Adolf-Pichler-Platz
Adolf-Pichler-Platz
Wissenswert
Das 19. Jahrhundert veränderte Innsbruck in vielerlei Hinsicht. Politik, Verwaltung, Gesellschaft, Macht- und Vermögensverhältnisse änderten sich zwischen der ersten Hälfte, die noch stark von den Kriegsjahren bis 1815 geprägt waren, und der zweiten Hälfte, die als bürgerliches Zeitalter in die Geschichte Europas einging. Neue Berufs- und Lebenswelten entstanden. Mit Fleiß, Geschick, Klugheit und Glück konnte man es dank dem staatlichen Schul- und Bildungswesen weiter bringen als je zuvor. Liberale Vordenker, die im System Metternichs unter dem Verdacht der Radikalität standen und deren Schriften oft genug der Zensur anheimfielen, konnten sich nach 1848 nach und nach zumindest etwas freier äußern. Die 1860er Jahre brachten einen formalen Parlamentarismus, neue Gemeindestatuten, den Ausgleich mit Ungarn innerhalb der neuen k.u.k. Monarchie und das Ausscheiden Österreichs aus dem Deutschen Bund. Der ehemals in den deutschen Staaten als Avantgarde einiger Liberaler und „Radikaler“ geltende Nationalismus wurde zur Politik der Mitte.
In Innsbruck kann das Leben Adolf Pichlers stellvertretend für diese Entwicklungen gelesen werden. Mit 12 Jahren kam der Sohn eines Zollbeamten von Erl bei Kufstein nach Innsbruck, um am Gymnasium seine akademische Karriere zu starten. Unter den Fittichen der Jesuiten, denen er später mit wenig Begeisterung begegnen sollte, startete er im Geiste des klassischen Humanismus seine akademische Karriere. Pichler lernte in dieser Zeit vor allem die antiken Schriftsteller und ihre Philosophien kennen. Bereits als Teenager gründete er mit jugendlichem Eifer den Verein „Eiche und Buche“ und gab eine literarische Wochenschrift heraus. Während seinen Philosophie-, Jus- und Medizinstudien in Innsbruck und Wien lernte las er die Werke damals moderner, teils aber unter Zensur stehender Denker wie Feuerbach, Hegel und Fichte. Er bediente sich aus der geheimen Bibliothek, liebevoll Giftbude tituliert, von Johann Schuler, dem Redakteur des Tiroler Boten. Er lernte die liberalen deutschen Vorkämpfer Anastasius Grün und Heinrich Heine kennen. Sie vertraten den Gedanken einer geeinten deutschen Nation anstelle der Kleinstaatlichkeit des Deutschen Bundes. Unter der Beimengung des englischen Literaturexzentrikers Lord Byron und des mittelalterlichen Minnesängers Walther von der Vogelweide entstand sein Blick auf die Welt, der sich innerhalb der liberalen Schicht Innsbrucks gegen Ende des 19. Jahrhunderts durchsetzen sollte. Tirol sollte ein Teil der deutschen Kulturnation sein. 1845 geriet Pichler endgültig ins Visier der geheimen Staatspolizei Metternichs. Gemeinsam mit anderen „Radikalen“, allen voran Hermann von Gilm, gab er den Lyrikband Frühlingslieder aus Tirol heraus, der trotz aller Harmlosigkeit nicht erschienen durfte. Pichler war durch die Sammlung der Gedichte als eine Art geistiger Vater zum Gründer der Jungtiroler geworden, ohne selbst inhaltlich bemerkenswert beizutragen. Der junge Mann wurde nicht nur ein Teil der subversiven, national-liberalen Tiroler Literaturszene, sondern tauschte sich in Briefen und Zeitungsartikeln auch mit ausländischen Autoren und Intellektuellen aus. Sein Kollegen- und Freundeskreis reichte von den Tirolern Adolf Flir, Johann Senn und Beda Weber über Grillparzer und Stifter bis hin zu Alexander von Humboldt.
1848, Pichler hatte gerade sein Medizinstudium in Wien abgeschlossen, beteiligte er sich an den Kämpfen an den Tiroler Landesgrenzen in den Italienischen Unabhängigkeitskriegen. Pichler stellte ein eigenes Corps, die Akademische Legion auf. Obwohl die Studenten und Professoren gemeinsam mit den habsburgischen Truppen den Grenzschutz wahrnahmen, beäugte die Obrigkeit das Treiben Pichlers und seiner Truppe argwöhnisch. Der Umgang mit subversiven Elementen und seine politisch motivierten Artikel, Gedichte und Stücke verhinderten in der Donaumonarchie nach den Wirren von 1848 die akademische Karriere Pichlers. An der Universität abgelehnt musste er sich mit einem Posten am Gymnasium in Innsbruck zufriedengeben. Nebenbei verfolgte er seinen Weg als Literaturhistoriker weiter. Er schrieb über die Geschichte der Tiroler Literatur, ließ sich von seinen Schülern Theaterstücke aus deren jeweiliger Heimatregionen zusammentragen, um diese Tirolensien zu sammeln. Pichler war im Geiste von 1848 ein eifriger Archivar Tiroler Traditionen und Überlieferungen, um die Vergangenheit und Althergebrachtes zu einem nationalen, germanisch gefärbten Narrativ zu bündeln. Seine eigenen, von nationalem Pathos triefenden literarischen Gehversuche bestehend waren nur von überschaubarem Erfolg gekrönt. Pichlers Dramen schafften es mit Ausnahme des Stückes Rodrigo, ein im Innsbrucker Stadttheater aufgeführter Historienschinken nicht an die breite Öffentlichkeit. Die Handlung spielt zur Zeit des Untergangs des Westgotenreichs in Spanien im 8. Jahrhundert und ist eine Anspielung auf die politische Situation in Österreich der Zeit nach dem Ausscheiden der Monarchie aus dem Deutschen Bund. Rodrigo verschwindet der nach einer Niederlage in der Entscheidungsschlacht am spanischen Rio Guadalete, dem Äquivalent zu Königgrätz, aus der Geschichte.
Wohl ein wenig desillusioniert nach der in Österreich wenig revolutionären Märzrevolution und dem Ausscheiden Österreichs aus dem deutschen Bund 1866, wandte sich der vom offen Aufsässigen zum still Widerspenstigen gewandelte Intellektuelle der Geologie zu. Auf langen Wanderungen durch die Alpen sammelte er Erkenntnisse über die geliebte Heimat und konnte so zumindest ein wenig in die Fußstapfen Alexanders von Humboldt treten. 1867 wurde er zum Universitätsprofessor für Geologie in Innsbruck berufen und konnte so seine akademische Karriere im Alter von knapp 50 Jahren doch noch krönen, ohne selbst je ein naturwissenschaftliches Studium absolviert zu haben. Den Posten als Rektor lehnte der unangepasste Pichler ab, zu hoch wäre wohl der Preis dafür gewesen. Liest man heute die Artikel und Gedichte Pichlers, fühlt man sich in Ausdruck und Thematik rund um Deutschtum, Wahrheit, Kampfeslust und Heldenverehrung stark an die Diktion der völkischen Presse der frühen Nationalsozialisten erinnert. Als Intellektueller, Kritiker und Kommentator des Zeitgeschehens beeinflusste Pichler den Zeitgeist der Innsbrucker Politik merklich. Viel ist in seinen Schriften die Rede von den Nibelungen, Walhalla, Wotan, Aufopferung und Erlösung. Bis an sein Lebensende verfasste er Gedichte, Theaterstücke und schmalzige Hymnen wie seinen späten Dietrich von Bern aus dem Jahr 1898.
Kennt den Dietrich Ihr den Berner?
Den man einst in Fesseln schloss –
Flammen atmet er im Zorne –
dass wie Wachs das Eisen floss,
folgt dem Beispiel Eures Helden –
duldet nie ein fremdes Joch –
duldet nie als Herrn den Sklaven –
der am Boden vor Euch kroch.
Sein Hausblatt war der zwischen 1899 und 1906 erscheinenden, bissige politische, antiklerikale Scherer. Das Logo des selbsternannten Satireblattes war ein lächelnder älterer Tiroler, der dem Betrachter einen toten Maulwurf, dem Symbol für den oft als Schädling bezeichneten Klerus entgegenstreckt. Auch in überregionalen Magazinen und Zeitungen wie Presse, Wiener Zeitung, Augsburger Allgemeine, Gartenlaube, Odin und Germania schrieb der stramm deutschnationale Pichler gegen Klerus und Obrigkeit an. Der volkstümlich schwelende Antisemitismus hingegen war ihm fremd und zuwider. Anders als später den Faschisten und Nationalsozialisten sprach sich Pichler auch gegen jegliche Form des Imperialismus aus, sei es britischer, französischer oder deutscher. Alle Völker und Nationen sollten sich selbst verwalten, Kultur und Traditionen sollten geachtet werden.
