Tiroler Landeskonservatorium

Paul-Hofhaimer-Gasse 6

Wissenswert

Gemeinsam mit dem Tiroler Landestheater und dem Landesmuseum Ferdinandeum ist das Tiroler Landeskonservatorium das dritte Wahrzeichen der bürgerlichen Emanzipation in Innsbruck. Der Bau des etwas versteckten Gebäudes begann zwar erst 1910, seine Architektur und die dahinterliegende Geschichte sind aber charakteristisch für das 19. Jahrhundert. Eduard Klingler entwarf den kompakten neobarocken Bau in einem für die späte Monarchie typischen Stil. Die Basis bildet die besonders widerstandsfähige Höttinger Breccie. Ein Balkon krönt die klassizistischen Säulen am Eingang. Der mittlere Teil der Fassade trägt reich geschmückte Fensterbögen mit den zeitgenössisch beliebten klassizistischen Kapitellchen.

Als der Bau kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges fertiggestellt war, hatte der Musikverein bereits über 100 Jahre am Buckel. 1816 gründeten Johann Herzog, Franz Craffonara und Goller die Akademische Musikgesellschaft. Ein Jahr später suchten sie beim k.k. Landesgubernium um die Erlaubnis zur Gründung eines Musikvereins an.  Was heute wenig spektakulär klingt, war zur Regierungszeit Metternichs durchaus bahnbrechend. Zwischen dem Beginn der Napoleonischen Kriege mit dem revolutionären Frankreich 1797 und dem Wiener Kongress war das Vereinswesen allgemein verboten gewesen. Die bürokratischen Mühlen in der Polizeihofstelle in Wien mahlten langsam, die Prüfung des Anliegens und die Vergabe der offiziellen Genehmigung zur Gründung des eingetragenen Vereins dauerte mehr als ein Jahr, bevor der Musikverein Innsbruck im Juli 1818 offiziell aus der Taufe gehoben werden konnte. Nicht nur der Verein an und für sich, auch das Thema Musik im Allgemeinen stand im Verdacht des Revolutionären. Die neue Künstlergeneration galt als schwierig und aufmüpfig. Über Jahrhunderte hatten Aristokratie und Kirche das Monopol auf den öffentliche Musikgenuss. Der Jesuitenorden war in Innsbruck für Auswahl und Produktion der christlich-erbaulichen Stücke zuständig, die unter der Genehmigung der Landesfürsten aufgeführt werden konnten. Außerhalb von Gotteshäusern war gehobener Musikgenuss eine Angelegenheit für adelige Mäzen, die sich Hofmusiker hielten. Erst mit Mozart, besonders aber mit Beethoven begann sich das zu ändern, wobei ersterer Freimaurer und zweiterer ein Bewunderer Napoleons war, der sich mehr als freigeistiger Entrepreneur denn als untertäniger Hofkünstler sah.

Die Änderungen und die zunehmende Professionalisierung im Musikbusiness war ein Beispiel für die Aneignung und Übernahme aristokratischer Traditionen der neuen bürgerlichen Eliten. Der Innsbrucker Musikverein sollte sicherstellen, dass die musikalische Qualität in der Stadt durch geeignete Ausbildung sichergestellt wurde. Der Unterricht startete im November 1818 in den Räumlichkeiten des ehemals jesuitischen Lyzeums mit täglich drei Stunden Unterricht. Zuerst musste Gesang erlernt werden, erst danach wurde die Instrumentalisierung angegangen. Neben Musik wurde auch Deklamation gelehrt, also „Sprache, Geberden und Minenspiel“. Besonders dieses Fach wurde von der Obrigkeit unter Zensur gestellt und argwöhnisch beobachtet, bevor es 1827 für einige Jahrzehnte komplett verboten wurde.

Eines der ersten Mitglieder neben Pater Goller und Craffonara sowie der erste Dirigent war Oberleutnant Johann Gänsbacher (1778 – 1844). Über eine Karriere in der Armee schaffte er den gesellschaftlichen Aufstieg. Der Sohn des Sterzinger Schulmeisters war von seinem Vater schon früh zur Gesangsausbildung in den Chor der Pfarre St. Jakob in Innsbruck geschickt worden. Ab 1797 kämpfte er in den Koalitionskriegen, bevor er als Kaiserjäger in Innsbruck stationiert wurde. Gänsbacher schuf 1822 zu Ehren des Besuchs Zar Alexanders, Kaiser Franz und Clemens von Metternich in Innsbruck den Alexander-Marsch. Nachdem er in Innsbruck keine dauerhafte Anstellung fand, übersiedelte er als Domkapellmeister von St. Stephan nach Wien.

