Künstler als Techniker war, wie auch seine Malereien beweisen. Viele seiner spektakulären Entwürfe wie das Sozialdemokratische Volkshaus in der Salurnerstraße, sein Kaiserschützendenkmal oder die Friedens- und Heldenkirche wurden nicht umgesetzt. Innsbruck beherbergt mit den großen Wohnanlagen der 1920er und 30er Jahre, der Krieger-Gedächtniskapelle am Pradler Friedhof und dem alten Arbeitsamt (Anm.: heute eine Außenstelle Universität Innsbruck hinter dem aktuellen AMS-Gebäude in Wilten) viele Gebäude Prachenskys, die die Zeitgeschichte der Zwischenkriegszeit und die wechselhaften politischen und staatlichen Einflüsse, unter denen er selbst als Person stand, dokumentieren.
Seine Biografie liest sich wie ein Abriss der österreichischen Geschichte des frühen 20. Jahrhunderts. Prachensky war als Architekt und Beamter unter fünf unterschiedlichen Staatsmodellen tätig. Der K.u.K. Monarchie folgte die Erste Republik, die vom autoritären Ständestaat abgelöst wurde. 1938 kam es zum Anschluss an Nazideutschland. 1945 wurde mit Kriegsende die Zweite Republik ausgerufen.
1908 schloss Prachensky die baugewerbliche Abteilung der Gewerbeschule Innsbruck, heute die HTL, ab. Von 1909 arbeitete er teilweise gemeinsam mit Franz Baumann, dessen Schwester Maria er 1913 heiraten sollte, beim renommierten Architekturbüro Musch & Lun in Meran, damals ebenfalls noch Teil der K.u.K. Monarchie. Privat war das Jahr 1913 für ihn wegweisend: Theodor und Maria heirateten, starteten das private Bauprojekt des Eigenheims Haus Prachensky am Berg Isel Weg 20 und der frischgebackene Familienvater trat seinen Dienst beim Stadtmagistrat Innsbruck unter Oberbaurat Jakob Albert an. Anstatt sich nach dem Krieg in der schwierigen wirtschaftlichen Lage in der Privatwirtschaft durchschlagen zu müssen, stand Prachensky im öffentlichen Dienst. Die wichtigen, vom sozialdemokratischen Gedanken beeinflussten Projekte konnten erst nach den ersten und schwierigsten, von der Inflation und der Versorgungsknappheit charakterisierten Nachkriegsjahren begonnen werden. Den Anfang machte der Schlachthausblock im Saggen zwischen 1922 und 1925. Es folgten mehrere Infrastrukturprojekte wie der Mandelsbergerblock, der Pembaurblock und der Kindergarten und die Hauptschule in der Pembaurstraße, die vor allem für die sozial Schwächeren und die vom Krieg und der Nachkriegszeit betroffenen Arbeiterschicht gedacht waren. Auch das 1931 entworfene Arbeitsamt war eine wichtige Neuerung im Sozialwesen. Seit der Republikgründung 1918 half das Arbeitsamt bei der Vermittlung von Arbeitssuchenden und Arbeitgebern und der Eindämmung der Arbeitslosigkeit.
In den Jahren der Wirtschaftskrise in den 1930ern nahm seine Bedeutung nochmal zu. Eine weitere Zäsur in Prachenskys Werdegang stellten die nächsten Wechsel der Regierungsform Österreichs dar. Trotz dem Rechtsruck unter Dollfuß samt Verbot der Sozialdemokratischen Partei 1933 und dem Anschluss von 1938 konnte er als leitender Beamter im öffentlichen Dienst bleiben. Prachensky setzte gemeinsam mit Jakob Albert ab 1939 die als Südtiroler Siedlungen bekannt gewordenen Wohnblöcke unter den Nationalsozialisten um. Er selbst war, anders als mehrere Mitglieder seiner Familie, niemals Mitglied oder Unterstützer der NSDAP.
Großen Einfluss auf sein Wirken als Architekt und Stadtplaner gemäß der internationalen sozialdemokratisch orientierten Architektur hatte wohl sein Vater Josef Prachensky, der als einer der Gründer der Sozialdemokratie in Tirol in die Landesgeschichte einging.
Neben der politischen Gesinnung des Vaters hatten auch die verschwundene Habsburgermonarchie und die Eindrücke des Militärdienstes im Ersten Weltkrieg Einfluss auf Prachensky. Obwohl er laut Eigenaussage Kriegsgegner war, meldete er sich 1915 als Einjährig-Freiwilliger bei den Tiroler Kaiserjägern zum Kriegsdienst. Vielleicht waren es die Erwartungen, die während des Krieges an ihn als Beamten herangetragen wurden, vielleicht die allgemeine Begeisterung, die ihn zu diesem Schritt bewogen, die Aussagen und die Tat sind widersprüchlich. Die Kriegergedächtnis-Kapelle am Pradler Friedhof und das gemeinsam mit Clemens Holzmeister entworfene Kaiserschützenkapelle am Tummelplatz sowie seine nicht umgesetzten Entwürfe für ein Kaiserjäger Denkmal und die Friedens- und Heldenkirche Innsbruck, sind wohl Produkte der Lebenserfahrung Prachenskys.
Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb er acht weitere Jahre als Oberbaurat der Stadt Innsbruck tätig. Neben seiner Tätigkeit als Bauplaner und Architekt war Prachensky begeisterter Maler. Er starb mit 82 Jahren in Innsbruck. Seine Söhne, Enkel und Urenkel führten sein kreatives Erbe als Architekten, Designer, Fotografen und Maler in verschiedenen Disziplinen fort. 2017 wurden Teile des generationenübergreifenden Werks der Künstlerfamilie Prachensky in der ehemaligen Bierbrauerei Adambräu mit einer Ausstellung gezeigt.
Eine Republik entsteht
Kaum eine Epoche ist schwerer zu fassen als die Zwischenkriegszeit. Die Roaring Twenties, Jazz und Automobile kommen einem ebenso in den Sinn wie Inflation und Wirtschaftskrise. In Großstädten wie Berlin gebärdeten sich junge Damen als Flappers mit Bubikopf, Zigarette und kurzen Röcken zu den neuen Klängen lasziv, Innsbrucks Bevölkerung gehörte als Teil der jungen Republik Österreich zum größten Teil zur Fraktion Armut, Wirtschaftskrise und politischer Polarisierung.
Die Republik Deutschösterreich war zwar ausgerufen, wie es in Österreich weitergehen sollte, war unklar. Das neue Österreich erschien zu klein und nicht lebensfähig. Monarchie und Adel wurden verboten. Der Beamtenstaat des k.u.k. Reiches setzte sich nahtlos unter neuer Fahne und Namen durch. Die Bundesländer als Nachfolger der alten Kronländer erhielten in der Verfassung im Rahmen des Föderalismus viel Spielraum in Gesetzgebung und Verwaltung. Die Begeisterung für den neuen Staat hielt sich aber in der Bevölkerung in Grenzen. Nicht nur, dass die Versorgungslage nach dem Wegfall des allergrößten Teils des ehemaligen Riesenreiches der Habsburger miserabel war, die Menschen misstrauten dem Grundgedanken der Republik. Die Monarchie war nicht perfekt gewesen, mit dem Gedanken von Demokratie konnten aber nur die allerwenigsten etwas anfangen. Anstatt Untertan des Kaisers war man nun zwar Bürger, allerdings nur Bürger eines Zwergstaates mit überdimensionierter und in den Bundesländern wenig geliebter Hauptstadt anstatt eines großen Reiches. In den ehemaligen Kronländern, die zum großen Teil christlich-sozial regiert wurden, sprach man gerne vom Wiener Wasserkopf, der sich mit den Erträgen der fleißigen Landbevölkerung durchfüttern ließ.