Als der ehemals als „Radikaler“ angesehene Public Intellectual 1900 seine Augen für immer schloss, war aus ihm ein geachteter Bürger geworden. Seine politischen Ansichten waren dieselben geblieben, entsprachen mittlerweile aber dem Mainstream und wurden nicht mehr zensuriert, sondern ganz besonders im Innsbrucker Gemeinderat unter Wilhelm Greil hochgeschätzt. Die liberale Presse überschlug sich in Lobeshymnen und Wehklagen. Karl Habermann, Herausgeber des Scherer, verbrannte bei einem Fackelzug zu Ehren des hochverehrten Adolf Pichlers einen gegen seine Zeitung gerichteten offenen Brief des Fürstbischofs von Brixen, wofür er sich vor Gericht verantworten musste im Hirtenbriefproceß verantworten musste. In einer eigenen Heftnummer voll mit Gedichten und Artikel literarischer Weggefährten und Bewunderer konnte man im Scherer einen letzten, von Pichler selbst verfassten Abschied, in dem er seine Schreibfeder mit dem Schwerte König Arthurs verglich, lesen. In einem Nachruf ehrte man den „Alten“ mit den Worten:
„Tirol, das schwarze Pfaffenland, es ward durch Pichler zum neuen Flammenherde geistiger Empörung, von dem sich tausende von Volksgenossen in allen deutschen Gauen die Brandfackel holen, um auch in ihrem Heim die heilige Flamme zu entzünden.“
Auch in anderen einschlägigen Magazinen wie Odin – ein Kampfblatt für die alldeutsche Bewegung auf unbedingt völkischem Standpunkte und der Ostdeutschen Rundschau, dem „nationalen Kampfblatt der Deutschen in Österreich“ ließ man den Tiroler Heros hochleben. Schriftsteller wie Franz Kranewitter (1860 – 1938), Rudolf Greinz (1866 - 1942), Heinrich von Schullern (1865 – 1955) und Arthur von Wallpach (1866 – 1946) trugen die literarische Flamme Pichlers als Jung-Tirol weiter, zuerst im Scherer und später in Der Föhn. Sie alle einte die Erfahrung des Ausscheidens Österreichs aus dem Deutschen Bund, der Machtverlust der K.u.K. Monarchie sowie der Verlust der südlichen Landesteile des historischen Tirols. Ihre Form des teils antiklerikalen, teils kriegsverherrlichenden Liberalismus bei gleichzeitiger Lobpreisung der Heimatverbundenheit und des Tiroler Volksgeistes erfreuten sich sowohl nach dem ersten Weltkrieg wie auch während des Nationalsozialismus großer Beliebtheit. Stücke wie der Andreas Hofer Kranewitters und die Gedichtbände Wallpachs mit klingenden Namen wie Tiroler Blut oder Wir brechen durch den Tod! – Gedichte aus dem Felde ermöglichten es fast jeder politischen Richtung ihr Programm darin auf die eine oder andere Weise wiederzufinden. Bereits ein Jahr nach Adolf Pichlers Tod wurde ein Komitee ins Leben gerufen, um ihm ein Denkmal zu errichten. Den Vorstand übernahm Bürgermeister Greil, der seinen Spiritus Rector nur zu gerne im öffentlichen Raum platzieren ließ. Seit 1930 ist der Adolf-Pichler-Platz, auf dem die Bronzestatue steht, nach ihm benannt. Auch seinen nachfolgenden Jung-Tirolern Greinz, Schullern, Kranewitter und Renk wurden in Amras und Pradl Straßen gewidmet. Pichlers Wohnhaus in der Müllerstraße schmückt eine Erinnerungstafel mit Tiroler Adler, Lorbeerkranz und Eichellaub: „DEM DEUTSCHEN DICHTER ADOLF PICHLER – DAS LAND TIROL“.
Adolf Pichler: vom Vormärz zum Mainstream
Das 19. Jahrhundert veränderte Innsbruck in vielerlei Hinsicht. Politik, Verwaltung, Gesellschaft, Macht- und Vermögensverhältnisse änderten sich zwischen der ersten Hälfte, die noch stark von den Kriegsjahren bis 1815 geprägt waren, und der zweiten Hälfte, die als bürgerliches Zeitalter in die Geschichte Europas einging. Neue Berufs- und Lebenswelten entstanden. Mit Fleiß, Geschick, Klugheit und Glück konnte man es dank dem staatlichen Schul- und Bildungswesen weiter bringen als je zuvor. Liberale Vordenker, die im System Metternichs unter dem Verdacht der Radikalität standen und deren Schriften oft genug der Zensur anheimfielen, konnten sich nach 1848 nach und nach zumindest etwas freier äußern. Die 1860er Jahre brachten einen formalen Parlamentarismus, neue Gemeindestatuten, den Ausgleich mit Ungarn innerhalb der neuen k.u.k. Monarchie und das Ausscheiden Österreichs aus dem Deutschen Bund. Der ehemals in den deutschen Staaten als Avantgarde einiger Liberaler und „Radikaler“ geltende Nationalismus wurde zur Politik der Mitte.
In Innsbruck kann das Leben Adolf Pichlers stellvertretend für diese Entwicklungen gelesen werden. Mit 12 Jahren kam der Sohn eines Zollbeamten von Erl bei Kufstein nach Innsbruck, um am Gymnasium seine akademische Karriere zu starten. Unter den Fittichen der Jesuiten, denen er später mit wenig Begeisterung begegnen sollte, startete er im Geiste des klassischen Humanismus seine akademische Karriere. Pichler lernte in dieser Zeit vor allem die antiken Schriftsteller und ihre Philosophien kennen. Bereits als Teenager gründete er mit jugendlichem Eifer den Verein „Eiche und Buche“ und gab eine literarische Wochenschrift heraus. Während seinen Philosophie-, Jus- und Medizinstudien in Innsbruck und Wien lernte las er die Werke damals moderner, teils aber unter Zensur stehender Denker wie Feuerbach, Hegel und Fichte. Er bediente sich aus der geheimen Bibliothek, liebevoll Giftbude tituliert, von Johann Schuler, dem Redakteur des Tiroler Boten. Er lernte die liberalen deutschen Vorkämpfer Anastasius Grün und Heinrich Heine kennen. Sie vertraten den Gedanken einer geeinten deutschen Nation anstelle der Kleinstaatlichkeit des Deutschen Bundes. Unter der Beimengung des englischen Literaturexzentrikers Lord Byron und des mittelalterlichen Minnesängers Walther von der Vogelweide entstand sein Blick auf die Welt, der sich innerhalb der liberalen Schicht Innsbrucks gegen Ende des 19. Jahrhunderts durchsetzen sollte. Tirol sollte ein Teil der deutschen Kulturnation sein. 1845 geriet Pichler endgültig ins Visier der geheimen Staatspolizei Metternichs. Gemeinsam mit anderen „Radikalen“, allen voran Hermann von Gilm, gab er den Lyrikband Frühlingslieder aus Tirol heraus, der trotz aller Harmlosigkeit nicht erschienen durfte. Pichler war durch die Sammlung der Gedichte als eine Art geistiger Vater zum Gründer der Jungtiroler geworden, ohne selbst inhaltlich bemerkenswert beizutragen. Der junge Mann wurde nicht nur ein Teil der subversiven, national-liberalen Tiroler Literaturszene, sondern tauschte sich in Briefen und Zeitungsartikeln auch mit ausländischen Autoren und Intellektuellen aus. Sein Kollegen- und Freundeskreis reichte von den Tirolern Adolf Flir, Johann Senn und Beda Weber über Grillparzer und Stifter bis hin zu Alexander von Humboldt.
1848, Pichler hatte gerade sein Medizinstudium in Wien abgeschlossen, beteiligte er sich an den Kämpfen an den Tiroler Landesgrenzen in den Italienischen Unabhängigkeitskriegen. Pichler stellte ein eigenes Corps, die Akademische Legion auf. Obwohl die Studenten und Professoren gemeinsam mit den habsburgischen Truppen den Grenzschutz wahrnahmen, beäugte die Obrigkeit das Treiben Pichlers und seiner Truppe argwöhnisch. Der Umgang mit subversiven Elementen und seine politisch motivierten Artikel, Gedichte und Stücke verhinderten in der Donaumonarchie nach den Wirren von 1848 die akademische Karriere Pichlers. An der Universität abgelehnt musste er sich mit einem Posten am Gymnasium in Innsbruck zufriedengeben. Nebenbei verfolgte er seinen Weg als Literaturhistoriker weiter. Er schrieb über die Geschichte der Tiroler Literatur, ließ sich von seinen Schülern Theaterstücke aus deren jeweiliger Heimatregionen zusammentragen, um diese Tirolensien zu sammeln. Pichler war im Geiste von 1848 ein eifriger Archivar Tiroler Traditionen und Überlieferungen, um die Vergangenheit und Althergebrachtes zu einem nationalen, germanisch gefärbten Narrativ zu bündeln. Seine eigenen, von nationalem Pathos triefenden literarischen Gehversuche bestehend waren nur von überschaubarem Erfolg gekrönt. Pichlers Dramen schafften es mit Ausnahme des Stückes Rodrigo, ein im Innsbrucker Stadttheater aufgeführter Historienschinken nicht an die breite Öffentlichkeit. Die Handlung spielt zur Zeit des Untergangs des Westgotenreichs in Spanien im 8. Jahrhundert und ist eine Anspielung auf die politische Situation in Österreich der Zeit nach dem Ausscheiden der Monarchie aus dem Deutschen Bund. Rodrigo verschwindet der nach einer Niederlage in der Entscheidungsschlacht am spanischen Rio Guadalete, dem Äquivalent zu Königgrätz, aus der Geschichte.
Wohl ein wenig desillusioniert nach der in Österreich wenig revolutionären Märzrevolution und dem Ausscheiden Österreichs aus dem deutschen Bund 1866, wandte sich der vom offen Aufsässigen zum still Widerspenstigen gewandelte Intellektuelle der Geologie zu. Auf langen Wanderungen durch die Alpen sammelte er Erkenntnisse über die geliebte Heimat und konnte so zumindest ein wenig in die Fußstapfen Alexanders von Humboldt treten. 1867 wurde er zum Universitätsprofessor für Geologie in Innsbruck berufen und konnte so seine akademische Karriere im Alter von knapp 50 Jahren doch noch krönen, ohne selbst je ein naturwissenschaftliches Studium absolviert zu haben. Den Posten als Rektor lehnte der unangepasste Pichler ab, zu hoch wäre wohl der Preis dafür gewesen. Liest man heute die Artikel und Gedichte Pichlers, fühlt man sich in Ausdruck und Thematik rund um Deutschtum, Wahrheit, Kampfeslust und Heldenverehrung stark an die Diktion der völkischen Presse der frühen Nationalsozialisten erinnert. Als Intellektueller, Kritiker und Kommentator des Zeitgeschehens beeinflusste Pichler den Zeitgeist der Innsbrucker Politik merklich. Viel ist in seinen Schriften die Rede von den Nibelungen, Walhalla, Wotan, Aufopferung und Erlösung. Bis an sein Lebensende verfasste er Gedichte, Theaterstücke und schmalzige Hymnen wie seinen späten Dietrich von Bern aus dem Jahr 1898.