Der Verein bestand aus finanziell unterstützenden Ehrenmitgliedern und aktiven Musikern. Nach zehn Jahren hatte der Verein über 100 Mitglieder. Die Gesellschaft teilte sich in eine Lehranstalt und einen „Verein zur Beförderungs-Mittel des Vergnügens“. Die Söhne der Vereinsmitglieder hatten Vorrang, wenn es um einen der begrenzten Plätze ging, Frauen war es in den ersten Jahren nicht möglich sich zu inskribieren. Mit Ausnahme mittelloser Theologiestudenten, für die der Unterricht gratis war, mussten die Studenten Schulgeld bezahlen. Neben dem Unterricht waren die Finanzierung der Instrumente und die Produktion der Aufführungen die Betätigungsfelder der Mitglieder. Mindestens vier öffentliche Produkcionen sollten pro Jahr stattfinden, auch die Kirchenmusik in der Jesuitenkirche gestaltete der Musikverein. Gemeinsam mit der Kasinogesellschaft Innsbrucks veranstaltete man auch Benefizkonzerte für den Armenfonds.

Unter dem wohl prominentesten und einflussreichsten seiner vielen Leiter Josef Pembaur (1848 – 1923) übersiedelte der Musikverein an den heutigen Standort im Angerzell. Die stetig steigenden Mitgliederzahlen und die steigenden Anforderungen an modernen Unterricht erforderten mehrere Ortswechsel, bevor die Stadt sich 1906 dazu entschloss, dem Verein das Grundstück hinter dem Ferdinandeum für den Bau einer eigenen Heimstätte zu überlassen. 1912 konnte man den kleinen Palast neben dem Landesmuseum beziehen.

Nach der Machtergreifung der Christlichsozialen Partei unter Kanzler Engelbert Dollfuß und den damit einhergehenden Änderungen in Schulwesen und Kultur, kam es zu einer Aufwertung der Institution. In „Anerkennung der mehr als hundertjährigen erfolgreichen Tätigkeit des ersten Tiroler Musiklehrinstitutes“ durfte man sich ab 1934 ganz im Sinne der österreichischen Identitätspolitik dieser Jahre Konservatorium nennen. Die Nationalsozialisten lösten den Verein auf und führten die Ausbildungsstätte als „Musikschule der Gauhauptstadt Innsbruck“ fort. 1987 kam es zur Trennung von Konservatorium und Musikschule, die ins Gebäude an der Ursulinenschule umsiedelte. Heute kann man am „Kons“ in mehreren Fachrichtungen ein anerkanntes Studium absolvieren und sich zum Musiker, Dirigenten oder klassischen Sänger ausbilden lassen. Neben diesen beiden Ausbildungsstätten ging auch das Symphonieorchester Innsbruck aus dem 1818 gegründeten Musikverein hervor. Den beiden Mitgliedern Josef Gänsbacher und Josef Pembaur sind Straßennamen in Innsbruck gewidmet.

Romantik, sonnenlose Sommer und Entschuldigungskarten

Dank der Universität und den Intellektuellen, die sie anzog und produzierte, schnupperte auch Innsbruck im 18. Jahrhundert in der Ära Maria Theresias die Morgenluft der Aufklärung, wenn auch schaumgebremst von der jesuitischen Fakultätsleitung. 1741 gründete sich mit der Societas Academica Litteraria im Taxispalais ein Gelehrtenzirkel. 1777 begründete sich die Freimaurerloge Zu den drei Bergen, vier Jahre später die Tirolische Gesellschaft für Künste und Wissenschaft. Angestachelt von der Französischen Revolution bekannten sich einige Studenten gar zu den Jakobinern. Unter Kaiser Franz wurden all diese Vereinigungen nach der Kriegserklärung an Frankreich 1794 verboten und streng überwacht. Aufklärerische Ideen waren bereits vor der Französischen Revolution in großen Teilen der Bevölkerung verpönt. Spätestens nach der Enthauptung von Marie Antoinette, der Schwester des Kaisers, und dem Kriegsausbruch zwischen der Republik Frankreich und den Monarchien Europas, galten sie als gefährlich. Wer wollte schon als Jakobiner gelten, wenn es darum ging, die Heimat zu verteidigen?

Nach den Napoleonischen Kriegen begann Innsbruck sich zu erholen, sowohl wirtschaftlich wie auch gedanklich. Die kleine Stadt am Rande des Kaiserreiches hatte etwas mehr als 12.000 Einwohner, „ohne die Soldaten, Studenten und Fremden zu rechnen“. Universität, Gymnasium, Lesekasino, Musikverein, Theater und Museum zeugten von einer gewissen urbanen Kultur. Es gab ein Deutsches Kaffeehaus, eine Restauration im Hofgarten und mehrere Gasthöfe wie den Österreichischen Hof, die Traube, das Munding, die jeweils Goldenen Adler, Stern und Hirsch. Die größte Neuerung für die Bevölkerung trug sich 1830 zu, als Öllampen die Stadt auch in der Nacht erhellten. Es war wohl nur ein schummriges Dämmerlicht, das aus den über 150 auf Säulen und Armleuchtern angebrachten Lampen entstand, für Zeitgenossen war es aber eine wahrhaftige Revolution.