Auch andere Bundesländer spielten mit dem Gedanken, sich von der Republik abzukoppeln, nachdem der von allen Parteien unterstützte Plan sich Deutschland anzuschließen von den Siegermächten des Ersten Weltkriegs untersagt worden war. Die Tiroler Pläne allerdings waren besonders spektakulär. Von einem neutralen Alpenstaat mit anderen Bundesländern, einem Freistaat bestehend aus Tirol und Bayern oder von Kufstein bis Salurn, einem Anschluss an die Schweiz bis hin zu einem katholischen Kirchenstaat unter päpstlicher Führung gab es viele Überlegungen. Besonders populär war die naheliegendste Lösung. In Tirol war es nicht neu, sich als Deutscher zu fühlen. Warum sich also nicht auch politisch an den großen Bruder im Norden anhängen? Besonders unter städtischen Eliten und Studenten war dieser Wunsch sehr ausgeprägt. Der Anschluss an Deutschland erhielt in Tirol bei einer Abstimmung in Tirol einen Zuspruch von 98%, kam aber nie zustande.
Anstatt ein Teil Deutschlands zu werden, unterstand man den ungeliebten Wallschen. Knapp zwei Jahre lang besetzten italienische Truppen nach Kriegsende Innsbruck. Bei den Friedensverhandlungen in Paris war wurde der Brenner zur neuen Grenze erklärt. Das historische Tirol war zweigeteilt. Am Brenner stand Militär, um eine Grenze zu sichern, die es vorher nie gab und als unnatürlich und ungerecht empfunden wurde. 1924 beschloss der Innsbrucker Gemeinderat, Plätze und Straßen rund um den Hauptbahnhof nach Südtiroler Städten zu benennen. Der Bozner Platz sowie die Brixner- und die Salurnerstraße tragen ihre Namen bis heute. Viele Menschen zu beiden Seiten des Brenners fühlten sich verraten. Man hatte den Krieg zwar bei Weitem nicht gewonnen, als Verlierer gegenüber Italien sah man sich aber nicht. Der Hass auf Italiener erreichte in der Zwischenkriegszeit seinen Höhepunkt, auch wenn die Besatzungstruppen sich betont milde gab. Eine Passage aus dem Erzählband „Die Front über den Gipfeln“ des nationalsozialistischen Autors Karl Springenschmid aus den 1930ern spiegelt die allgemeine Stimmung wider:
„`Walsch (Anm.:Italienisch) werden, das wär das Ärgste!` sagt die Junge.
Da nickt der alte Tappeiner bloß und schimpft: `Weiß wohl selber und wir wissen es alle: Walsch werden, das wär das Ärgste.“
Ungemach drohte auch in der Innenpolitik. Die Revolution in Russland und der darauffolgende Bürgerkrieg mit Millionen von Todesopfern, Enteignung und kompletter Systemumkehr warf ihren langen Schatten bis nach Österreich. Die Aussicht auf sowjetische Zustände machte den Menschen Angst. Österreich war tief gespalten. Hauptstadt und Bundesländer, Stadt und Land, Bürger, Arbeiter und Bauern – im Vakuum der ersten Nachkriegsjahre wollte jede Gruppe die Zukunft nach ihren Vorstellungen gestalten. Die Kluft bestand nicht nur auf politischer Ebene. Moral, Familie, Freizeitgestaltung, Erziehung, Glaube, Rechtsverständnis – jeder Lebensbereich war betroffen. Wer sollte regieren? Wie sollten Vermögen, Rechte und Pflichten verteilt werden. Ein kommunistischer Umsturz war besonders in Tirol keine reale Gefahr, ließ sich aber medial gut als Bedrohung instrumentalisieren, um die Sozialdemokratie in Verruf zu bringen. 1919 hatte sich in Innsbruck zwar ein Arbeiter-, Bauer- und Soldatenrat nach sowjetischem Vorbild ausgerufen, sein Einfluss blieb aber gering und wurde von keiner Partei unterstützt. Die ab 1920 offiziell gebildeten Soldatenräte waren christlich-sozial dominiert. Das bäuerliche und bürgerliche Lager rechts der Mitte militarisierte sich in Folge mit der Tiroler Heimatwehr professioneller und in größerer Zahl als linke Gruppen. Die Sozialdemokratie wurde von den Kirchkanzeln herab und in konservativen Medien trotzdem als Judenpartei und heimatlose Vaterlandsverräter bezeichnet. Allzu gerne gab man ihnen die Schuld am verlorenen Krieg und den Folgen gab. Der Tiroler Anzeiger brachte die Volksängste auf den Punkt: “Wehe dem christlichen Volke, wenn bei den Wahlen die Juden=Sozi siegen!“.
Während in den ländlichen Bezirken die Tiroler Volkspartei als Zusammenschluss aus Bauernbund, Volksverein und Katholischer Arbeiterschaft dominierte, konnte die Sozialdemokratie unter der Führung von Martin Rapoldi trotz des starken Gegenwindes in Innsbruck bei den ersten Wahlen 1919 stets zwischen 30 und 50% der Stimmen erringen. Dass es mit dem Bürgermeistersessel für die Genossen nicht klappte, lag an den Mehrheiten im Gemeinderat durch Bündnisse der anderen Parteien. Liberale und Tiroler Volkspartei stand der Sozialdemokratie gegenüber mindestens so ablehnend gegenüber wie der Bundeshauptstadt Wien und den italienischen Besatzern.
Die hohe Politik war aber nur der Rahmen des eigentlichen Elends. Die als Spanische Grippe in die Geschichte eingegangene Epidemie forderte in den Jahren nach dem Krieg auch in Innsbruck ihren Tribut. Genaue Zahlen wurden nicht erfasst, weltweit schätzt man die Zahl der Todesopfer auf 27 – 50 Millionen. Viele Innsbrucker waren von den Schlachtfeldern nicht nach Hause zurückgekehrt und fehlten als Väter, Ehemänner und Arbeitskräfte. Viele von denen, die es zurückgeschafft hatten, waren verwundet und von den Kriegsgräueln gezeichnet. Noch im Februar 1920 veranstaltete der „Tiroler Ausschuss der Sibirier“ im Gasthof Breinößl „…zu Gunsten des Fondes zur Heimbeförderung unserer Kriegsgefangenen…“ einen Benefizabend. Noch lange nach dem Krieg bedurfte das Land Tirol Hilfe von auswärts, um die Bevölkerung zu ernähren. Unter der Überschrift „Erhebliche Ausdehnung der amerikanischen Kinderhilfsaktion in Tirol“ stand am 9. April 1921 in den Innsbrucker Nachrichten zu lesen: „Den Bedürfnissen des Landes Tirol Rechnung tragend, haben die amerikanischen Vertreter für Oesterreich in hochherzigster Weise die tägliche Mahlzeitenanzahl auf 18.000 Portionen erhöht.“
Dazu kam die Arbeitslosigkeit. Vor allem Beamte und Mitarbeiter im öffentlichen Dienst, hatten ihre Arbeit verloren, nachdem der Völkerbund seine Anleihe an herbe Sparmaßnahmen geknüpft hatte. Der Tourismus als Wirtschaftsfaktor war ob der Probleme in den umliegenden, vom Krieg ebenfalls gebeutelten Ländern inexistent. Viele Menschen verloren ihre Bleibe. 1922 waren in Innsbruck 3000 Familien auf Wohnungssuche trotz eines städtischen Notwohnungsprogrammes, das bereits mehrere Jahre in Kraft war. In alle verfügbaren Objekte wurden Wohnungen gebaut. Am 11. Februar 1921 fand sich in einer langen Liste in den Innsbrucker Nachrichten über die einzelnen Projekte, die betrieben wurden unter anderem dieser Posten:
„Das städtische Krankenhaus hat die Seuchenbaracke in Pradl aufgelassen und der Stadtgemeinde zur Herstellung von Notwohnungen zur Verfügung gestellt. Zur Errichtung von 7 Notwohnungen wurde der erforderliche Kredit von 295 K (Anm.: Kronen) bewilligt.“
In den ersten Jahren passierte nur sehr wenig. Erst mit der Währungssanierung und der Einführung des Schillings 1925 als neuer Währung unter Kanzler Ignaz Seipel begann Innsbruck sich zumindest oberflächlich zu erholen und konnte die Modernisierung der Stadt einleiten. Es trat das ein, was Wirtschaftswissenschaftler eine Scheinblüte nennen. Diese Bubble bescherte der Stadt Innsbruck große Projekte wie das Tivoli, das Städtische Hallenbad, die Höhenstraße auf die Hungerburg, die Bergbahnen auf den Berg Isel und die Nordkette, neue Schulen und Wohnblöcke. Die Stadt kaufte den Achensee und errichtete als Hauptaktionär der TIWAG das Kraftwerk in Jenbach. Die Handschrift der neuen, großen Massenparteien in der Gestaltung dieser Projekte ist dabei nicht zu übersehen.