Kennt den Dietrich Ihr den Berner?
Den man einst in Fesseln schloss –
Flammen atmet er im Zorne –
dass wie Wachs das Eisen floss,
folgt dem Beispiel Eures Helden –
duldet nie ein fremdes Joch –
duldet nie als Herrn den Sklaven –
der am Boden vor Euch kroch.
Sein Hausblatt war der zwischen 1899 und 1906 erscheinenden, bissige politische, antiklerikale Scherer. Das Logo des selbsternannten Satireblattes war ein lächelnder älterer Tiroler, der dem Betrachter einen toten Maulwurf, dem Symbol für den oft als Schädling bezeichneten Klerus entgegenstreckt. Auch in überregionalen Magazinen und Zeitungen wie Presse, Wiener Zeitung, Augsburger Allgemeine, Gartenlaube, Odin und Germania schrieb der stramm deutschnationale Pichler gegen Klerus und Obrigkeit an. Der volkstümlich schwelende Antisemitismus hingegen war ihm fremd und zuwider. Anders als später den Faschisten und Nationalsozialisten sprach sich Pichler auch gegen jegliche Form des Imperialismus aus, sei es britischer, französischer oder deutscher. Alle Völker und Nationen sollten sich selbst verwalten, Kultur und Traditionen sollten geachtet werden.
Als der ehemals als „Radikaler“ angesehene Public Intellectual 1900 seine Augen für immer schloss, war aus ihm ein geachteter Bürger geworden. Seine politischen Ansichten waren dieselben geblieben, entsprachen mittlerweile aber dem Mainstream und wurden nicht mehr zensuriert, sondern ganz besonders im Innsbrucker Gemeinderat unter Wilhelm Greil hochgeschätzt. Die liberale Presse überschlug sich in Lobeshymnen und Wehklagen. Karl Habermann, Herausgeber des Scherer, verbrannte bei einem Fackelzug zu Ehren des hochverehrten Adolf Pichlers einen gegen seine Zeitung gerichteten offenen Brief des Fürstbischofs von Brixen, wofür er sich vor Gericht verantworten musste im Hirtenbriefproceß verantworten musste. In einer eigenen Heftnummer voll mit Gedichten und Artikel literarischer Weggefährten und Bewunderer konnte man im Scherer einen letzten, von Pichler selbst verfassten Abschied, in dem er seine Schreibfeder mit dem Schwerte König Arthurs verglich, lesen. In einem Nachruf ehrte man den „Alten“ mit den Worten:
„Tirol, das schwarze Pfaffenland, es ward durch Pichler zum neuen Flammenherde geistiger Empörung, von dem sich tausende von Volksgenossen in allen deutschen Gauen die Brandfackel holen, um auch in ihrem Heim die heilige Flamme zu entzünden.“
Auch in anderen einschlägigen Magazinen wie Odin – ein Kampfblatt für die alldeutsche Bewegung auf unbedingt völkischem Standpunkte und der Ostdeutschen Rundschau, dem „nationalen Kampfblatt der Deutschen in Österreich“ ließ man den Tiroler Heros hochleben. Schriftsteller wie Franz Kranewitter (1860 – 1938), Rudolf Greinz (1866 - 1942), Heinrich von Schullern (1865 – 1955) und Arthur von Wallpach (1866 – 1946) trugen die literarische Flamme Pichlers als Jung-Tirol weiter, zuerst im Scherer und später in Der Föhn. Sie alle einte die Erfahrung des Ausscheidens Österreichs aus dem Deutschen Bund, der Machtverlust der K.u.K. Monarchie sowie der Verlust der südlichen Landesteile des historischen Tirols. Ihre Form des teils antiklerikalen, teils kriegsverherrlichenden Liberalismus bei gleichzeitiger Lobpreisung der Heimatverbundenheit und des Tiroler Volksgeistes erfreuten sich sowohl nach dem ersten Weltkrieg wie auch während des Nationalsozialismus großer Beliebtheit. Stücke wie der Andreas Hofer Kranewitters und die Gedichtbände Wallpachs mit klingenden Namen wie Tiroler Blut oder Wir brechen durch den Tod! – Gedichte aus dem Felde ermöglichten es fast jeder politischen Richtung ihr Programm darin auf die eine oder andere Weise wiederzufinden. Bereits ein Jahr nach Adolf Pichlers Tod wurde ein Komitee ins Leben gerufen, um ihm ein Denkmal zu errichten. Den Vorstand übernahm Bürgermeister Greil, der seinen Spiritus Rector nur zu gerne im öffentlichen Raum platzieren ließ. Seit 1930 ist der Adolf-Pichler-Platz, auf dem die Bronzestatue steht, nach ihm benannt. Auch seinen nachfolgenden Jung-Tirolern Greinz, Schullern, Kranewitter und Renk wurden in Amras und Pradl Straßen gewidmet. Pichlers Wohnhaus in der Müllerstraße schmückt eine Erinnerungstafel mit Tiroler Adler, Lorbeerkranz und Eichellaub: „DEM DEUTSCHEN DICHTER ADOLF PICHLER – DAS LAND TIROL“.
Klingler, Huter, Retter & Co: Baumeister der Erweiterung
is heute prägen die Gebäude der späten Monarchie das Stadtbild Innsbrucks. Die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts gingen als Gründerzeit in die österreichische Geschichte ein. Nach einer Wirtschaftskrise 1873 begann sich die Stadt im Wiederaufschwung auszudehnen. Von 1880 bis 1900 wuchs Innsbrucks Bevölkerung von 20.000 auf 26.000 Einwohner an. Das 1904 eingemeindete Wilten verdreifachte sich von 4000 auf 12.000. Zwischen 1850 und 1900 wuchs die Anzahl an Gebäuden innerhalb der Stadt von 600 auf über 900 Gebäude an, die meisten davon waren anders als die frühneuzeitlichen, kleinen Objekte mehrstöckige Zinshäuser. Im Zuge technischer Innovationen veränderte sich auch die Infrastruktur. Gas, Wasser, Elektrizität wurden Teil des Alltags von immer mehr Menschen. Das alte Stadtspital wich dem neuen Krankenhaus. Im Saggen entstanden das Waisenhaus und das Greisenasyl Sieberers.
Die Gebäude, die in den jungen Stadtvierteln gebaut wurden, waren ein Spiegel dieser neuen Gesellschaft. Unternehmer, Freiberufler, Angestellte und Arbeiter mit politischem Stimmrecht entwickelten andere Bedürfnisse als Untertanen ohne dieses Recht. Ab den 1870er Jahren entstand in Innsbruck ein modernes Banksystem. Die Kreditinstitute wie die 1821 gegründete Sparkasse oder die Kreditanstalt, deren 1910 errichtetes Gebäude bis heute wie ein kleiner Palast in der Maria-Theresien-Straße thront, ermöglichten nicht nur die Aufnahme von Krediten, sondern traten auch selbst als Bauherren auf. Die Zinshäuser die entstanden, ermöglichten auch Nicht-Wohnungseigentümern ein modernes Leben. Anders als im ländlichen Bereich Tirols, wo Bauernfamilien samt Knechten und Mägden in Bauernhäusern im Verbund einer Sippschaft lebten, kam das Leben in der Stadt dem Familienleben, das wir heute kennen, nahe. Der Wohnraum musste dem entsprechen. Der Lifestyle der Städter verlangte nach Mehrzimmerwohnungen und freien Flächen zur Erholung nach der Arbeitszeit. Das wohlhabende Bürgertum bestehend aus Unternehmern und Freiberuflern hatte den Adel zwar noch nicht überholt, den Abstand aber verringert. Sie waren es, die nicht nur private Bauprojekte beauftragten, sondern über ihre Stellung im Gemeinderat auch über öffentliche Bauten entschieden.
Die 40 Jahre vor dem Ersten Weltkrieg waren für Baufirmen, Handwerker, Baumeister und Architekten eine Art Goldgräberzeit. Die Gebäude spiegelten die Weltanschauung ihrer Bauherren wider. Baumeister vereinten dabei mehrere Rollen und ersetzten oft den Architekten. Die meisten Kunden hatten sehr klare Vorstellungen, was sie wollten. Es sollten keine atemberaubenden Neukreationen sein, sondern Kopien und Anlehnungen an bestehende Gebäude. Ganz im Geist der Zeit entwarfen die Innsbrucker Baumeister nach dem Wunsch der finanziell potenten Auftraggeber die Gebäude in den Stilen des Historismus und des Klassizismus sowie des Tiroler Heimatstils. Die Wahl des Stils der beim Bau des Eigenheimes zur Anwendung kam, war oft nicht nur optisches, sondern auch ideologisches Statement des Bauherrn. Liberale bevorzugten meist den Klassizismus, Konservative waren dem Tiroler Heimatstil zugetan. Während der Heimatstil sich neobarock und mit vielen Malereien zeigte, waren klare Formen, Statuen und Säulen stilprägende Elemente bei der Anlage neuer Gebäude des Klassizismus. In einem teils wüsten Stilmix wurden die Vorstellungen, die Menschen vom klassischen Griechenland und dem antiken Rom hatten, verwirklicht. Nicht nur Bahnhöfe und öffentliche Gebäude, auch große Mietshäuser und ganze Straßenzüge, sogar Kirchen und Friedhöfe entstanden entlang der alten Flurwege in diesem Design. Das gehobene Bürgertum zeigte sein Faible für die Antike mit neoklassizistischen Fassaden. Katholische Traditionalisten ließen Heiligenbilder und Darstellungen der Landesgeschichte Tirols in Wandmalereien auf ihren Heimatstilhäusern anfertigen. Während im Saggen und Wilten der Neoklassizismus dominiert, finden sich in Pradl Großteils Gebäude im konservativen Heimatstil.