Die bayerische Besatzung war nach 1815 verschwunden, die Ideen der Denker der Aufklärung und der Französischen Revolution hatten sich aber in einigen Köpfen des städtischen Milieus verfangen. Natürlich waren es keine atheistischen, sozialistischen oder gar umstürzlerischen Gedanken, die sich breit machten. Es ging vor allem um wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Teilhabe des Bürgertums. Das Vereinswesen, zuvor verboten, feierte eine Renaissance. Wer es sich leisten konnte und auf sich hielt, trat einem Verein bei. „In Innsbruck besteht ein Musikverein, ein landwirthschaftlicher und ein montanistisch-geognostischer,“ stand etwa im Reiseführer Beda Webers zu lesen. Auch wenn der Unterhaltungs- und Zerstreuungsfaktor dabei nicht zu kurz kam, galt es auch das tugendhafte Miteinander zum Wohl der weniger Begüterten und die Erziehung der Massen mit dem Treiben in den Vereinen zu forcieren. Wissenschaft, Literatur, Theater und Musik, aber auch Initiativen wie der Innsbrucker Verschönerungsverein entstanden dabei als Säulen einer bis dato nicht gekannten Zivilgesellschaft. Einer der ersten Vereine, die sich bildeten, war der Musikverein Innsbruck, aus dem das Tiroler Landeskonservatorium hervorging. Männer und Frauen waren ganz im Zeitgeist nicht Mitglieder in den gleichen Vereinen. Frauen engagierten sich vor allem in der Wohlfahrt wie dem Frauenverein zur Beförderung der Kleinkinder-Bewahranstalten und weiblichen Industrie-Schule. Teilnahme am politischen Diskurs von weiblicher Seite war nicht erwünscht. In den Gaststätten und Kaffeehäusern trafen sich Studenten, Beamte, Mitglieder des niederen Adels und Akademiker, um ihr Gedankengut auszutauschen. Dabei handelte es sich nicht nur um hochgeistig Abstraktes, sondern auch um profane Realpolitik wie die Aussetzung der Binnenzölle, die das Leben der Menschen unnötig teuer machten.

Die bürgerliche Bildungselite entdeckte in Romantik und Biedermeier die kulturelle Flucht in die Vergangenheit für sich. Die Antike und ihre Denker feierten in Innsbruck wie in ganz Europa eine zweite Renaissance. Stilbildend waren Denker der Romantik des 18. und frühen 19. Jahrhunderts wie Winckelmann, Lessing oder Hegel. Den Griechen wurde „edle Einfalt und stille Größe“ attestiert. Goethe wollte das „Land der Griechen mit der Seele suchen“ und machte sich auf nach Italien, um dort seine Sehnsucht nach der guten, vorchristlichen Zeit zu suchen, in dem die Menschen des Goldenen Zeitalters ein ungezwungenes Verhältnis mit ihren Göttern pflegten. Römische Tugenden der Stoa wurden als Leitbilder in die Moderne transportiert und bildeten die Basis für bürgerliche Genügsamkeit und den Patriotismus, der groß in Mode kam. Philologen durchkämmten die Texte antiker Schriftsteller und Philosophen und transportierten ein gefälliges „Best of“ ins 19. Jahrhundert. Säulen, Sphinxe, Büsten und Statuen mit klassischen Proportionen schmückten Paläste, Verwaltungsgebäude und Museen wie das Ferdinandeum. Studenten und Intellektuelle wie der Brite Lord Byron wurden so sehr vom Panhellenismus und der Idee des Nationalismus ergriffen, dass sie im griechischen Unabhängigkeitskampf gegen das osmanische Reich ihr Leben aufs Spiel setzten. In Innsbruck wurde nach dem Ende des Heiligen Römischen Reiches der Pangermanismus zur politischen Mode des liberalen Bürgertums.