Die erste Republik war eine schwere Geburt aus den Überbleibseln der einstigen Monarchie und sie sollte nicht lange halten. Trotz der Nachkriegsprobleme passierte in der Ersten Republik aber auch viel Positives. Aus Untertanen wurden Bürger. Was in der Zeit Maria Theresias begann, wurde nun unter neuen Vorzeichen weitergeführt. Der Wechsel vom Untertanen zum Bürger zeichnete sich nicht nur durch ein neues Wahlrecht, sondern vor allem durch die verstärkte Obsorge des Staates aus. Staatliche Regelungen, Schulen, Kindergärten, Arbeitsämter, Krankenhäuser und städtische Wohnanlagen traten an die Stelle des Wohlwollens des Grundherren, Landesfürsten, wohlhabender Bürger, der Monarchie und der Kirche.
Bis heute basiert vieles im österreichischen Staatswesen sowie im Innsbrucker Stadtbild und der Infrastruktur auf dem, was nach dem Zusammenbruch der Monarchie entstanden war. In Innsbruck gibt es keine bewussten Erinnerungsorte an die Entstehung der Ersten Republik in Österreich. Die denkmalgeschützten Wohnanlagen wie der Schlachthofblock, der Pembaurblock oder der Mandelsbergerblock oder die Pembaurschule sind Stein gewordene Zeitzeugen.
Die Rapoldis: Kommunalpolitik und Widerstand
Das Ehepaar Martin (1880 – 1926) und Maria Rapoldi (1884 – 1975) zählten vom Ende der Monarchie bis in die Nachkriegszeit zu den beeindruckendsten Persönlichkeiten der Innsbrucker Stadtpolitik. Martin Rapoldi war über Kärnten, Wien und Böhmen nach Innsbruck gekommen. Während seiner Tischlerlehre kam er erstmals mit sozialkritischen Ideen in Berührung. Gemeinsam mit anderen Lehrlingen gründete er in Klagenfurt mit jugendlichem Eifer eine Art anarchistischer Gewerkschaft. In der Hauptstadt der Donaumonarchie und in Zatek in der heutigen Tschechei, engagierte er sich in Gewerkschaft und der kurz zuvor offiziell gegründeten Sozialdemokratischen Partei. 1904 übersiedelte er nach Innsbruck, wo der Mitzwanziger bald als ambitionierter Organisator und mitreißender Redner auffiel. Im Jahr darauf heiratete er seine Frau Maria, die ebenfalls politisch aktiv war. Dank seiner sprachlichen Begabung übernahm er in den folgenden Jahren die Volkszeitung, das Pressorgan der Tiroler Sozialdemokratie. Trotz anfänglicher Euphorie für den Kriegseintritt auch auf Seiten der Sozialdemokratie setzte sich der als antiklerikaler Pfaffenfresser bekannte Rapoldi bald für den Frieden und die Einführung des allgemeinen Wahlrechts auch auf Kommunalebene ein. Ganz auf Parteilinie war er nach 1918 Anhänger eines Zusammenschlusses mit dem Deutschen Reich.
In den frühen Jahren der Ersten Republik legte er eine kurze, aber steile Karriere hin. Er wurde zum Landtagsabgeordneten in Tirol und Mitglied des ersten Nationalrates in Wien erkoren. In Innsbruck schaffte er es die Sozialdemokraten zur stärksten Partei im Gemeinderat zu machen. Auf Grund der antisozialistischen Haltung der anderen Fraktionen im Gemeinderat konnte er aber den Bürgermeisterposten nie besetzen. Ein besonderes Anliegen waren ihm der Wohnungsbau und die städtische Energieversorgung. Während Rapoldis Zeit im Gemeinderat entstanden in Dreiheiligen und Pradl die Großprojekte Schlachthofblock, Pembaurblock sowie der Schule und Kindergarten in der heutigen Pembaurstraße. Er war maßgeblich am Aufbau der Innsbrucker Lichtwerke, den heutigen Innsbrucker Kommunalbetrieben, beteiligt. Mit Kriegsende begannen die Verhandlungen zwischen der Stadt Innsbruck und dem Kloster St. Georgenberg über den Kauf des Achensees für den Bau eines Kraftwerks. Sowohl bei der Errichtung der Achenseebahn, des Achenseekraftwerkes und der Gründung der Tiroler Wasserkraft TIWAG war Martin Rapoldi die treibende Kraft. 1926 verstarb der umtriebige Rote Tischlergeselle mit nur 46 Jahren an den Folgen einer Nierenentzündung.
Nicht weniger eindrucksvoll ist die Vita seiner Frau Maria. Im elterlichen Haushalt in Wörgl kam sie früh mit sozialdemokratischen Ideen in Kontakt. Die gelernte Buchhalterin übersiedelte nach Innsbruck. Wahrscheinlich bei ihrer Arbeit für die Krankenkasse lernte sie ihren zukünftigen Ehemann kennen. Trotz ihrer beiden kleinen Töchter engagierte sich Maria bereits 1912 auf der Landesfrauenkonferenz der Sozialdemokratinnen. Nach dem Tod ihres Mannes blieb sie weiterhin in der Sozialdemokratie aktiv. Als Mitarbeiterin der Volkszeitung kam sie in den Jahren des Austrofaschismus immer wieder ins Visier der Vaterländischen Front. Nachdem die Volkszeitung im Rahmen der Zensur durch das Regime verboten wurde, musste sie sich als erwerbslose Witwe durchschlagen. Sie eröffnete ein Stempelgeschäft in der Altstadt. Gleichzeitig war sie im Untergrund an der Roten Hilfe, der Unterstützung von Familien inhaftierter Mitglieder des Republikanischen Schutzbundes. Während der Zeit des Nationalsozialismus wurde sie für kurze Zeit inhaftiert. Nach dem Krieg trat sie auch in offizieller Funktion aus dem Schatten ihres jung verstorbenen Gatten Martin. Von 1946 – 1959 war sie Mitglied des Innsbrucker Gemeinderats. Sie setzte sich für soziale Agenden wie Altersheime, Kinderheime, die Verbesserung der Lebensmittel- und Krankenversorgung in der Nachkriegszeit ein. Als Mitglied des Tiroler Hilfswerks, des Stadtschulrats des Kuratoriums des Waisenheimes Sieberer und des Verwaltungsausschusses des Innsbrucker Realgymnasiums für Mädchen
Martin und Maria Rapoldi sind in einem sehenswerten Ehrengrab am Westfriedhof beigesetzt. Der 1927 eröffnete Park in Pradl trägt ebenfalls den Namen der beiden erinnerungswürdigen Stadtpolitiker. In Kranebitten errichtete die Sozialdemokratische Partei nach Martins frühem Tod ein Denkmal für ihn, das 1934 von Mitgliedern der Heimatwehr zerstört wurde.
Lebensreform und Sozialdemokratie
„Licht Luft und Sonne“ war das Motto der Lebensreform, einer Sammelbewegung alternativer Lebensmodelle, die im späten 19. Jahrhundert in Deutschland im Gleichschritt mit der Entwicklung der Sozialdemokratie ihren Anfang nahm. Beide Strömungen waren Reaktionen auf die Lebensbedingungen in den rasant wachsenden Städten. Die Urbanisierung wurde zunehmend als Belastung empfunden. Der Verkehr auf den Straßen, die Abgase der Fabriken, die beengten Wohnverhältnisse in den Mietkasernen und die bis dahin unbekannte Hast, die neue Krankheitsbilder wie Neurasthenie salonfähig machte, riefen Gegenbewegungen hervor. Innsbruck war zwar nicht mit Paris oder London vergleichbar was Stadtgröße und Intensität der Industrialisierung betrifft, die Fallhöhe für viele Bewohner der ehemals ländlichen Viertel war aber enorm. Die infrastrukturellen Probleme waren ebenfalls ähnlich.