Viele Bauexperten rümpften lange Zeit die Nase über die Bauten der Emporkömmlinge und Neureichen. Heinrich Hammer schrieb in seinem Standardwerk „Kunstgeschichte der Stadt Innsbruck“:
„Schon diese erste rasche Erweiterung der Stadt fiel nun freilich in jene baukünstlerisch unfruchtbare Epoche, in der die Architektur, statt eine selbstständige, zeiteigene Bauweise auszudenken, der Reihe nach die Baustile der Vergangenheit wiederholte.“
Die Zeit der großen Villen, die die Adelsansitze vergangener Tage mit bürgerlicher Note nachahmten, kam mangels Platzgründen nach einigen wilden Jahrzehnten an ihr Ende. Eine weitere Bebauung des Stadtgebietes mit Einzelhäusern war nicht mehr möglich, zu eng war der Platz geworden. Der Bereich Falkstraße / Gänsbachstraße / Bienerstraße gilt bis heute als Villensaggen, die Gebiete östlich als Blocksaggen. In Wilten und Pradl kam es zu dieser Art der Bebauung gar nicht erst gar nicht. Trotzdem versiegelten Baumeister im Goldrausch immer mehr Boden. Albert Gruber hielt zu diesem Wachstum 1907 eine mahnende Rede, in der er vor Wildwuchs in der Stadtplanung und Bodenspekulation warnte.
„Es ist die schwierigste und verantwortungsvollste Aufgabe, welche unsere Stadtväter trifft. Bis zu den 80er Jahren (Anm.: 1880), sagen wir im Hinblick auf unsere Verhältnisse, ist noch ein gewisses langsames Tempo in der Stadterweiterung eingehalten worden. Seit den letzten 10 Jahren jedoch, kann man sagen, erweitern sich die Städtebilder ungeheuer rasch. Es werden alte Häuser niedergerissen und neue an ihrer Stelle gesetzt. Natürlich, wenn dieses Niederreißen und Aufbauen planlos, ohne jede Überlegung, nur zum Vorteil des einzelnen Individuums getrieben wird, dann entstehen zumeist Unglücke, sogenannte architektonische Verbrechen. Um solche planlose, der Allgemeinheit nicht zum Frommen und Nutzen gereichende Bauten zu verhüten, muß jede Stadt dafür sorgen, daß nicht der Einzelne machen kann, was er will: es muß die Stadt dem schrankenlosen Spekulantentum auf dem Gebiete der Stadterweiterung eine Grenze setzen. Hierher gehört vor allem die Bodenspekulation.“
Eine Handvoll Baumeister und das Bauamt Innsbruck begleiteten diese Entwicklung in Innsbruck. Bezeichnet man Wilhelm Greil als Bürgermeister der Erweiterung, verdient der gebürtige Wiener Eduard Klingler (1861 – 1916) wohl den Titel als deren Architekt. Klingler prägte das Stadtbild Innsbrucks in seiner Funktion als Beamter und Baumeister wesentlich mit. 1883 begann er für das Land Tirol zu arbeiten. 1889 trat er zum städtischen Bauamt über, das er ab 1902 leitete. In Innsbruck gehen unter anderem die Handelsakademie, die Leitgebschule, der Friedhof Pradl, die Dermatologische Klinik im Klinikareal, der Städtische Kindergarten in der Michael-Gaismair-Straße, die Trainkaserne (Anm.: heute ein Wohnhaus), die Markthalle und das Tiroler Landeskonservatorium auf Klinglers Konto als Leiter des Bauamtes. Ein sehenswertes Gebäude im Heimatstil nach seinem Entwurf ist das Ulrichhaus am Berg Isel, das heute den Alt-Kaiserjäger-Club beheimatet.
Das bedeutendste Innsbrucker Baubüro war Johann Huter & Söhne. Johann Huter übernahm die Ziegelei seines Vaters. 1856 erwarb er das erste Firmengelände, die Hutergründe, am Innrain. Drei Jahre später entstand in der Meranerstraße der erste repräsentative Hauptsitz. Die Firmeneintragung gemeinsam mit seinen Söhnen Josef und Peter stellte 1860 den offiziellen Startschuss des bis heute existierenden Unternehmens dar. Huter & Söhne verstand sich wie viele seiner Konkurrenten als kompletter Dienstleister. Eine eigene Ziegelei, eine Zementfabrik, eine Tischlerei und eine Schlosserei gehörten ebenso zum Unternehmen wie das Planungsbüro und die eigentliche Baufirma. 1906/07 errichteten die Huters ihren eigenen Firmensitz in der Kaiser-Josef-Straße 15 im typischen Stil der letzten Vorkriegsjahre. Das herrschaftliche Haus vereint den Tiroler Heimatstil umgeben von Garten und Natur mit neogotischen und neoromanischen Elementen. Bekannte von Huter & Söhne errichtete Gebäude in Innsbruck sind das Kloster der Ewigen Anbetung, die Pfarrkirche St. Nikolaus, das erste Gebäude der neuen Klinik und mehrere Gebäude am Claudiaplatz. Kurz vor Ausbruch des ersten Weltkriegs beschäftigte die Baufirma mehr als 700 Personen.
Der zweite große Player war Josef Retter (1872 – 1954). Der gebürtige Niederösterreicher mit Tiroler Wurzeln absolvierte eine Maurerlehre bevor er die k.k. Staatsgewerbeschule in Wien und die Werkmeisterschule der baugewerblichen Abteilung besuchte. Nach Berufserfahrungen über das Gebiet der Donaumonarchie verteilt in Wien, Kroatien und Bozen konnte er dank der Mitgift seiner Ehefrau im Alter von 29 Jahren seine eigene Baufirma mit Sitz in Innsbruck eröffnen. Wie Huter beinhaltete auch sein Unternehmen ein Sägewerk, ein Sand- und Schotterwerk und eine Werkstatt für Steinmetzarbeiten. 1904 eröffnete er in der Schöpfstraße 23a seine Wohn- und Bürogebäude, das bis heute als Retterhaus bekannt ist. Der neugotische, dunkle Bau mit dem markanten Erker mit Säulen und einem Türmchen wird von einem sehenswerten Mosaik, die eine Allegorie der Architektur darstellt, geschmückt. Das Giebelrelief zeigt die Verbindung von Kunst und Handwerk, einem Symbol für den Werdegang Retters. Sein Unternehmen prägte vor allem Wilten und den Saggen. Mit einem Neubau des Akademischen Gymnasiums, dem burgähnlichen Schulgebäude für die Handelsakademie, der Evangelischen Christuskirche im Saggen, dem Zelgerhaus in der Anichstraße, der Sonnenburg in Wilten und dem neugotischen Schloss Mentlberg am Sieglanger realisierte er viele der bedeutendsten Gebäude dieser Epoche in Innsbruck.
Spätberufen aber mit einem ähnlich praxisorientieren Hintergrund, der typisch für die Baumeister des 19. Jahrhunderts war, startete Anton Fritz 1888 sein Baubüro. Er wuchs abgelegen in Graun im Vinschgau auf. Nach Stationen als Polier, Stuckateur und Maurer beschloss er mit 36 Jahren die Gewerbeschule in Innsbruck zu besuchen. Talent und Glück bescherten ihm mit der Villa im Landhausstil in der Karmelitergasse 12 seinen Durchbruch als Planer. Seine Baufirma beschäftigte zur Blütezeit 150 Personen. 1912, kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs und dem damit einhergehenden Einbruch der Baubranche, übergab er sein Unternehmen an seinen Sohn Adalbert. Das eigene Wohnhaus in der Müllerstraße 4, das Haus Mader in der Glasmalereistraße sowie Häuser am Claudiaplatz und dem Sonnenburgplatz zählen zu den Hinterlassenschaften von Anton Fritz.
Mit Carl Kohnle, Carl Albert, Karl Lubomirski und Simon Tommasi hatte Innsbruck weitere Baumeister, die sich mit typischen Gebäuden des späten 19. Jahrhunderts im Stadtbild verewigten. Sie alle ließen Innsbrucks neue Straßenzüge im architektonisch vorherrschenden Zeitgeist der letzten 30 Jahre der Donaumonarchie erstrahlen. Wohnhäuser, Bahnhöfe, Amtsgebäude und Kirchen im Riesenreich zwischen der Ukraine und Tirol schauten sich flächendeckend ähnlich. Nur zögerlich kamen neue Strömungen wie der Jugendstil auf. In Innsbruck war es der Münchner Architekt Josef Bachmann, der mit der Neugestaltung der Fassade des Winklerhauses einen neuen Akzent in der bürgerlichen Gestaltung setzte. Mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges setzte die Bautätigkeit aus. Nach dem Krieg war die Zeit des neoklassizistischen Historismus und Heimatstils endgültig Geschichte. Die Zeiten waren karger und die Anforderungen an Wohnbau hatte sich geändert. Wichtiger als eine repräsentative Fassade und große, herrschaftliche Räume wurden in der Zeit der Wohnungsnot der kargen, jungen Republik Deutschösterreich leistbarer Wohnraum und moderne Ausstattung mit sanitären Anlagen. Auch die professionellere Ausbildung der Baumeister und Architekten an der k.k. Staatsgewerbeschule trug ihren Teil zu einem neuen Verständnis des Bauwesens bei als sie die oftmals autodidaktischen Veteranen der Goldgräberzeit des Klassizismus hatten. Spaziergänge im Saggen und in Teilen von Wilten und Pradl versetzen bis heute zurück in die Gründerzeit. Der Claudiaplatz und der Sonnenburgplatz zählen zu den eindrücklichsten Beispielen. Die Baufirma Huter und Söhne existiert bis heute. Das Unternehmen ist mittlerweile im Sieglanger in der Josef-Franz-Huter-Straße, benannt nach dem Firmengründer. Das Wohnhaus in der Kaiser-Josef-Straße trägt zwar nicht mehr den Schriftzug der Firma, ist aber in seiner Opulenz noch immer ein sehenswertes Relikt dieser Zeit, die Innsbrucks Äußeres für immer veränderte. Neben seinem Wohnhaus in der Schöpfstraße beherbergt Wilten ein zweites Gebäude der Familie Retter. Am Innrain gegenüber der Uni befindet sich die Villa Retter. Josef Retters älteste Tochter Maria Josefa, die selbst bei der Reformpädagogin Maria Montessori erzogen wurde, eröffnete 1932 das erst „Haus des Kindes“ Innsbrucks. Über dem Eingang zeigt ein Portrait den Mäzen Josef Retter, die Südfassade schmückt ein Mosaik im typischen Stil der 1930er Jahre, das auf den ursprünglichen Zweck des Gebäudes hinweist. Ein lächelndes, blondes Mädchen umarmt seine Mutter, die ein Buch in der Hand hat, und seinen Vater, der einen Hammer trägt. Auch die kleine Grabkapelle am Westfriedhof, die als Familiengrabstätte der Retters fungiert, ist eine sehenswerte Hinterlassenschaft dieser für Innsbruck bedeutenden Familie.