Kanzler Clemens von Metternichs (1773 – 1859) Polizeistaat hielt diese gesellschaftlichen Regungen lange Zeit unter Kontrolle. Zeitungen, Flugblätter, Bücher und Vereine standen unter Generalverdacht. Schriften mussten sich an die Vorgaben der strengen Zensur anpassen oder im Untergrund verbreitet werden. Autoren wie Hermann von Gilm (1812 – 1864) und Johann Senn (1792 – 1857), an beide erinnern heute Straßen in Innsbruck, verbreiteten in Tirol anonym politisch motivierte Literatur. Der Innsbrucker Musikverein lehrte im Rahmen seiner Ausbildung auch die Deklamation, das Vortragen von Texten, Musik und Reden, die Inhalte wurden von der Obrigkeit streng überwacht. Alle Arten von Vereinen wie die Innsbrucker Liedertafel und Studentenverbindungen, sogar die Mitglieder des Ferdinandeums wurden ausspioniert. Die sich in den Arbeitervierteln formierenden sozialen Bewegungen wurden von der Geheimpolizei Metternichs ganz besonders ins Visier genommen. Auch die Schützen standen, trotz ihrer demonstrativen Kaisertreue, auf der Liste der zu observierenden Institutionen. Als zu aufsässig galten sie, nicht nur gegenüber fremden Mächten, sondern auch gegenüber der Wiener Zentralstaatlichkeit. Der Mix aus großdeutsch-nationalem Gedankengut und tirolischem Patriotismus vorgetragen mit dem Pathos der Romantik mutet heute eigenartig harmlos an, war aber dem metternich´schen Staatsapparat weder geheuer noch genehm.

Politischer Aktivismus war aber ein Randphänomen, das nur eine kleine Elite beschäftigte. Nachdem die Bergwerke und Salinen im 17. Jahrhundert ihre Rentabilität verloren hatten und auch der Transit ob der neuen Handelsrouten über den Atlantik an wirtschaftlicher Bedeutung einbüßte, war Tirol zu einem armen Landstrich geworden. Die Napoleonischen Kriege hatten über 20 Jahre lang gewütet. Die Universität, die junge Aristokraten in den Wirtschaftskreislauf der Stadt zog, wurde erst 1826 wieder eröffnet. Anders als Industriestandorte in Böhmen, Mähren, Preußen oder England war die schwer erreichbare Stadt in den Alpen erst am Anfang der Entwicklung hin zu einem modernen Arbeitsmarkt. Auch der Tourismus steckte noch in den Kinderschuhen und war keine Cash Cow. Und dann war da noch ein Vulkan am anderen Ende der Welt, der die Geschicke der Stadt Innsbruck über Gebühr beeinflusste. 1815 war in Indonesien der Tambora ausgebrochen und hatte eine riesige Staub-, Schwefel- und Aschewolke um die Welt geschickt. 1816 ging als Jahr ohne Sommer in die Geschichte ein. In ganz Europa kam es zu Wetterkapriolen, Überschwemmungen und Missernten.

Die wirtschaftlichen Verwerfungen und Preissteigerungen führten zu Not und Elend vor allem in den ärmeren Teilen der Bevölkerung. Die Armenfürsorge war im 19. Jahrhundert eine Aufgabe der Gemeinden, für gewöhnlich mit der Unterstützung wohlhabender Bürger als Mäzen mit dem Gedanken der christlichen Nächstenliebe. Staat, Gemeinde, Kirche und die neu entstehende Zivilgesellschaft in Form von Vereinen begannen sich um das Wohl der ärmsten Bevölkerungsteile zu kümmern. Es gab Benefizkonzerte, Sammlungen und Spendenaufrufe.  Die Maßnahmen enthielten oft eine aufgeklärte Komponente, auch wenn die Mittel zum Zweck heute eigenartig und fremd erscheinen. In Innsbruck trat zum Beispiel eine Bettelordnung in Kraft, die besitzlosen Menschen ein Eheverbot auferlegte. Knapp 1000 Bürger waren als Almosenbezieher und Bettler klassifiziert.

Als die Not immer größer wurde und die Stadtkassen leerer, kam es in Innsbruck zu einer Innovation, die für über 100 Jahre Bestand haben sollte: Die Neujahrs-Entschuldigungskarte. Auch damals war es Brauch, am ersten Tag des Jahres seine Verwandten zu besuchen, um sich gegenseitig ein Gutes Neues Jahr zu wünschen. Ebenfalls war es Brauch, dass notleidende Familien und Bettler an die Türen der wohlhabenden Bürger klopften, um zu Neujahr um Almosen zu bitten. Mit der Einführung der Neujahrs-Entschuldigungskarte schlug man gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe. Die Käufer der Karte konnten institutionalisiert und in geregelten Bahnen ihre ärmeren Mitglieder, ähnlich wie es heutzutage mit dem Kauf der Straßenzeitung Zwanziger möglich ist, unterstützen. Gleichzeitig diente die Neujahrs-Entschuldigungskarte dazu, sich durch ihren Versand vor den wenig geliebten Pflichtbesuchen bei der Verwandtschaft zu drücken. Wer die Karte an seine Haustüre hängte, signalisierte den Bedürftigen auch, dass weiteres Fragen um Almosen nicht von Nöten sei, da man seinen Beitrag bereits abgedungen hatte. Zu guter Letzt wurden die edlen Spender auch noch in den Medien wohlwollend erwähnt, damit jeder sehen konnte, wie sehr sie sich im Namen der Nächstenliebe um ihre weniger begüterten Mitmenschen kümmern.