Seit 1869 erschien die Deutsche Vierteljahrschrift für öffentliche Gesundheigspflege, die sich mit der Verbesserung von Ernährung, Hygiene und Wohnraum auseinandersetzte. 1881 wurde die Österreichische Gesellschaft für Gesundheitspflege gegründet. Private Vereine veranstalteten Aufklärungsveranstaltungen zum sauberen und gesunden Leben. Man betrieb politisches Lobbying zur Errichtung von Parks im öffentlichen Raum und der Verbesserung der Infrastruktur wie Bädern, Krankenhäusern, Kanalisation und Wasserleitungen. Assanation und Sozialhygiene waren Schlagwörter einer bürgerlichen Elite, die um ihre Mitmenschen und die Volksgesundheit besorgt war. Wie alle elitären Bewegungen nahm auch die Lebensreform teils absurde Blüten an, zumindest aus damaliger Sicht. Bewegungen wie der Vegetarismus, FKK, Gartenstädte, verschiedene esoterische Strömungen und andere alternative Lebensformen, die sich bis heute in der einen oder anderen Form erhalten konnten, entstanden in dieser Zeit.
Der exzentrisch anmutende Lebensstil, der wohlhabenden Bürgern in ihren Villen im Saggen, Wilten und Pradl möglich war, blieb Arbeitern meist verwehrt. Viele Mietzinsburgen waren triste und überfüllte Biotope ohne Infrastruktur wie Sportanlagen oder Parks. Es waren die frühen Sozialdemokraten, die sich politisch den Lebensrealitäten der Arbeiter stellten. Moderne Wohnsiedlungen sollte funktional, komfortabel, leistbar und mit Grünflächen verbunden sein. Diese Ansichten hatten sich auch in öffentlichen Stellen durchgesetzt. Albert Gruber, Professor an der Innsbrucker Gewerbeschule, schrieb 1907:
„Ich habe zwar oft den Ausspruch gehört, wir in Innsbruck benötigen keine Anlagen, uns gibt das alles die Natur, Das ist aber nicht wahr. Was gibt es schöneres, als wenn die Berufsmenschen von der Stelle ihrer Tätigkeit in ihr Heim durch eine Reihe von Pflanzenanlagen gehen können. Es wird dadurch der Weg von und in den Beruf zu einem Erholungsspaziergang. Die Gründe, weshalb Baum- und Gartenpflanzungen im Bereiche der städtischen Bebauung vorteilhaft wirken, sind übrigens mannigfaltige. Ich will nicht auf die Wechselbeziehung zwischen Menschen und Pflanze hinweisen, die hinlänglich bekannt sein dürfte. In anderer Weise wirken die Pflanzen zur Verbesserung der Atmungsluft durch Verminderung des Staubes.“
Noch vor dem Ersten Weltkrieg kam es zu Veränderungen im politischen Alltag. Die Sozialdemokratie als politische Bewegung als politische Partei gab es seit 1889 offiziell, gestalterische Möglichkeiten hatte sie unter der Habsburgermonarchie aber nur sehr eingeschränkt. Bedeutsam war die Arbeiterbewegung vor allem als gesellschaftliches Gegengewicht zu den in Tirol alles dominierenden katholischen Strukturen. 1865 entstand in Innsbruck der erste Tiroler Arbeiterbildungsverein. Arbeiter sollten sich ihrer Stellung innerhalb der Gesellschaft bewusst werden vor der anstehenden Weltrevolution. Dafür war es unumgänglich, ein Mindestmaß an Bildung zu besitzen und Lesen und Schreiben zu beherrschen. 10 Jahre später gründete Franz Reisch den Allgemeinen Arbeiter-Verein in Innsbruck. Weitere zwei Jahre später wurde reichsweit die Allgemeine Arbeiter-, Kranken-, und Invaliden-Casse“ an den Start geschickt. Trotz staatlicher Repression kam es immer wieder zu beträchtlichen Versammlungen der Radicalen. Seit 1893 erschien in Innsbruck die sozialdemokratische Volkszeitung als Gegenstimme zu den katholischen Blättern.
1899 wurde in der heutigen Maximilianstraße die Erste Tiroler Arbeiter-Bäckerei, kurz ETAB, eröffnet. Die Genossenschaft machte es sich zum Ziel, unter guten Arbeits- und Hygienebedingungen hochwertiges Brot zu fairen Preisen herzustellen. Nach mehreren Standortwechseln landete die ETAB in der Hallerstraße, wo sie bis 1999 täglich frische Backwaren produzierte.
Die ersten freien Wahlen innerhalb der k.u.k. Monarchie zum Reichsrat für alle männlichen Bürger im Jahr 1907 veränderten nicht nur die politischen, sondern auch die sozialen Kraftverhältnisse. Der Pofel hatte nun politisches Mitspracherecht. Wichtige Gesetze wie Arbeitszeitbeschränkungen und Verbesserung in den Arbeitsbedingungen konnten nun mit mehr Nachdruck verlangt werden. Das Kronland Tirol hatte gemeinsam mit Oberösterreich die längsten Arbeitszeiten in der gesamten Donaumonarchie. Die Gewerkschaftsmitglieder stiegen zahlenmäßig zwar auch an, außerhalb der kleinstädtischen Zentren war Tirol aber zu sehr bäuerlich geprägt, um nennenswerten Druck erzeugen zu können.
Auf Gemeindeebene blieb das Zensuswahlrecht, das großdeutsch-liberalen und konservativ-klerikalen Politikern jahrzehntelang einen Freifahrtschein an die Macht ausgestellt hatte, bis nach dem Krieg bestehen. Die Erfüllung der daraus folgenden Forderungen musste auch nach den ersten Gemeinderatswahlen nach 1918 noch warten. Die Kassen der Nachkriegszeit waren nur dürftig gefüllt. Die großen Innsbrucker Infrastruktur- und Wohnbauprojekte wie das Tivoli, das Städtische Hallenbad, der Pembaur-, der Mandelsberger- oder der Schlachthofblock wurden erst in der Ersten Republik umgesetzt.
Ein bekannter Innsbrucker Vertreter der Lebensreform und der Sozialdemokratie war Josef Prachensky (1861 – 1931), der Vater des Architekten und Stadtplaners Theodor Prachensky. Er war im deutschsprachigen Böhmen, damals Teil der K.u.K. Monarchie aufgewachsen. Als gelernter Buchdrucker hatte er auf seiner Wanderschaft in Wien während des Buchdruckerstreiks die Arbeiterbewegung für sich entdeckt. Nach seiner Hochzeit mit einer Tirolerin ließ er sich in Innsbruck nieder, wo er als Redakteur für die sozialdemokratische Volkszeitung für Tirol und Vorarlberg arbeitete. Josef Prachensky unterstützte den Arbeiter-Consum-Verein, die Tiroler Arbeiterbäckerei und gründete den Gastrobetrieb „Alkoholfrei“ in der Museumstraße, der ganz im Sinne der Lebensreformbewegung und des Sozialismus die Verbesserung der allgemeinen Gesundheit zum Ziel hatte. Bereits Friedrich Engels (1820 – 1895), der Mitverfasser des Kommunistischen Manifestes, hatte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Schnaps und Branntwein als ein Übel der Arbeiterklasse erkannt hatte. Das Ziel, Menschen vom Alkohol wegzubekommen teilte der Sozialismus wie so vieles mit kirchlichen Vereinen. Die Weltrevolution war mit Suchtkranken ebenso wenig durchführbar wie ein tugendhaftes, gottgefälliges Leben. Prachensky war an der Gründung der Sozialdemokratischen Partei Tirols 1890 und nach dem Ersten Weltkrieg an der Gründung des Tiroler Republikanischen Schutzbundes RESCH beteiligt, dem linken Gegenstück zu den rechten Heimwehrverbänden. Ein besonderes politisches Anliegen war ihm die Einschränkung der Kirche auf den Schulunterricht, der im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts auch im eigentlich liberalen Innsbruck, das sich an die nationale Schulordnung halten musste, noch sehr groß war.