Wilhelm Greil: DER Bürgermeister Innsbrucks
Einer der wichtigsten Akteure der Stadtgeschichte war Wilhelm Greil (1850 – 1923). Von 1896 bis 1923 bekleidete der Unternehmer das Amt des Bürgermeisters, nachdem er vorher bereits als Vizebürgermeister die Geschicke der Stadt mitgestaltet hatte. Es war die Zeit des Wachstums, der Eingemeindung ganzer Stadtviertel, technischer Innovationen und neuer Medien. Die vier Jahrzehnte zwischen der Wirtschaftskrise 1873 und dem Ersten Weltkrieg von einem nie dagewesenen Wirtschaftswachstum und einer rasenden Modernisierung gekennzeichnet. Private Investitionen in Infrastruktur wie Eisenbahn, Energie und Strom waren vom Staat gewünscht und wurden steuerlich begünstigt, um die Länder und Städte der kränkelnden Donaumonarchie in die Moderne zu führen. Die Wirtschaft der Stadt boomte. Betriebe in den neuen Stadtteilen Pradl und Wilten entstanden und lockten Arbeitskräfte an. Auch der Tourismus brachte frisches Kapital in die Stadt. Die Ansammlung an Menschen auf engstem Raum unter teils prekären Hygieneverhältnissen brachte gleichzeitig aber auch Probleme mit sich. Besonders die Randbezirke der Stadt und die umliegenden Dörfer wurden regelmäßig von Typhus heimgesucht.
Die Innsbrucker Stadtpolitik, in der Greil sich bewegte, war vom Kampf liberaler und konservativer Kräfte geprägt. Greil gehörte der "Deutschen Volkspartei" an, einer liberalen und national-großdeutschen Partei. Was heute als Widerspruch erscheint, liberal und national, war im 19. Jahrhundert ein politisch übliches und gut funktionierendes Gedankenpaar. Der Pangermanismus war keine politische Besonderheit einer rechtsradikalen Minderheit, sondern besonders in deutschsprachigen Städten des Reiches eine Strömung der Mitte, die bis nach dem Zweiten Weltkrieg durch fast alle Parteien hindurch in unterschiedlicher Ausprägung Bedeutung hatte. Innsbrucker, die auf sich hielten, bezeichneten sich nicht als Österreicher, sondern als Deutsche. Wer Ausgaben der liberalen Innsbrucker Nachrichten der Zeit rund um die Jahrhundertwende unter die Lupe nimmt, findet unzählige Artikel, in denen das Gemeinsame zwischen dem Deutschen Reich und den deutschsprachigen Ländern zum Thema des Tages gemacht wurde, während man sich von anderen Volksgruppen innerhalb des multinationalen Habsburgerreiches distanzierte. Greil war ein geschickter Politiker, der sich innerhalb der vorgegebenen Machtstrukturen seiner Zeit bewegte. Er wusste sich um die traditionellen Kräfte, die Monarchie und den Klerus geschickt zu manövrieren und sich mit ihnen zu arrangieren.
Steuern, Gesellschaftspolitik, Bildungswesen, Wohnbau und die Gestaltung des öffentlichen Raumes wurden mit Leidenschaft und Eifer diskutiert. Bedingt durch eine Wahlordnung, die auf das Stimmrecht über Vermögensklassen aufgebaut war, konnten nur etwa 10% der gesamten Innsbrucker Bevölkerung zur Wahlurne schreiten. Frauen waren prinzipiell ausgeschlossen. Dabei galt das relative Wahlrecht innerhalb der drei Wahlkörper, was so viel heißt wie: The winner takes it all. Greil wohne passenderweise ähnlich wie ein Renaissancefürst. Er entstammte der großbürgerlichen Upper Class. Sein Vater konnte es sich leisten, im Palais Lodron in der Maria-Theresienstraße die Homebase der Familie zu gründen. Massenparteien wie die Sozialdemokratie konnten sich bis zur Wahlrechtsreform der Ersten Republik nicht durchsetzen. Konservative hatten es in Innsbruck auf Grund der Bevölkerungszusammensetzung, besonders bis zur Eingemeindung von Wilten und Pradl, ebenfalls schwer. Bürgermeister Greil konnte auf 100% Rückhalt im Gemeinderat bauen, was die Entscheidungsfindung und Lenkung natürlich erheblich vereinfachte. Bei aller Effizienz, die Innsbrucker Bürgermeister bei oberflächlicher Betrachtung an den Tag legten, sollte man nicht vergessen, dass das nur möglich war, weil sie als Teil einer Elite aus Unternehmern, Handelstreibenden und Freiberuflern ohne nennenswerte Opposition und Rücksichtnahme auf andere Bevölkerungsgruppen wie Arbeitern, Handwerkern und Angestellten in einer Art gewählten Diktatur durchregierten. Das Reichsgemeindegesetz von 1862 verlieh Städten wie Innsbruck und damit den Bürgermeistern größere Befugnisse. Es verwundert kaum, dass die Amtskette, die Greil zu seinem 60. Geburtstag von seinen Kollegen im Gemeinderat verliehen bekam, den Ordensketten des alten Adels erstaunlich ähnelte.
Unter Greils Ägide und dem allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung, angeheizt von privaten Investitionen, erweiterte sich Innsbruck im Eiltempo. Der Gemeinderat kaufte ganz im Stil eines Kaufmanns vorausschauend Grund an, um der Stadt Neuerungen zu ermöglichen. Der Politiker Greil konnte sich bei den großen Bauprojekten der Zeit auf die Beamten und Stadtplaner Eduard Klingler, Jakob Albert und Theodor Prachensky stützen. Infrastrukturprojekte wie das neue Rathaus in der Maria-Theresienstraße 1897, die Eröffnung der Mittelgebirgsbahn, die Hungerburgbahn und die Karwendelbahn wurden während seiner Regierungszeit umgesetzt. Weitere gut sichtbare Meilensteine waren die Erneuerung des Marktplatzes und der Bau der Markthalle. Neben den prestigeträchtigen Großprojekten entstanden in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts aber viele unauffällige Revolutionen. Vieles, was in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorangetrieben wurde, gehört heute zum Alltag. Für die Menschen dieser Zeit waren diese Dinge aber eine echte Sensation und lebensverändernd. Bereits Greils Vorgänger Bürgermeister Heinrich Falk (1840 – 1917) hatte erheblich zur Modernisierung der Stadt und zur Besiedelung des Saggen beigetragen. Seit 1859 war die Beleuchtung der Stadt mit Gasrohrleitungen stetig vorangeschritten. Mit dem Wachstum der Stadt und der Modernisierung wurden die Senkgruben, die in Hinterhöfen der Häuser als Abort dienten und nach Entleerung an umliegende Landwirte als Dünger verkauft wurden, zu einer Unzumutbarkeit für immer mehr Menschen. 1880 wurde das Raggeln, so der Name im Volksmund für die Entleerung der Aborte, in den Verantwortungsbereich der Stadt übertragen. Zwei pneumatische Maschinen sollten den Vorgang zumindest etwas hygienischer gestalten. Zwischen 1887 und 1891 wurde Innsbruck mit einer modernen Hochdruckwasserleitung ausgestattet, über die auch Wohnungen in höher gelegenen Stockwerken mit frischem Wasser versorgt werden konnten. Wer auf sich hielt und es sich leisten konnte, hatte damit erstmals die Gelegenheit eine Spültoilette im Eigenheim zu installieren.
Greil setzte diesen Feldzug der Modernisierung fort. Nach jahrzehntelangen Diskussionen wurde 1903 mit dem Bau einer modernen Schwemmkanalisation begonnen. Ausgehend von der Innenstadt wurden immer mehr Stadtteile an diesen heute alltäglichen Luxus angeschlossen. 1908 waren nur die Koatlackler Mariahilf und St. Nikolaus nicht an das Kanalsystem angeschlossen. Auch der neue Schlachthof im Saggen erhöhte Hygiene und Sauberkeit in der Stadt. Schlecht kontrollierte Hofschlachtungen gehörten mit wenigen Ausnahmen der Vergangenheit an. Das Vieh kam im Zug am Sillspitz an und wurde in der modernen Anlage fachgerecht geschlachtet. Greil überführte auch das Gaswerk in Pradl und das Elektrizitätswerk in Mühlau in städtischen Besitz. Die Straßenbeleuchtung wurde im 20. Jahrhundert von den Gaslaternen auf elektrisches Licht umgestellt. 1888 übersiedelte das Krankenhaus von der Maria-Theresienstraße an seinen heutigen Standort. Bürgermeister und Gemeinderat konnten sich bei dieser Innsbrucker Renaissance neben der wachsenden Wirtschaftskraft in der Vorkriegszeit auch auf Mäzen aus dem Bürgertum stützen. Waren technische Neuerungen und Infrastruktur Sache der Liberalen, verblieb die Fürsorge der Ärmsten weiterhin bei klerikal gesinnten Kräften, wenn auch nicht mehr bei der Kirche selbst. Freiherr Johann von Sieberer stiftete das Greisenasyl und das Waisenhaus im Saggen. Leonhard Lang stiftete das Gebäude in der Maria-Theresienstraße, in der sich bis heute das Rathaus befindet gegen das Versprechen der Stadt ein Lehrlingsheim zu bauen.