Die Neujahrs-Entschuldigungskarten waren ein voller Erfolg. Bei ihrer Premiere zum Jahreswechsel von 1819 auf 1820 wurden bereits 600 Stück verkauft. Viele Gemeinden übernahmen das Innsbrucker Rezept. In der Zeitschrift „Der Kaiserlich-königlich priviligierte Bothe von und für Tirol und Vorarlberg“ wurden am 12. Februar die Erlöse für Bruneck, Bozen, Trient, Rovereto, Schwaz, Imst, Bregenz und Innsbruck veröffentlicht. Auch sonstige Institutionen wie Feuerwehren und Vereine übernahmen die gut funktionierende Sitte, um Spenden für ihr Anliegen zu schaffen. Der Bau der Neuen Höttinger Pfarrkirche wurde neben Spenden zu einem guten Teil aus den Erlösen eigens aufgelegter Entschuldigungskarten finanziert. Die mannigfaltige Gestaltung reichte von christlichen Motiven über Portraits bekannter Persönlichkeiten, Amtsgebäude, Neubauten, Sehenswürdigkeiten und Kuriositäten. Im Stadtarchiv Innsbruck können viele der Designs noch ausgehoben werden.

Klingler, Huter, Retter & Co: Baumeister der Erweiterung

Die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts gingen als Gründerzeit in die österreichische Geschichte ein. Nach einer Wirtschaftskrise 1873 begann sich die Stadt im Wiederaufschwung auszudehnen. Von 1880 bis 1900 wuchs Innsbrucks Bevölkerung von 20.000 auf 26.000 Einwohner an. Das 1904 eingemeindete Wilten verdreifachte sich von 4000 auf 12.000. Im Zuge technischer Innovationen veränderte sich auch die Infrastruktur. Gas, Wasser, Elektrizität wurden Teil des Alltags von immer mehr Menschen. Das alte Stadtspital wich dem neuen Krankenhaus. Im Saggen entstanden das Waisenhaus und das Greisenasyl Sieberers. Das erste Telephon Innsbrucks meldete sich 1893 zum Dienst. Um die Jahrhundertwende gab es bereits über 300 Anschlüsse in der Stadt.

Die Gebäude, die in den jungen Stadtvierteln gebaut wurden, waren ein Spiegel dieser neuen Gesellschaft. Unternehmer, Freiberufler, Angestellte und Arbeiter mit politischem Stimmrecht entwickelten andere Bedürfnisse als Untertanen ohne dieses Recht. Anders als im ländlichen Bereich Tirols, wo Bauernfamilien samt Knechten und Mägden in Bauernhäusern im Verbund einer Sippschaft lebten, kam das Leben in der Stadt dem Familienleben, das wir heute kennen, nahe. Der Wohnraum musste dem entsprechen. Der Lifestyle der Städter verlangte nach Mehrzimmerwohnungen und freien Flächen zur Erholung nach der Arbeitszeit. Das wohlhabende Bürgertum bestehend aus Unternehmern und Freiberuflern hatte den Adel zwar noch nicht überholt, den Abstand aber verringert. Sie waren es, die nicht nur private Bauprojekte beauftragten, sondern über ihre Stellung im Gemeinderat auch über öffentliche Bauten entschieden.

Die 40 Jahre vor dem Ersten Weltkrieg waren für Baufirmen, Handwerker, Baumeister und Architekten eine Art Goldgräberzeit. Die Gebäude spiegelten die Weltanschauung ihrer Bauherren wider. Baumeister vereinten dabei mehrere Rollen und ersetzten oft den Architekten. Die meisten Kunden hatten sehr klare Vorstellungen, was sie wollten. Es sollten keine atemberaubenden Neukreationen sein, sondern Kopien und Anlehnungen an bestehende Gebäude. Ganz im Geist der Zeit entwarfen die Innsbrucker Baumeister nach dem Wunsch der finanziell potenten Auftraggeber die Gebäude in den Stilen des Historismus und des Klassizismus sowie des Tiroler Heimatstils. Die Wahl des Stils der beim Bau des Eigenheimes zur Anwendung kam, war oft nicht nur optisches, sondern auch ideologisches Statement des Bauherrn. Liberale bevorzugten meist den Klassizismus, Konservative waren dem Tiroler Heimatstil zugetan. Während der Heimatstil sich neobarock und mit vielen Malereien zeigte, waren klare Formen, Statuen und Säulen stilprägende Elemente bei der Anlage neuer Gebäude des Klassizismus. In einem teils wüsten Stilmix wurden die Vorstellungen, die Menschen vom klassischen Griechenland und dem antiken Rom hatten, verwirklicht. Nicht nur Bahnhöfe und öffentliche Gebäude, auch große Mietshäuser und ganze Straßenzüge, sogar Kirchen und Friedhöfe entstanden entlang der alten Flurwege in diesem Design. Das gehobene Bürgertum zeigte sein Faible für die Antike mit neoklassizistischen Fassaden. Katholische Traditionalisten ließen Heiligenbilder und Darstellungen der Landesgeschichte Tirols in Wandmalereien auf ihren Heimatstilhäusern anfertigen. Während im Saggen und Wilten der Neoklassizismus dominiert, finden sich in Pradl Großteils Gebäude im konservativen Heimatstil.