Lebensreform und der wachsende Einfluss der Sozialdemokratie beeinflussten auch Kunst und Architektur. Man wollte sich von dem, was Max Weber als protestantische Ethik beschrieb, der Industrie, den Stechuhren, ganz allgemein dem rasenden technischen Fortschritt mit allen Auswirkungen auf den Menschen und das Sozialgefüge, abgrenzen. Der Mensch als Individuum, nicht seine Wirtschaftsleistung, sollte wieder im Mittelpunkt stehen. Die Kultur der alten Gesellschaft, in der Adel und Klerus über dem Rest der Gesellschaft standen, sollte überwunden werden. Der Jugendstil in seiner Verspieltheit war die künstlerische Antwort eines exzentrischen und alternativen Teils des Bürgertums auf dieses Zurück zum Ursprung der Jahrhundertwende. Im Wohnbau der Ersten Republik gewann der Architekturstil der Neuen Sachlichkeit die Oberhand.
Die Bocksiedlung und der Austrofaschismus
Politische Polarisierung prägte neben Hunger das Leben der Menschen in den 1920er und 1930er Jahren. Der Zusammenbruch der Monarchie hatte zwar eine Republik hervorgebracht, die beiden großen Volksparteien, die Sozialdemokraten und die Christlichsozialen, standen sich aber feindselig wie zwei Skorpione gegenüber. Beide Parteien bauten paramilitärische Blöcke auf, um die politische Agenda notfalls auf der Straße mit Gewalt zu untermauern. Der Republikanische Schutzbund auf Seiten der Sozialdemokraten und verschiedene christlich-sozial oder gar monarchistisch orientierte Heimwehren, der Einfachheit halber sollen die unterschiedlichen Gruppen unter diesem Sammelbegriff zusammengefasst werden, belauerten sich wie Bürgerkriegsparteien. Viele Politiker und Funktionäre beider Seiten hatten im Krieg an der Front gekämpft und waren dementsprechend militarisiert. Die Tiroler Heimatwehr konnte im ländlichen Tirol dank der Unterstützung der katholischen Kirche auf bessere Infrastruktur und politisches Netzwerk zurückgreifen. Am 12. November 1928, dem zehnten Jahrestag der Gründung der Republik, marschierten am Ersten gesamtösterreichischen Heimwehraufmarsch 18.000 Heimatwehrmänner durch die Stadt, um ihre Überlegenheit am höchsten Feiertag der heimischen Sozialdemokratien zu untermauern. Als Mannschaftsquartier der steirischen Truppen diente unter anderem das Stift Wilten.
Ab 1930 zeigte auch die NSDAP immer mehr Präsenz im öffentlichen Raum. Besonders unter Studenten und jungen, desillusionierten Arbeitern konnte sie Anhänger gewinnen. 1932 zählte die Partei bereits 2500 Mitglieder in Innsbruck. Immer wieder kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen den verfeindeten politischen Gruppen. Berüchtigt wurde die sogenannte Höttinger Saalschlacht vom 27. Mai 1932. Hötting war damals noch kein Teil Innsbrucks. In der Gemeinde lebten vor allem Arbeiter. In dieser roten Bastion Tirols planten Nationalsozialisten eine Kundgebung im Gasthof Goldener Bär, einem Treffpunkt der Sozialdemokraten. Diese Provokation endete in einem Kampf, der mit über 30 Verletzten und einem Todesopfer auf Seiten der Nationalsozialisten durch eine Stichwunde endete. Die Ausschreitungen breiteten sich auf die ganze Stadt aus, sogar in der Klinik gerieten die Verletzten noch aneinander. Nur unter Einsatz der Gendarmerie und des Heeres konnten die Kontrahenten voneinander getrennt werden.
Nach jahrelangen bürgerkriegsähnlichen Zuständen setzten sich 1933 die Christlichsozialen unter Kanzler Engelbert Dollfuß (1892 – 1934) durch und schalteten das Parlament aus. In Innsbruck kam es dabei zu keinen nennenswerten Kampfhandlungen. Am 15. März wurde das Parteihaus der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Tirol im Hotel Sonne geräumt, der -Anführer des Republikanischen Schutzbundes Gustav Kuprian wegen Hochverrat festgenommen und die einzelnen Gruppen entwaffnet. Das Ziel Dollfuß´ war die Errichtung des sogenannten Österreichischen Ständestaats, einem Einparteienstaat ohne Opposition unter Beschneidung elementarer Rechte wie Presse- oder Versammlungsfreiheit. In Tirol wurde 1933 die Tiroler Wochenzeitung neu gegründet um als Parteiorgan zu fungieren. Der gesamte Staatsapparat sollten analog zum Faschismus Mussolinis in Italien unter der Vaterländischen Front geeint werden: Antisozialistisch, autoritär, konservativ im Gesellschaftsbild, antidemokratisch, antisemitisch und militarisiert.
Dollfuß war in Tirol überaus populär, wie Aufnahmen des vollen Platzes vor der Hofburg während einer seiner Ansprachen aus dem Jahr 1933 zeigen. Seine Politik war das, was der Habsburgermonarchie am nächsten kam. Sein politischer Kurs wurde von der katholischen Kirche unterstützt. Das gab ihm Zugriff auf Infrastruktur, Presseorgane und Vorfeldorganisationen. Gegen die verhassten Sozialisten ging die Vaterländische Front mit ihren paramilitärischen Einheiten hart vor. Man schreckte nicht vor Unterdrückung und Gewalttaten gegen Leib und Leben sowie Einrichtungen der politischen Gegnerschaft zurück. Sozialisten, Sozialdemokraten, Gewerkschafter und Kommunisten wurden immer wieder verhaftet. 1934 zerstörten Mitglieder der Heimwehr das Denkmal des Sozialdemokraten Martin Rapoldi in Kranebitten. Die Presse war politisch gesteuert und zensuriert. Die Artikel glorifizierten das ländliche Leben in seiner Idylle. Kinderreiche Familien wurden finanziell unterstützt. Die Geschlechtertrennung an Schulen und die Umgestaltung der Lehrpläne für Mädchen bei gleichzeitiger vormilitärischer Ertüchtigung der Buben war im Sinn eines großen Teils der Bevölkerung. Auch die traditionell orientierte Kulturpolitik, mit der sich Österreich als das bessere Deutschland unter der antiklerikalen nationalsozialistischen Führung positionierte, gefiel dem konservativen Teil der Gesellschaft. Bereits 1931 hatten sich einige Tiroler Bürgermeister zusammengeschlossen, um das Einreiseverbot für die Habsburger aufheben zu lassen, das unausgesprochene Fernziel der Neuinstallation der Monarchie durch die Christlichsozialen erfreute sich also einer breiten Unterstützung.
Am 25. Juli 1934 kam es in Wien zu einem Putschversuch der verbotenen Nationalsozialisten, bei dem Dollfuß ums Leben kam. Auch in Innsbruck kam es zu einem Umsturzversuch. Beim Versuch einer Gruppe von Nationalsozialisten die Kontrolle über die Stadt zu gelangen, wurde in der Herrengasse ein Polizist erschossen. Hitler, der die Anschläge nicht angeordnet hatte, distanzierte sich, die österreichischen Gruppen der verbotenen Partei wurden dadurch eingeschränkt. In Innsbruck wurde auf „Verfügung des Regierungskommissärs der Landeshauptstadt Tirols“ der Platz vor dem Tiroler Landestheater als Dollfußplatz geführt. Hier hatte sich Dollfuß bei einer Kundgebung zwei Wochen vor seinem Tod noch mit dem aus Tirol stammenden Heimwehrführer Richard Steidle getroffen. Steidle war selbst mehrmals Opfer politischer Gewalt geworden. 1932 wurde er nach der Höttinger Saalschlacht in der Straßenbahn attackiert, im Jahr darauf vor seinem Haus in der Leopoldstraße Opfer eines Schussattentats. Nach der Machtergreifung durch die NSDAP kam er in das Konzentrationslager Buchenhausen, wo er 1940 starb.