Im Gegensatz zur boomenden Vorkriegsära war die Zeit nach 1914 vom Krisenmanagement geprägt. In seinen letzten Amtsjahren begleitete Greil Innsbruck am Übergang von der Habsburgermonarchie zur Republik durch Jahre, die vor allem durch Hunger, Elend, Mittelknappheit und Unsicherheit geprägt waren. Er war 68 Jahre alt, als italienische Truppen nach dem Ersten Weltkrieg die Stadt besetzten und Tirol am Brenner geteilt wurde. Das Ende der Monarchie und des Zensuswahlrechts bedeuteten auch den Niedergang der Liberalen in Innsbruck, auch wenn Greil das in seiner aktiven Karriere nur teilweise miterlebte. 1919 konnten die Sozialdemokraten in Innsbruck zwar zum ersten Mal den Wahlsieg davontragen, dank der Mehrheiten im Gemeinderat blieb Greil aber Bürgermeister. 1928 verstarb er als Ehrenbürger der Stadt Innsbruck im Alter von 78 Jahren. Die Wilhelm-Greil-Straße war noch zu seinen Lebzeiten nach ihm benannt worden.
Der Erste Weltkrieg
Beinahe hätte nicht Gavrilo Princip, sondern ein Innsbrucker Student die Geschicke der Welt verändert. Es ist dem Zufall zu verdanken, dass der 20 Jahre alte Serbe im Jahr 1913 gestoppt wurde, weil er mit dem geplanten Attentat auf den Thronfolger vor einer Kellnerin prahlte. Erst als es tatsächlich zu den die Welt verändernden Schüssen in Sarajevo kam, erschien ein Artikel in den Medien dazu. Welche Auswirkungen der daraufhin ausgebrochene Erste Weltkrieg auf die Welt und den Alltag der Menschen haben sollte, war nach dem tatsächlichen Attentat auf Franz Ferdinand am 28. Juni nicht absehbar. Zwei Tage nach der Ermordung des Habsburgers in Sarajewo war aber in den Innsbrucker Nachrichten bereits prophetisches zu lesen: „Wir sind an einem Wendepunkte – vielleicht an dem Wendepunkte“ – der Geschicke dieses Reiches angelangt“.
Auch in Innsbruck war die Begeisterung für den Krieg 1914 groß gewesen. Vom „Gott, Kaiser und Vaterland“ der Zeit angetrieben, begrüßten die Menschen den Angriff auf Serbien zum allergrößten Teil einhellig. Politiker, Klerus und Presse stimmten in den allgemeinen Jubel mit ein. Neben dem kaiserlichen Appell „An meine Völker“, der in allen Medien des Reiches erschien, druckten die Innsbrucker Nachrichten am 29. Juli, dem Tag nach der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien einen Artikel rund um die Einnahme Belgrads durch Prinz Eugen im Jahr 1717. Der Ton in den Medien war feierlich, wenn auch nicht ganz ohne böse Vorahnung auf das, was kommen sollte.
„Der Appell des Kaisers an seine Völker wird tief ergreifen. Der innere Hader ist verstummt und die Spekulationen unserer Feinde aus Unruhen und ähnliche Dinge sind jämmerlich zu Schanden geworden. In alter und vielbewährter Treue stehen vor allem auch diesmal die Deutschen zu Kaiser und Reich: auch diesmal bereit, mit ihrem Blute für Dynastie und Vaterland einzustehen. Wir gehen schweren Tagen entgegen; niemand kann auch nur ahnen, was uns das Schicksal bescheiden wird, was es Europa, was es der Welt bescheiden wird. Wir können nur mit unserem alten Kaiser auf unsere Kraft und auf Gott vertrauen und die Zuversicht hegen, daß, wenn wir einig find und zusammenhalten, uns der Sieg beschieden sein muß, denn wir wollten den Krieg nicht und unsere Sache ist die der Gerechtigkeit!“
Besonders „verdient“ machten sich bei der Kriegstreiberei Theologen wie Joseph Seeber (1856 – 1919) und Anton Müllner alias Bruder Willram (1870 – 1919) die mit ihren Predigten und Schriften wie „Das blutige Jahr“ den Krieg zu einem Kreuzzug gegen Frankreich und Italien erhoben.
Viele Innsbrucker meldeten sich freiwillig für den Feldzug gegen Serbien, von dem man dachte, er wäre eine Angelegenheit weniger Wochen oder Monate. Von außerhalb der Stadt kam eine so große Anzahl an Freiwilligen zu den Stellungskommissionen, dass Innsbruck beinahe aus allen Nähten platzte. Wie anders es kommen sollte, konnte keiner ahnen. Schon nach den ersten Schlachten im fernen Galizien war klar, dass es keine Sache von Monaten werden würde. Kaiserjäger und andere Tiroler Truppen wurden regelrecht verheizt. Schlechte Ausrüstung, mangelnder Nachschub und die katastrophale des Oberkommandos unter Konrad von Hötzendorf brachten Tausenden den Tod oder in Kriegsgefangenschaft, wo Hunger, Misshandlung und Zwangsarbeit warteten.
1915 trat das Königreich Italien an der Seite Frankreichs und Englands in den Krieg ein. Damit ging die Front quer durch das damalige Tirol. Vom Ortler im Westen über den nördlichen Gardasee bis zu den Sextener Dolomiten fanden die Gefechte des Gebirgskriegs statt. Innsbruck war nicht direkt von den Kampfhandlungen betroffen. Zumindest hören konnte man das Kriegsgeschehen aber bis in die Landeshauptstadt, wie in der Zeitung vom 7. Juli 1915 zu lesen war:
„Bald nach Beginn der Feindseligkeiten der Italiener konnte man in der Gegend der Serlesspitze deutlich Kanonendonner wahrnehmen, der von einem der Kampfplätze im Süden Tirols kam, wahrscheinlich von der Vielgereuter Hochebene. In den letzten Tagen ist nun in Innsbruck selbst und im Nordosten der Stadt unzweifelhaft der Schall von Geschützdonner festgestellt worden, einzelne starke Schläge, die dumpf, nicht rollend und tönend über den Brenner herüberklangen. Eine Täuschung ist ausgeschlossen. In Innsbruck selbst ist der Donner der Kanonen schwerer festzustellen, weil hier der Lärm zu groß ist, es wurde aber doch einmal abends ungefähr um 9 Uhr, als einigermaßen Ruhe herrschte, dieser unzweifelhafte von unseren Mörsern herrührender Donner gehört.“
Bis zur Verlegung regulärer Truppen von der Ostfront an die Tiroler Landesgrenzen hing die Landesverteidigung an den Standschützen, einer Truppe, die aus Männern unter 21, über 42 oder mit Untauglichkeit für den regulären Militärdienst bestand. Die Opferzahlen waren dementsprechend hoch.
Die Front war zwar relativ weit von Innsbruck entfernt, der Krieg drang aber auch ins zivile Leben ein. Durch die Massenmobilmachung eines großen Teils der arbeitenden männlichen Bevölkerung kamen viele Betriebe zum vollkommenen Stillstand. Regale in Geschäften blieben leer, der öffentliche Verkehr kam zum Erliegen, Handwerker und Arbeiter fehlten an allen Ecken und Enden. Oft fehlten Kohle und Brennholz. Hunger und Kälte wurden in der Stadt zu erbitterten Feinden von Frauen, Kindern, Verwundeten und nicht Kriegstauglichen. Diese Erfahrung der totalen Einbeziehung der gesamten Gesellschaft war für die Menschen neu. In der Höttinger Au wurden Baracken zur Unterbringung von Kriegsgefangenen errichtet. Verwundetentransporte brachten eine so große Zahl grauenhaft Verletzter, dass viele eigentlich zivile Gebäude wie die sich gerade im Bau befindliche Universitätsbibliothek oder Schloss Ambras in Militärspitäler umfunktioniert wurden. Um der großen Zahl an Gefallenen Herr zu werden, wurde der Militärfriedhof Pradl angelegt. Ein Vorgänger der Straßenbahnlinie 3 wurde eingerichtet, um die Verwundeten vom Bahnhof ins neue Garnisonsspital, die heutige Conradkaserne in Pradl, bringen zu können. Die Unternehmen, die noch produzieren konnten, wurden der Kriegswirtshaft untergeordnet. Je länger der Krieg aber dauerte, desto weniger waren es. Im Winter 1917 war die Innsbrucker Wirtschaft beinahe gänzlich zusammengebrochen.
Mit dem Kriegsende rückte auch die Front näher. Im Februar 1918 schaffte es die italienische Luftwaffe, drei Bomben auf Innsbruck abzuwerfen. In diesem Winter, der als Hungerwinter in die europäische Geschichte einging, machte sich auch der Mangel bemerkbar. Die Versorgung erfolgte in den letzten Kriegsjahren über Bezugsscheine. 500 g Fleisch, 60 g Butter und 2 kg Kartoffel waren die Basiskost pro Person – pro Woche, wohlgemerkt. Auf Archivbildern kann man die langen Schlangen verzweifelter und hungriger Menschen vor den Lebensmittelläden sehen. Immer wieder kam es zu Protesten und Streiks. Politiker, Gewerkschafter, Arbeiter und Kriegsheimkehrer sahen ihre Chance auf Umbruch gekommen. Unter dem Motto Friede, Brot und Wahlrecht vereinten sich unterschiedlichste Parteien im Widerstand gegen den Krieg. Zu dieser Zeit war den meisten Menschen schon klar, dass der Krieg verloren war, und welches Schicksal Tirol erwarten würde, wie dieser Artikel vom 6. Oktober 1918 zeigt:
„Aeußere und innere Feinde würfeln heute um das Land Andreas Hofers. Der letzte Wurf ist noch grausamer; schändlicher ist noch nie ein freies Land geschachert worden. Das Blut unserer Väter, Söhne und Brüder ist umsonst geflossen, wenn dieser schändliche Plan Wirklichkeit werden soll. Der letzte Wurf ist noch nicht getan. Darum auf Tiroler, zum Tiroler Volkstag in Brixen am 13. Oktober 1918 (nächsten Sonntag). Deutscher Boden muß deutsch bleiben, Tiroler Boden muß tirolisch bleiben. Tiroler entscheidet selbst über Eure Zukunft!“
Am 4. November vereinbarten Österreich-Ungarn und das Königreich Italien schließlich einen Waffenstillstand. Damit verbunden war das Recht der Alliierten Gebiete der Monarchie zu besetzen. Bereits am nächsten Tag rückten bayerische Truppen in Innsbruck ein. Der österreichische Verbündete Deutschland befand sich noch im Krieg mit Italien und hatte Angst, die Front könnte nach Nordtirol näher an das Deutsche Reich verlegt werden. Zum großen Glück für Innsbruck und die Umgebung kapitulierte aber auch Deutschland eine Woche später am 11. November. So blieben die großen Kampfhandlungen zwischen regulären Armeen außen vor.