Viele Bauexperten rümpften lange Zeit die Nase über die Bauten der Emporkömmlinge und Neureichen. Heinrich Hammer schrieb in seinem Standardwerk „Kunstgeschichte der Stadt Innsbruck“:

„Schon diese erste rasche Erweiterung der Stadt fiel nun freilich in jene baukünstlerisch unfruchtbare Epoche, in der die Architektur, statt eine selbstständige, zeiteigene Bauweise auszudenken, der Reihe nach die Baustile der Vergangenheit wiederholte.“

Die Zeit der großen Villen, die die Adelsansitze vergangener Tage mit bürgerlicher Note nachahmten, kam mangels Platzgründen nach einigen wilden Jahrzehnten an ihr Ende. Eine weitere Bebauung des Stadtgebietes mit Einzelhäusern war nicht mehr möglich, zu eng war der Platz geworden. 1898 beschloss der Gemeinderat, östlich der Claudiastraße nur noch Wohnblöcke anstatt der Villen im großzügigen Cottage Stil zu genehmigen. Der Bereich Falkstraße / Gänsbachstraße / Bienerstraße gilt bis heute als Villensaggen, die Gebiete östlich als Blocksaggen. In Wilten und Pradl kam es zu dieser Art der Bebauung gar nicht erst gar nicht. Trotzdem versiegelten Baumeister im Goldrausch immer mehr Boden. Albert Gruber hielt zu diesem Wachstum 1907 eine mahnende Rede, in der er vor Wildwuchs in der Stadtplanung und Bodenspekulation warnte.

„Es ist die schwierigste und verantwortungsvollste Aufgabe, welche unsere Stadtväter trifft. Bis zu den 80er Jahren (Anm.: 1880), sagen wir im Hinblick auf unsere Verhältnisse, ist noch ein gewisses langsames Tempo in der Stadterweiterung eingehalten worden. Seit den letzten 10 Jahren jedoch, kann man sagen, erweitern sich die Städtebilder ungeheuer rasch. Es werden alte Häuser niedergerissen und neue an ihrer Stelle gesetzt. Natürlich, wenn dieses Niederreißen und Aufbauen planlos, ohne jede Überlegung, nur zum Vorteil des einzelnen Individuums getrieben wird, dann entstehen zumeist Unglücke, sogenannte architektonische Verbrechen. Um solche planlose, der Allgemeinheit nicht zum Frommen und Nutzen gereichende Bauten zu verhüten, muß jede Stadt dafür sorgen, daß nicht der Einzelne machen kann, was er will: es muß die Stadt dem schrankenlosen Spekulantentum auf dem Gebiete der Stadterweiterung eine Grenze setzen. Hierher gehört vor allem die Bodenspekulation.“

Eine Handvoll Baumeister und das Bauamt Innsbruck begleiteten diese Entwicklung in Innsbruck. Bezeichnet man Wilhelm Greil als Bürgermeister der Erweiterung, verdient der gebürtige Wiener Eduard Klingler (1861 – 1916) wohl den Titel als deren Architekt. Klingler prägte das Stadtbild Innsbrucks in seiner Funktion als Beamter und Baumeister wesentlich mit. 1883 begann er für das Land Tirol zu arbeiten. 1889 trat er zum städtischen Bauamt über, das er ab 1902 leitete.  In Innsbruck gehen unter anderem die Handelsakademie, die Leitgebschule, der Friedhof Pradl, die Dermatologische Klinik im Klinikareal, der Städtische Kindergarten in der Michael-Gaismair-Straße, die Trainkaserne (Anm.: heute ein Wohnhaus), die Markthalle und das Tiroler Landeskonservatorium auf Klinglers Konto als Leiter des Bauamtes. Ein sehenswertes Gebäude im Heimatstil nach seinem Entwurf ist das Ulrichhaus am Berg Isel, das heute den Alt-Kaiserjäger-Club beheimatet.