Dollfuß´ Nachfolger als Kanzler Kurt Schuschnigg (1897 – 1977) war gebürtiger Tiroler und Mitglied der Innsbrucker Studentenverbindung Austria. Er betrieb lange Zeit eine Rechtsanwaltskanzlei in Innsbruck. 1930 gründete er eine paramilitärische Einheit namens Ostmärkische Sturmscharen, die das Gegengewicht der Christlich-Sozialen zu den radikalen Heimwehrgruppen bildeten. Nach dem Februaraufstand 1934 war er als Justizminister im Kabinett Dollfuß mitverantwortlich für die Hinrichtung mehrerer Sozialdemokraten.
Vor allem wirtschaftlich konnte aber auch der Austrofaschismus das Ruder in den 1930er Jahren nicht herumreißen. Die Wirtschaftskrise, die 1931 auch Österreich erreichte und die radikale, populistische Politik der NSDAP befeuerte, schlug hart zu. Die staatlichen Investitionen in große Infrastrukturprojekte kamen zum Erliegen. Die Arbeitslosenquote lag 1933 bei 25%. Die Einschränkung der sozialen Fürsorge, die zu Beginn der Ersten Republik eingeführt worden war, hatte dramatische Auswirkungen. Langzeitarbeitslose wurden vom Bezug von Sozialleistungen als „Ausgesteuerte“ ausgeschlossen. Die Armut ließ die Kriminalitätsrate ansteigen, Überfälle, Raube und Diebstähle häuften sich.
Ein besonderes Problem war wie schon in den Jahrzehnten zuvor die Wohnsituation. Trotz der Bemühungen seitens der Stadt modernen Wohnraum zu schaffen, hausten noch immer viele Innsbrucker in Bruchbuden. Badezimmer oder ein Schlafraum pro Person war die Ausnahme. Seit dem großen Wachstum Innsbrucks ab den 1880er Jahren war die Wohnsituation für viele Menschen prekär. Eisenbahn, Industrialisierung, Flüchtlinge aus den deutschsprachigen Gebieten Italiens und Wirtschaftskrise hatten Innsbruck an den Rand des Möglichen getrieben. Nach Wien hatte Innsbruck die zweithöchste Anzahl an Bewohnern pro Haus vorzuweisen. Die Mietpreise für Wohnraum waren derart hoch, dass Arbeiter häufig in Etappen schliefen, um sich die Kosten zu teilen. Zwar waren vor allem in Pradl neue Wohnblöcke und Obdachlosenunterkünfte entstanden wie das Wohnheim für Arbeiter in der Amthorstraße im Jahr 1907, die Herberge in der Hunoldstraße und der Pembaurblock, das genügte aber nicht um der Situation Herr zu werden. Aus dieser Not und Verzweiflung entstanden an den Randgebieten der Stadt mehrere Barackendörfer und Siedlungen, gegründet von den Ausgeschlossenen, Verzweifelten und Abgehängten, die im System keinen Platz fanden.
Im Kriegsgefangenenlager in der Höttinger Au quartierten sich nach dessen Ausmusterung Menschen in den Baracken ein. Die bis heute bekannteste und berüchtigtste war die Bocksiedlung am Gebiet der heutigen Reichenau. Zwischen dem damals dort beheimateten Flughafen und den Baracken des Konzentrationslagers Reichenau siedelten sich ab 1930 mehrere Familien in Baracken und Wohnwägen an. Die Entstehungslegende spricht von Otto und Josefa Rauth als Gründerinnen, deren Wohnwagen hier strandete. Rauth war nicht nur wirtschaftlich, sondern als bekennender Kommunist in Tiroler Lesart auch moralisch arm. Sein Floß, die Arche Noah, mit dem er über Inn und Donau in die Sowjetunion gelangen wollte, ankerte vor dem Gasthof Sandwirt.
Nach und nach entstand ein Bereich gleichermaßen am Rand der Stadt wie auch der Gesellschaft, der vom inoffiziellen Bürgermeister der Siedlung Johann Bock (1900 – 1975) wie eine unabhängige Kommune geleitet wurde. Er regelte die Agenden in seinem Wirkungsbereich in rau-herzlicher Manier.
Die Bockala hatten einen fürchterlichen Ruf unter den braven Bürgern der Stadt. Bei aller Geschichtsglättung und Nostalgie wohl nicht zu Unrecht. So hilfsbereit und solidarisch die oft exzentrischen Bewohner der Siedlung untereinander sein konnten, waren körperliche Gewalt und Kleinkriminalität an der Tagesordnung. Übermäßiger Alkoholkonsum war gängige Praxis. Die Straßen waren nicht asphaltiert. Fließendes Wasser, Kanalisation und Sanitäranlagen gab es ebenso wenig wie eine reguläre Stromversorgung. Sogar die Versorgung mit Trinkwasser war lange prekär, was die ständige Gefahr von Seuchen mit sich brachte.
Viele, nicht aber alle Bewohner waren arbeitslos oder kriminell. Es waren vielfach Menschen, die durch das System fielen, die sich in der Bocksiedlung niederließen. Das falsche Parteibuch zu haben konnte genügen, um im Innsbruck der 1930er keinen Wohnraum ergattern zu können. Karl Jaworak, der 1924 ein Attentat auf Bundeskanzler Prälat Ignaz Seipel verübte, lebte nach seiner Haft und Deportation in ein Konzentrationslager während des NS-Regimes ab 1958 an der Adresse Reichenau 5a.
Die Ausstattung der Behausungen der Bocksiedlung war ebenso heterogen wie die Bewohner. Es gab Wohn- und Zirkuswägen, Holzbaracken, Wellblechhütten, Ziegel- und Betonhäuser. Die Bocksiedlung hatte auch keine fixen Grenzen. Bockala zu sein war in Innsbruck ein sozialer Status, der zu einem großen Teil in der Imagination der Bevölkerung entstand.
Innerhalb der Siedlung kam es zu Vermietung und Verkauf der errichteten Häuser und Wägen. Unter Duldung der Stadt Innsbruck entstanden ersessene Werte. Die Bewohner bewirtschafteten Selbstversorgergärten und hielten Vieh, auch Hund und Katze standen in kargen Zeiten am Speiseplan.
Die Luftangriffe des Zweiten Weltkrieges verschärften die Wohnsituation in Innsbruck und ließen die Bocksiedlung wachsen. Um die 50 Unterkünfte sollen es am Höhepunkt gewesen sein. Auch die Baracken des Konzentrationslagers Reichenau wurden als Schlafplätze genutzt, nachdem die letzten inhaftierten Nationalsozialisten, die dort verwahrt wurden, verlegt oder freigelassen worden waren, allerdings zählte das KZ nicht zur Bocksiedlung im engeren Sinn.
Der Anfang vom Ende waren die Olympischen Spielen von 1964 und ein Brand in der Siedlung ein Jahr zuvor. Böse Zungen behaupten, dieser sei gelegt worden, um die Räumung zu beschleunigen. 1967 verhandelten Bürgermeister Alois Lugger und Johann Bock, Erzählungen nach in alkoholgeschwängerter Atmosphäre, über das weitere Vorgehen und Entschädigungen seitens der Gemeinde für die Räumung. 1976 wurden die letzten Quartiere wegen hygienischer Mängel geräumt.
Viele ehemalige Bewohner der Bocksiedlung wurden nach den Olympischen Spielen in städtische Wohnungen in Pradl, der Reichenau und im O-Dorf einquartiert. Die Sitten der Bocksiedlung lebten noch einige Jahre fort, was den schlechten Ruf der städtischen Wohnblöcke dieser Stadtviertel bis heute ausmacht.