Trotzdem war Innsbruck in Gefahr. Gewaltige Kolonnen an militärischen Kraftfahrzeugen, Züge voller Soldaten und tausende ausgezehrte Soldaten, die sich zu Fuß auf den Heimweg von der Front machten, passierten die Stadt. Wer konnte, sprang auf einen der überfüllten Züge oder auf ein Auto, um den Brenner hinter sich zu lassen, um nach Hause zu kommen. Im November 1918 kamen mehr als 270 Soldaten bei diesen waghalsigen Manövern ums Leben oder mussten in eines der Lazarette der Stadt eingeliefert werden. Die Stadt musste nicht nur die eigenen Bürger in Zaum halten, die Verpflegung garantieren, sondern sich auch vor Plünderungen schützen. Um die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten, bildete der Tiroler Nationalrat am 5. November eine Volkswehr aus Schülern, Studenten, Arbeitern und Bürgern. Am 23. November 1918 besetzten italienische Truppen die Stadt und das Umland. Der beschwichtigende Aufruf an die Innsbrucker von Bürgermeister Greil, die Stadt ohne Aufruhr zu übergeben, hatte Erfolg. 5000 Mann mussten Unterschlupf in der ausgehungerten und elenden Stadt finden. Schulen wurden zu Kasernen. Es kam zwar zu vereinzelten Ausschreitungen, Hungerkrawallen und Plünderungen, bewaffnete Auseinandersetzungen mit den Besatzungstruppen oder gar eine bolschewistische Revolution wie in München gab es aber nicht.
Über 1200 Innsbrucker verloren auf den Schlachtfeldern und in Lazaretten ihr Leben, über 600 wurden verwundet. Erinnerungsorte an den Ersten Weltkrieg und seine Opfer finden sich in Innsbruck vor allem an Kirchen und Friedhöfen. Das Kaiserjägermuseum am Berg Isel zeigt Uniformen, Waffen und Bilder des Schlachtgeschehens. Den beiden Theologen Anton Müllner und Josef Seeber sind in Innsbruck Straßennamen gewidmet. Auch nach dem Oberbefehlshaber der k.u.k Armee an der Südfront, Erzherzog Eugen, wurde eine Straße benannt. Vor dem Hofgarten befindet sich ein Denkmal für den erfolglosen Feldherren. An die italienische Besatzung erinnert der östliche Teil des Amraser Militärfriedhofs.
Auferstanden aus Ruinen
Nach Kriegsende kontrollierten US-Truppen für zwei Monate Tirol. Anschließend übernahm die Siegermacht Frankreich die Verwaltung. Den Tirolern blieb die sowjetische Besatzung, die über Ostösterreich hereinbrach, erspart. Besonders in den ersten drei Nachkriegsjahren war der Hunger der größte Feind der Menschen. Der Mai 1945 brachte nicht nur das Kriegsende, sondern auch Schnee. Der Winter 1946/47 ging als besonders kalt und lang in die Tiroler Klimageschichte ein, der Sommer als besonders heiß und trocken. Es kam zu Ernteausfällen von bis zu 50%. Die Versorgungslage war vor allem in der Stadt in der unmittelbaren Nachkriegszeit katastrophal. Die tägliche Nahrungsmittelbeschaffung wurde zur lebensgefährlichen Sorge im Alltag der Innsbrucker. Neben den eigenen Bürgern mussten auch tausende von Displaced Persons, freigekommenen Zwangsarbeitern und Besatzungssoldaten ernährt werden. Um diese Aufgabe zu bewältigen, war die Tiroler Landesregierung auf die Hilfe von außerhalb angewiesen. Der Vorsitzende der UNRRA (Anm.: United Nations Relief and Rehabilitation Administration), die Kriegsgebiete mit dem Nötigsten versorgte, Fiorello La Guardia zählte Österreich „zu jenen Völkern der Welt, die dem Hungertod am nächsten sind.“ Milch, Brot, Eier, Zucker, Mehl, Fett – von allem war zu wenig da. Die französische Besatzung konnte den Bedarf an benötigten Kilokalorien pro Kopf nicht abdecken, fehlte es doch der eigenen Bevölkerung und den Einsatzkräften oft an der Versorgung. Bis 1946 entnahmen sie der Tiroler Wirtschaft sogar Güter.
Die Lebensmittelversorgung erfolgte schon wenige Wochen nach Kriegsende über Lebensmittelkarten. Erwachsene mussten eine Bestätigung des Arbeitsamtes vorlegen, um an diese Karten zu kommen. Die Rationen unterschieden sich je nach Kategorie der Arbeiter. Schwerstarbeiter, Schwangere und stillende Mütter erhielten Lebensmittel im „Wert“ von 2700 Kalorien. Handwerker mit leichten Berufen, Beamte und Freiberufler erhielten 1850 Kilokalorien, Angestellte 1450 Kalorien. Hausfrauen und andere „Normalverbraucher“ konnten nur 1200 Kalorien beziehen. Zusätzlich gab es Initiativen wie Volksküchen oder Ausspeisungen für Schulkinder, die von ausländischen Hilfsorganisationen übernommen wurden. Aus Amerika kamen Carepakete von der Wohlfahrtsorganisation Cooperative for American Remittances to Europe. Viele Kinder wurden im Sommer zu Pflegehaushalten in die Schweiz verschickt, um wieder zu Kräften zu kommen und ein paar zusätzliche Kilo auf die Rippen zu bekommen.
Für alle reichten all diese Maßnahmen allerdings nicht aus. Vor allem Hausfrauen und andere „Normalverbraucher“ litten unter den geringen Zuteilungen. Viele Innsbrucker machten sich trotz der Gefahr, festgenommen zu werden, auf den Weg in die umliegenden Dörfer, um zu hamstern. Wer Geld hatte, bezahlte teils utopische Preise bei den Bauern. Wer keins hatte, musste um Nahrungsmittel betteln. Frauen, deren Männer gefallen, in Gefangenschaft oder vermisst waren, sahen in Extremfällen keinen anderen Ausweg, als sich zu prostituieren. Diese Frauen, besonders die unglücklichen, die schwanger wurden, mussten über sich und ihren Nachwuchs übelste Beschimpfungen ergehen lassen. Vom legalen Schwangerschaftsabbruch war man in Österreich noch 30 Jahre entfernt.
Die Politik stand dem zu einem großen Teil machtlos gegenüber. Alle Interessen zu befrieden, war schon in normalen Zeiten unmöglich. Viele Entscheidung zwischen dem Parlament in Wien, dem Tiroler Landtag und dem Innsbrucker Rathaus waren für die Menschen nicht nachvollziehbar. Während Kinder auf Obst und Vitamine verzichten mussten, wurde von manchen Bauern legal gewinnbringender Schnaps gebrannt. Amtsgebäude und Gewerbebetriebe bekamen vom Elektrizitätswerk Innsbruck freie Hand, während den Privathaushalten ab Oktober 1945 der Zugang zum Strom an mehreren Tagzeiten eingeschränkt wurde. Selbige Benachteiligung der Haushalte gegenüber der Wirtschaft galt für die Versorgung mit Kohle. Die alten Gräben zwischen Stadt und Land wurden größer und hasserfüllter. Innsbrucker warfen der Umlandbevölkerung vor, bewusst Lebensmittel für den Schwarzmarkt zurückzuhalten. Es kam zu Überfällen, Diebstählen und Holzschlägerungen. Transporte am Bahnhof wurden von bewaffneten Einheiten bewacht. Sich Lebensmittel aus einem Lager anzueignen war illegal und Alltag zu gleich. Kinder und Jugendliche streunten hungrig durch die Stadt und nahmen jede Gelegenheit sich etwas zu Essen oder Brennmaterial zu besorgen wahr. Der erste Tiroler Landeshauptmann Gruber, während des Krieges selbst illegal im Widerstand, hatte zwar Verständnis für die Situation der Menschen, die sich gegen das System auflehnten, konnte aber nichts daran ändern. Auch dem Innsbrucker Bürgermeister Anton Melzer waren die Hände gebunden. Es war nicht nur schwierig, die Bedürfnisse aller Interessensgruppen unter einen Hut zu bringen, immer wieder kam es unter der Beamtenschaft zu Fällen von Korruption und Gefälligkeiten gegenüber Verwandten und Bekannten. Grubers Nachfolger am Landeshauptmannsessel Alfons Weißgatterer musste gleich mehrere kleine Aufstände überstehen, als sich der Volkszorn Luft machte und Steine Richtung Landhaus flogen Die Antwort der Landesregierung erfolgte über die Tiroler Tageszeitung. Das Blatt war 1945 unter der Verwaltung der US-Streitkräfte zur Demokratisierung und Entnazifizierung gegründet worden, ging aber bereits im Folgejahr an die Schlüssel GmbH unter Leitung des ÖVP Politikers Joseph Moser. Dank der hohen Auflage und ihrem fast unmittelbaren Einfluss auf den Inhalt konnte die Tiroler Landesregierung die öffentliche Stimmung lenken:
„Sind etwa die zerbrochenen Fensterscheiben, die gestern vom Landhaus auf die Straße klirrten, geeignete Argumente, um unseren Willen zum Wiederaufbau zu beweisen? Sollten wir uns nicht daran erinnern, dass noch niemals in irgendeinem Lande wirtschaftliche Schwierigkeiten durch Demonstrationen und Kundgebungen beseitigt worden sind?“
Mindestens gleich schlecht war die Wohnsituation. Geschätzte 30.000 Innsbrucker waren obdachlos, lebten auf engstem Raum bei Verwandten oder in Barackensiedlungen wie dem ehemaligen Arbeitslager in der Reichenau, in der vom Volksmund „Ausländerlager“ genannten Barackensiedlung für Vertriebene aus den ehemals deutschen Gebieten Europas oder der Bocksiedlung. Weniges erinnert noch an den desaströsen Zustand, in dem sich Innsbruck nach den Luftangriffen der letzten Kriegsjahre in den ersten Nachkriegsjahren befand. Zehntausende Bürger halfen mit, Schutt und Trümmer von den Straßen zu schaffen. Die Maria-Theresien-Straße, die Museumstraße, das Bahnhofsviertel, Wilten oder die Pradlerstraße wären wohl um einiges ansehnlicher, hätte man nicht die Löcher im Straßenbild schnell stopfen müssen, um so schnell als möglich Wohnraum für die vielen Obdachlosen und Rückkehrer zu schaffen. Ästhetik aber war ein Luxus, den man sich in dieser Situation nicht leisten konnte. Die ausgezehrte Bevölkerung benötigte neuen Wohnraum, um den gesundheitsschädlichen Lebensbedingungen, in denen Großfamilien teils in Einraumwohnungen einquartiert waren, zu entfliehen.