Das vielleicht bedeutendste Innsbrucker Baubüro war Johann Huter & Söhne. Johann Huter übernahm das kleine Baugewerbe seines Vaters. 1856 erwarb er das erste Firmengelände, die Hutergründe, am Innrain. Drei Jahre später entstand in der Meranerstraße der erste repräsentative Hauptsitz. Die Firmeneintragung gemeinsam mit seinen Söhnen Josef und Peter stellte 1860 den offiziellen Startschuss des bis heute existierenden Unternehmens dar. Huter & Söhne verstand sich wie viele seiner Konkurrenten als kompletter Dienstleister. Eine eigene Ziegelei, eine Zementfabrik, eine Tischlerei und eine Schlosserei gehörten ebenso zum Unternehmen wie das Planungsbüro und die eigentliche Baufirma. 1906/07 errichteten die Huters ihren eigenen Firmensitz in der Kaiser-Josef-Straße 15 im typischen Stil der letzten Vorkriegsjahre. Das herrschaftliche Haus vereint den Tiroler Heimatstil umgeben von Garten und Natur mit neogotischen und neoromanischen Elementen. Bekannte von Huter & Söhne errichtete Gebäude in Innsbruck sind das Kloster der Ewigen Anbetung, die Pfarrkirche St. Nikolaus und mehrere Gebäude am Claudiaplatz.

Der zweite große Player war Josef Retter. Der gebürtige Tiroler wuchs in der Wachau auf. In früher Jugend absolvierte er eine Maurerlehre bevor er die k.k. Staatsgewerbeschule in Wien und die Werkmeisterschule der baugewerblichen Abteilung besuchte. Nach Berufserfahrungen über das Gebiet der Donaumonarchie verteilt in Wien, Kroatien und Bozen konnte er dank der Mitgift seiner Ehefrau im Alter von 29 Jahren seine eigene Baufirma mit Sitz in Innsbruck eröffnen. Wie Huter beinhaltete auch sein Unternehmen ein Sägewerk, ein Sand- und Schotterwerk und eine Werkstatt für Steinmetzarbeiten. 1904 eröffnete er in der Schöpfstraße 23a seine Wohn- und Bürogebäude, das bis heute als Retterhaus bekannt ist. Mit einem Neubau des Akademischen Gymnasiums und dem burgähnlichen Schulgebäude für die Handelsakademie und der Evangelischen Christuskirche im Saggen, der herrschaftlichen Sonnenburg in Wilten und dem neugotischen Schloss Mentlberg am Sieglanger realisierte er einige der bis heute für diese Zeit herausragendsten Gebäude Innsbrucks.

Spätberufen aber mit einem ähnlich praxisorientieren Hintergrund, der typisch für die Baumeister des 19. Jahrhunderts war, startete Anton Fritz 1888 sein Baubüro. Er wuchs abgelegen in Graun im Vinschgau auf. Nach Stationen als Polier, Stuckateur und Maurer beschloss er mit 36 Jahren die Gewerbeschule in Innsbruck zu besuchen. Talent und Glück bescherten ihm mit der Villa im Landhausstil in der Karmelitergasse 12 seinen Durchbruch als Planer. Seine Baufirma beschäftigte zur Blütezeit 150 Personen. 1912, kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs und dem damit einhergehenden Einbruch der Baubranche, übergab er sein Unternehmen an seinen Sohn Adalbert. Das eigene Wohnhaus in der Müllerstraße 4, das Haus Mader in der Glasmalereistraße sowie Häuser am Claudiaplatz und dem Sonnenburgplatz zählen zu den Hinterlassenschaften von Anton Fritz.

Mit Carl Kohnle, Carl Albert, Karl Lubomirski und Simon Tommasi hatte Innsbruck weitere Baumeister, die sich mit typischen Gebäuden des späten 19. Jahrhunderts im Stadtbild verewigten. Sie alle ließen Innsbrucks neue Straßenzüge im architektonisch vorherrschenden Zeitgeist der letzten 30 Jahre der Donaumonarchie erstrahlen. Wohnhäuser, Bahnhöfe, Amtsgebäude und Kirchen im Riesenreich zwischen der Ukraine und Tirol schauten sich flächendeckend ähnlich. Nur zögerlich kamen neue Strömungen wie der Jugendstil auf. In Innsbruck war es der Münchner Architekt Josef Bachmann, der mit der Neugestaltung der Fassade des Winklerhauses einen neuen Akzent in der bürgerlichen Gestaltung setzte. Mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges setzte die Bautätigkeit aus. Nach dem Krieg war die Zeit des neoklassizistischen Historismus und Heimatstils endgültig Geschichte. Spaziergänge im Saggen und in Teilen von Wilten und Pradl versetzen zurück in die Gründerzeit. Der Claudiaplatz und der Sonnenburgplatz zählen zu den eindrücklichsten Beispielen. Die Baufirma Huter und Söhne existiert bis heute. Das Unternehmen ist mittlerweile im Sieglanger in der Josef-Franz-Huter-Straße, benannt nach dem Firmengründer.