Eine Aufarbeitung dessen, was von vielen Historikern als Austrofaschismus bezeichnet wird, ist in Österreich bisher kaum passiert. So sind in der Kirche St. Jakob im Defereggen in Osttirol oder in der Pfarrkirche Fritzens noch Bilder mit Dollfuß als Beschützer der katholischen Kirche mehr oder minder unkommentiert zu sehen. In vielen Belangen reicht das Erbe der gespaltenen Situation der Zwischenkriegszeit in die Gegenwart. Bis heute gibt es rote und schwarze Autofahrerclubs, Sportverbände, Rettungsgesellschaften und Alpinverbände, deren Wurzeln in diese Zeit zurückreichen.
Die Geschichte der Bocksiedlung wurde in vielen Interviews und mühsamer Kleinarbeit vom Stadtarchiv für das Buch „Bocksiedlung. Ein Stück Innsbruck“ des Stadtarchivs lesenswert aufbereitet.
Innsbruck und der Nationalsozialismus
In den 1920er und 30er wuchs und gedieh die NSDAP auch in Tirol. Die erste Ortsgruppe der NSDAP in Innsbruck wurde bereits 1923 gegründet. Mit „Der Nationalsozialist – Kampfblatt für Tirol und Vorarlberg“ erschien ein eigenes Wochenblatt. 1933 erlebte die NSDAP mit dem Rückenwind aus Deutschland auch in Innsbruck einen kometenhaften Aufstieg. Die allgemeine Unzufriedenheit und Politikverdrossenheit der Bürger und theatralisch inszenierte Fackelzüge durch die Stadt samt hakenkreuzförmiger Bergfeuer auf der Nordkette im Wahlkampf verhalfen der Partei zu einem großen Zugewinn. Über 1800 Innsbrucker waren Mitglied der SA, die ihr Quartier in der Bürgerstraße 10 hatte. Konnten die Nationalsozialisten bei ihrem ersten Antreten bei einer Gemeinderatswahl 1921 nur 2,8% der Stimmen erringen, waren es bei den Wahlen 1933 bereits 41%. Neun Mandatare, darunter der spätere Bürgermeister Egon Denz und der Gauleiter Tirols Franz Hofer, zogen in den Gemeinderat ein. Nicht nur die Wahl Hitlers zum Reichskanzler in Deutschland, auch Kampagnen und Manifestationen in Innsbruck verhalfen der ab 1934 in Österreich verbotenen Partei zu diesem Ergebnis. Wie überall waren es auch in Innsbruck vor allem junge Menschen, die sich für den Nationalsozialismus begeisterten. Das Neue, das Aufräumen mit alten Hierarchien und Strukturen wie der katholischen Kirche, der Umbruch und der noch nie dagewesene Stil zogen sie an. Besonders unter den großdeutsch gesinnten Burschen der Studentenverbindungen und vielfach auch unter Professoren war der Nationalsozialismus beliebt.
Als der Anschluss Österreichs an Deutschland im März 1938 erfolgte, kam es zu bürgerkriegsähnlichen Szenen. Bereits im Vorfeld des Einmarsches war es immer wieder zu Aufmärschen und Kundgebungen der Nationalsozialisten gekommen, nachdem das Verbot der Partei aufgehoben worden war. Noch bevor Bundeskanzler Schuschnigg seine letzte Rede an das Volk vor der Machtübergabe an die Nationalsozialisten mit den Worten „Gott schütze Österreich“ am 11. März 1938 geschlossen hatte, rotteten sich bereits die Nationalsozialisten in der Innenstadt zusammen um den Einmarsch der deutschen Truppen vorzufeiern. Die Polizei des Ständestaates war dem Aufruhr der organisierten Manifestationen teils gewogen, teils stand sie dem Treiben machtlos gegenüber. Landhaus und Maria-Theresien-Straße wurden zwar abgeriegelt und mit Maschinengewehrständen gesichert, an ein Durchgreifen seitens der Exekutive war aber nicht zu denken. „Ein Volk – ein Reich – ein Führer“ hallte durch die Stadt. Die Bedrohung des deutschen Militärs und der Aufmarsch von SA-Truppen beseitigten die letzten Zweifel. Mehr und mehr schloss sich die begeisterte Bevölkerung an. Am Tiroler Landhaus, damals noch in der Maria-Theresienstraße, sowie im provisorischen Hauptquartier der Nationalsozialisten im Gasthaus Alt-Innsprugg, wurde die Hakenkreuzfahne gehisst.
Am 12. März empfingen die Innsbrucker das deutsche Militär frenetisch. Um die Gastfreundschaft gegenüber den Nationalsozialisten sicherzustellen, ließ Bürgermeister Egon Denz jedem Arbeiter einen Wochenlohn auszahlen. Am 5. April besuchte Adolf Hitler persönlich Innsbruck, um sich von der Menge feiern zu lassen. Archivbilder zeigen eine euphorische Menschenmenge in Erwartung des Führers, des Heilsversprechers. Auf der Nordkette wurden Bergfeuer in Hakenkreuzform entzündet. Die Volksbefragung am 10. April ergab eine Zustimmung von über 99% zum Anschluss Österreichs an Deutschland. Die Menschen waren nach der wirtschaftlichen Not der Zwischenkriegszeit, der Wirtschaftskrise und den Regierungen unter Dollfuß und Schuschnigg müde und wollten Veränderung. Welche Art von Veränderung, war im ersten Moment weniger wichtig als die Veränderung an und für sich. „Es denen da oben zu zeigen“, das war Hitlers Versprechen. Wehrmacht und Industrie boten jungen Menschen eine Perspektive, auch denen, die mit der Ideologie des Nationalsozialismus an und für sich wenig anfangen konnten. Dass es immer wieder zu Gewaltausbrüchen kam, war für die Zwischenkriegszeit in Österreich ohnehin nicht unüblich. Anders als heute war Demokratie nichts, woran sich jemand in der kurzen, von politischen Extremen geprägten Zeit zwischen der Monarchie 1918 bis zur Ausschaltung des Parlaments unter Dollfuß 1933 hätte gewöhnen können. Was faktisch nicht in den Köpfen der Bevölkerung existiert, muss man nicht abschaffen.
Tirol und Vorarlberg wurden in einem Reichsgau zusammengefasst mit Innsbruck als Hauptstadt. Auch wenn der Nationalsozialismus von einem guten Teil der Bevölkerung skeptisch gesehen wurde, gab es kaum organisierten oder gar bewaffneten Widerstand, dazu waren der katholische Widerstand OE5 und die Linke in Tirol nicht stark genug. Unorganisiertes subversives Verhalten der Bevölkerung, vor allem in den erzkatholischen Landgemeinden rund um Innsbruck gab es vereinzelt. Zu allumfassend dominierte der Machtapparat den Alltag der Menschen. Viele Arbeitsstellen und sonstige Annehmlichkeiten des Lebens waren an eine zumindest äußerlich parteitreue Gesinnung gebunden. Eine Inhaftierung blieb dem größten Teil der Bevölkerung zwar erspart, die Angst davor war aber allgegenwärtig.
Das Regime unter Hofer und Gestapochef Werner Hilliges leistete auch ganze Arbeit bei der Unterdrückung. InTirol war die Kirche das größte Hindernis. Während des Nationalsozialismus wurde die katholische Kirche systematisch bekämpft. Katholische Schulen wurden umfunktioniert, Jugendorganisationen und Vereine verboten, Klöster geschlossen, der Religionsunterricht abgeschafft und eine Kirchensteuer eingeführt. Besonders hartnäckige Pfarrer wie Otto Neururer wurden in Konzentrationslager gebracht. Auch Lokalpolitiker wie die späteren Innsbrucker Bürgermeister Anton Melzer und Franz Greiter mussten flüchten oder worden verhaftet. Gewalt und die Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung, dem Klerus, politisch Verdächtigen, Zivilpersonen und Kriegsgefangenen auch nur überblicksmäßig zusammenzufassen würde den Rahmen sprengen. Das Hauptquartier der Gestapo befand sich in der Herrengasse 1. Hier wurden Verdächtige schwer misshandelt und teils mit Fäusten zu Tode geprügelt. 1941 wurde in der Rossau in der Nähe des Bauhofs Innsbruck das Arbeitslager Reichenau errichtet. Verdächtige Personen aller Art wurden hier zu Zwangsarbeiten in schäbigen Baracken verwahrt. Über 130 Personen fanden in diesem Lager bestehend aus 20 Baracken den Tod durch Krankheit, die schlechten Bedingungen, Arbeitsunfälle oder Hinrichtungen. Auch im 10 km von Innsbruck entfernten Dorf Kematen kamen im Messerschmitt Werk Gefangene zum Zwangseinsatz. Darunter waren politische Häftlinge, russische Kriegsgefangene und Juden. Zu den Zwangsarbeiten gehörten unter anderem die Errichtung der Südtiroler Siedlungen in der Endphase oder die Stollen zum Schutz vor den Luftangriffen im Süden Innsbrucks. In der Klinik Innsbruck wurden Behinderte und vom System als nicht genehm empfundene Menschen wie Homosexuelle zwangssterilisiert.