„Die Notlage gefährdet die Behaglichkeit des Heims. Sie zehrt an den Wurzeln der Lebensfreude. Niemand leidet mehr darunter als die Frau, deren Glück es bildet, einen zufriedenen, trauten Familienkreis, um sich zu sehen. Welche Anspannung der seelischen Kraft erfordern der täglich zermürbende Kampf um ein bisschen Einkauf, die Mühsal des Schlangestehens, die Enttäuschungen der Absagen und Abweisungen und der Blick in den unmutigen Gesichtern der von Entbehrungen gepeinigten Lieben.“
Was in der Tiroler Tageszeitung zu lesen stand, war nur ein Teil der harten Alltagsrealität. Wie schon nach dem Ersten Weltkrieg, als die Spanische Grippe viele Opfer forderte, kam es auch 1945 zu einem Anstieg gefährlicher Infektionen. Impfstoffe gegen Tuberkulose konnten im ersten Winter nicht geliefert werden. Auch Krankenhausbetten waren Mangelware. Auch wenn sich die Situation nach 1947 entspannte, blieben die Lebensumstände in Tirol prekär. Bis es zu merklichen Verbesserungen kam, dauerte es Jahre. Die Lebensmittelrationierungen wurde am 1. Juli 1953 eingestellt. Im selben Jahr konnte Bürgermeister Greiter verkünden, dass alle während der Luftangriffe zerstörten Gebäude wieder in Stand gesetzt worden waren.
Zu verdanken war dies auch den Besatzern. Die französischen Truppen unter Emile Bethouart verhielten sich sehr milde und kooperativ gegenüber dem ehemaligen Feind und begegneten der Tiroler Kultur und Bevölkerung freundlich und aufgeschlossen. Stand man der Besatzungsmacht anfangs feindlich gesinnt gegenüber - schon wieder war ein Krieg verloren gegangen - wich die Skepsis der Innsbrucker mit der Zeit. Die Soldaten waren vor allem bei den Kindern beliebt wegen der Schokoladen und Süßigkeiten, die sie verteilten. Viele Menschen erhielten innerhalb der französischen Verwaltung Arbeit. Manch ein Tiroler sah dank der Uniformierten der 4. Marokkanischen Gebirgsdivision, die bis September 1945 den Großteil der Soldaten stellten, zum ersten Mal dunkelhäutige Menschen. Die Besatzer stellten, soweit dies in ihren Möglichkeiten lag, auch die Versorgung sicher. Zeitzeugen erinnern sich mit Grauen an die Konservendosen, die sie als Hauptnahrungsmittel erhielten. Um die Logistik zu erleichtern legten die Franzosen bereits 1946 den Grundstein für den neuen Flughafen auf der Ulfiswiese in der Höttinger Au, der den 20 Jahre zuvor eröffneten in der Reichenau nach zwei Jahren Bauzeit ersetzte. Das Franzosendenkmal am Landhausplatz erinnert an die französische Besatzungszeit. Am Emile-Bethouart-Steg, der St. Nikolaus und die Innenstadt über den Inn verbindet, befindet sich eine Gedenktafel, die die Beziehung zwischen Besatzung und Bevölkerung gut zum Ausdruck bringt:
„Als Sieger gekommen.
Als Beschützer geblieben.
Als Freund in die Heimat zurückgekehrt.“
Neben den materiellen Nöten bestimmte das kollektive Kriegstrauma die Gesellschaft. Die Erwachsenen der 1950er Jahre waren Produkte der Erziehung der Zwischenkriegszeit und des Nationalsozialismus. Männer, die an der Front gekämpft hatten, konnten als Kriegsverlierer nur in bestimmten Kreisen von ihren grauenhaften Erlebnissen sprechen, Frauen hatten meist gar kein Forum zur Verarbeitung ihrer Ängste und Sorgen. Häusliche Gewalt und Alkoholismus waren weit verbreitet. Lehrer, Polizisten, Politiker und Beamte kamen vielfach aus der nationalsozialistischen Anhängerschaft, die nicht einfach mit dem Ende des Krieges verschwand, sondern lediglich öffentlich totgeschwiegen wurde. Am Innsbrucker Volksgerichtshof kam es unter der Regie der Siegermächte zwar zu einer großen Anzahl an Verfahren gegen Nationalsozialisten, die Anzahl an Verurteilungen spiegelte aber nicht das Ausmaß des Geschehens wider. Der größte Teil der Beschuldigten kam frei. Besonders belastete Vertreter des Systems kamen für einige Zeit ins Gefängnis, konnten aber nach Verbüßung der Haft relativ unbehelligt an ihr altes Leben anknüpfen, zumindest im Beruflichen. Nicht nur wollte man einen Schlussstrich unter die letzten Jahrzehnte ziehen, man benötigte die Täter von gestern, um die Gesellschaft von heute am Laufen zu halten.
Das Problem an dieser Strategie des Verdrängens war, dass niemand die Verantwortung für das Geschehene übernahm, auch wenn vor allem zu Beginn die Begeisterung und Unterstützung für den Nationalsozialismus groß war. Es gab kaum eine Familie, die nicht mindestens ein Mitglied mit einer wenig rühmlichen Geschichte zwischen 1933 und 1945 hatte. Scham über das, was seit 1938 und in den Jahren in der Politik Österreichs geschehen war mischte sich zur Angst davor, von den Besatzungsmächten USA, Großbritannien, Frankreich und die UDSSR als Kriegsschuldiger ähnlich wie 1918 behandelt zu werden. Es entstand ein Klima, in dem niemand, weder die daran beteiligte noch die nachfolgende Generation über das Geschehene sprach. Diese Haltung verhinderte lange die Aufarbeitung dessen, was seit 1933 geschehen war. Der Mythos von Österreich als erstem Opfer des Nationalsozialismus, der erst mit der Affäre Waldheim in den 1980er Jahren langsam zu bröckeln begann, war geboren. Polizisten, Lehrer, Richter – sie alle wurden trotz ihrer politischen Gesinnung an ihrem Platz gelassen. Die Gesellschaft brauchte sie, um am Laufen zu bleiben.
Ein Beispiel für den großzügig ausgebreiteten Mantel des Vergessens mit großem Bezug zu Innsbruck ist die Vita des Arztes Burghard Breitner (1884-1956). Breitner wuchs in einem wohlbetuchten bürgerlichen Haushalt auf. Die Villa Breitner am Mattsee war Sitz eines Museums über den vom Vater verehrten deutschnationalen Dichter Josef Viktor Scheffel. Nach der Matura entschied sich Breitner gegen eine Karriere in der Literatur und für ein Medizinstudium. Anschließend beschloss er seinen Militärdienst und begann seine Karriere als Arzt. 1912/13 diente er als Militärarzt im Balkankrieg. 1914 verschlug es ihn an die Ostfront, wo er in russische Kriegsgefangenschaft geriet. Als Arzt kümmerte er sich im Gefangenenlager aufopferungsvoll um seine Kameraden. Erst 1920 sollte er als Held und „Engel von Sibirien“ aus dem Gefangenenlager wieder nach Österreich zurückkehren. 1932 begann seine Laufbahn an der Universität Innsbruck. 1938 stand Breitner vor dem Problem, dass er auf Grund des jüdischen Hintergrundes seiner Großmutter väterlicherseits den „Großen Ariernachweis“ nicht erbringen konnte. Auf Grund seines guten Verhältnisses zum Rektor der Uni Innsbruck und zu wichtigen Nationalsozialisten konnte er aber schlussendlich an der Universitätsklinik weiterarbeiten. Während des NS-Regimes war Breitner als Vorstand der Klinik Innsbruck für Zwangssterilisierungen und „freiwillige Entmannungen“ verantwortlich, auch wenn er wohl keine der Operationen persönlich durchführte. Nach dem Krieg schaffte es der „Engel von Sibirien“ mit einigen Mühen sich durch das Entnazifizierungsverfahren zu winden. 1951 wurde er als Kandidat des VDU, einem politischen Sammelbecken überzeugter Nationalsozialisten, als Kandidat für die Bundespräsidentschaftswahl aufgestellt. 1952 wurde Breitner Rektor der Universität Innsbruck. Nach seinem Tod widmete ihm die Stadt Innsbruck ein Ehrengrab am Westfriedhof Innsbruck. In der Reichenau ist ihm in unmittelbarer Nähe des Standortes des ehemaligen Konzentrationslagers eine Straße gewidmet.