Die Erinnerungsorte an die Zeit des Nationalsozialismus sind rar gesät. Das Tiroler Landhaus mit dem Befreiungsdenkmal und das Gebäude der Alten Universität sind die beiden auffälligsten Denkmäler. Der Vorplatz der Universität und eine kleine Säule am südlichen Eingang der Klinik wurden ebenfalls im Gedenken an das wohl dunkelste Kapitel Österreichs Geschichte gestaltet.
Luftangriffe auf Innsbruck
Wie der Lauf der Geschichte der Stadt unterliegt auch ihr Aussehen einem ständigen Wandel. Besonders gut sichtbare Veränderungen im Stadtbild erzeugten die Jahre rund um 1500 und zwischen 1850 bis 1900, als sich politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen in besonders schnellem Tempo abspielten. Das einschneidendste Ereignis mit den größten Auswirkungen auf das Stadtbild waren aber wohl die Luftangriffe auf die Stadt im Zweiten Weltkrieg.
Neben der Lebensmittelknappheit waren die Menschen an der von den Nationalsozialisten so genannten „Heimatfront“ in der Stadt vor allem von den Luftangriffen der Alliierten betroffen. Innsbruck war ein wichtiger Versorgungsbahnhof für den Nachschub an der Italienfront.
In der Nacht vom 15. auf den 16. Dezember 1943 erfolgte der erste alliierte Luftangriff auf die schlecht vorbereitete Stadt. 269 Menschen fielen den Bomben zum Opfer, 500 wurden verletzt und mehr als 1500 obdachlos. Über 300 Gebäude, vor allem in Wilten und der Innenstadt, wurden zerstört und beschädigt. Am Montag, den 18. Dezember fanden sich in den Innsbrucker Nachrichten, dem Vorgänger der Tiroler Tageszeitung, auf der Titelseite allerhand propagandistische Meldungen vom erfolgreichen und heroischen Abwehrkampf der Deutschen Wehrmacht an allen Fronten gegenüber dem Bündnis aus Anglo-Amerikanern und dem Russen, nicht aber vom Bombenangriff auf Innsbruck.
Bombenterror über Innsbruck
Innsbruck, 17. Dez. Der 16. Dezember wird in der Geschichte Innsbrucks als der Tag vermerkt bleiben, an dem der Luftterror der Anglo-Amerikaner die Gauhauptstadt mit der ganzen Schwere dieser gemeinen und brutalen Kampfweise, die man nicht mehr Kriegführung nennen kann, getroffen hat. In mehreren Wellen flogen feindliche Kampfverbände die Stadt an und richteten ihre Angriffe mit zahlreichen Spreng- und Brandbomben gegen die Wohngebiete. Schwerste Schäden an Wohngebäuden, an Krankenhäusern und anderen Gemeinschaftseinrichtungen waren das traurige, alle bisherigen Schäden übersteigende Ergebnis dieses verbrecherischen Überfalles, der über zahlreiche Familien unserer Stadt schwerste Leiden und empfindliche Belastung der Lebensführung, das bittere Los der Vernichtung liebgewordenen Besitzes, der Zerstörung von Heim und Herd und der Heimatlosigkeit gebracht hat. Grenzenloser Haß und das glühende Verlangen diese unmenschliche Untat mit schonungsloser Schärfe zu vergelten, sind die einzige Empfindung, die außer der Auseinandersetzung mit den eigenen und den Gemeinschaftssorgen alle Gemüter bewegt. Wir alle blicken voll Vertrauen auf unsere Soldaten und erwarten mit Zuversicht den Tag, an dem der Führer den Befehl geben wird, ihre geballte Kraft mit neuen Waffen gegen den Feind im Westen einzusetzen, der durch seinen Mord- und Brandterror gegen Wehrlose neuerdings bewiesen hat, daß er sich von den asiatischen Bestien im Osten durch nichts unterscheidet – es wäre denn durch größere Feigheit. Die Luftschutzeinrichtungen der Stadt haben sich ebenso bewährt, wie die Luftschutzdisziplin der Bevölkerung. Bis zur Stunde sind 26 Gefallene gemeldet, deren Zahl sich aller Voraussicht nach nicht wesentlich erhöhen dürfte. Die Hilfsmaßnahmen haben unter Führung der Partei und tatkräftigen Mitarbeit der Wehrmacht sofort und wirkungsvoll eingesetzt.
Diese durch Zensur und Gleichschaltung der Medien fantasievoll gestaltete Nachricht schaffte es gerade mal auf Seite 3. Prominenter wollte man die schlechte Vorbereitung der Stadt auf das absehbare Bombardement wohl nicht dem Volkskörper präsentieren. Ganz so groß wie 1938 nach dem Anschluss, als Hitler am 5. April von 100.000 Menschen in Innsbruck begeistert empfangen worden war, war die Begeisterung für den Nationalsozialismus nicht mehr. Zu groß waren die Schäden an der Stadt und die persönlichen, tragischen Verluste in der Bevölkerung. Im Jänner 1944 begann man Luftschutzstollen und andere Schutzmaßnahmen zu errichten. Die Arbeiten wurden zu einem großen Teil von Gefangenen des Konzentrationslagers Reichenau durchgeführt.
Insgesamt wurde Innsbruck zwischen 1943 und 1945 zweiundzwanzig Mal angegriffen. Dabei wurden knapp 3833, also knapp 50%, der Gebäude in der Stadt beschädigt und 504 Menschen starben. In den letzten Kriegsmonaten war an Normalität nicht mehr zu denken. Die Bevölkerung lebte in dauerhafter Angst. Die Schulen wurden bereits vormittags geschlossen. An einen geregelten Alltag war nicht mehr zu denken.
Die Stadt wurde zum Glück nur Opfer gezielter Angriffe. Deutsche Städte wie Hamburg oder Dresden wurden von den Alliierten mit Feuerstürmen mit Zehntausenden Toten innerhalb weniger Stunden komplett dem Erdboden gleichgemacht. Viele Gebäude wie die Jesuitenkirche, das Stift Wilten, die Servitenkirche, der Dom, das Hallenbad in der Amraserstraße wurden getroffen.
Besondere Behandlung erfuhren während der Angriffe historische Gebäude und Denkmäler. Das Goldene Dachl wurde mit einer speziellen Konstruktion ebenso geschützt wie der Sarkophag Maximilians in der Hofkirche. Die Figuren der Hofkirche, die Schwarzen Mannder, wurden nach Kundl gebracht. Die Gnadenmutter, das berühmte Bild aus dem Innsbrucker Dom, wurde während des Krieges ins Ötztal überführt.
Der Luftschutzstollen südlich von Innsbruck an der Brennerstraße und die Kennzeichnungen von Häusern mit Luftschutzkellern mit ihren schwarzen Vierecken und den weißen Kreisen und Pfeilen kann man heute noch begutachten. In Pradl, wo neben Wilten die meisten Gebäude beschädigt wurden, weisen an den betroffenen Häusern Bronzetafeln mit dem Hinweis auf den Wiederaufbau auf einen Bombentreffer hin.