Wilhelm Greil: DER Bürgermeister Innsbrucks

Einer der wichtigsten Akteure der Stadtgeschichte war Wilhelm Greil (1850 – 1923). Von 1896 bis 1923 bekleidete der Unternehmer das Amt des Bürgermeisters, nachdem er vorher bereits als Vizebürgermeister die Geschicke der Stadt mitgestaltet hatte. Es war die Zeit des Wachstums, der Eingemeindung ganzer Stadtviertel, technischer Innovationen und neuer Medien. Die vier Jahrzehnte zwischen der Wirtschaftskrise 1873 und dem Ersten Weltkrieg von einem nie dagewesenen Wirtschaftswachstum und einer rasenden Modernisierung gekennzeichnet. Die Wirtschaft der Stadt boomte. Betriebe in den neuen Stadtteilen Pradl und Wilten entstanden und lockten Arbeitskräfte an. Auch der Tourismus brachte frisches Kapital in die Stadt. Die Ansammlung an Menschen auf engstem Raum unter teils prekären Hygieneverhältnissen brachte gleichzeitig aber auch Probleme mit sich. Besonders die Randbezirke der Stadt und die umliegenden Dörfer wurden regelmäßig von Typhus heimgesucht.

Die Innsbrucker Stadtpolitik, in der Greil sich bewegte, war vom Kampf liberaler und konservativer Kräfte geprägt. Greil gehörte der "Deutschen Volkspartei" an, einer liberalen und national-großdeutschen Partei. Was heute als Widerspruch erscheint, liberal und national, war im 19. Jahrhundert ein politisch übliches und gut funktionierendes Gedankenpaar. Der Pangermanismus war keine politische Besonderheit einer rechtsradikalen Minderheit, sondern besonders in deutschsprachigen Städten des Reiches eine Strömung der Mitte, die bis nach dem Zweiten Weltkrieg durch fast alle Parteien hindurch in unterschiedlicher Ausprägung Bedeutung hatte. Innsbrucker, die auf sich hielten, bezeichneten sich nicht als Österreicher, sondern als Deutsche. Wer Ausgaben der liberalen Innsbrucker Nachrichten der Zeit rund um die Jahrhundertwende unter die Lupe nimmt, findet unzählige Artikel, in denen das Gemeinsame zwischen dem Deutschen Reich und den deutschsprachigen Ländern zum Thema des Tages gemacht wurde, während man sich von anderen Volksgruppen innerhalb des multinationalen Habsburgerreiches distanzierte. Greil war ein geschickter Politiker, der sich innerhalb der vorgegebenen Machtstrukturen seiner Zeit bewegte. Er wusste sich um die traditionellen Kräfte, die Monarchie und den Klerus geschickt zu manövrieren und sich mit ihnen zu arrangieren.

Steuern, Gesellschaftspolitik, Bildungswesen, Wohnbau und die Gestaltung des öffentlichen Raumes wurden mit Leidenschaft und Eifer diskutiert. Bedingt durch eine Wahlordnung, die auf das Stimmrecht über Vermögensklassen aufgebaut war, konnten nur etwa 10% der gesamten Innsbrucker Bevölkerung zur Wahlurne schreiten. Frauen waren prinzipiell ausgeschlossen. Dabei galt das relative Wahlrecht innerhalb der drei Wahlkörper, was so viel heißt wie: The winner takes it all. Massenparteien wie die Sozialdemokraten konnten sich bis zur Wahlrechtsreform der Ersten Republik nicht durchsetzen. Konservative hatten es in Innsbruck auf Grund der Bevölkerungszusammensetzung, besonders bis zur Eingemeindung von Wilten und Pradl, ebenfalls schwer. Bürgermeister Greil konnte auf 100% Rückhalt im Gemeinderat bauen, was die Entscheidungsfindung und Lenkung natürlich erheblich vereinfachte. Bei aller Effizienz, die Innsbrucker Bürgermeister bei oberflächlicher Betrachtung an den Tag legten, sollte man nicht vergessen, dass das nur möglich war, weil sie als Teil einer Elite aus Unternehmern, Handelstreibenden und Freiberuflern ohne nennenswerte Opposition und Rücksichtnahme auf andere Bevölkerungsgruppen wie Arbeitern, Handwerkern und Angestellten in einer Art gewählten Diktatur durchregierten. Das Reichsgemeindegesetz von 1862 verlieh Städten wie Innsbruck und damit den Bürgermeistern größere Befugnisse. Es verwundert kaum, dass die Amtskette, die Greil zu seinem 60. Geburtstag von seinen Kollegen im Gemeinderat verliehen bekam, den Ordensketten des alten Adels erstaunlich ähnelte.

Unter Greils Ägide und dem allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung erweiterte sich Innsbruck im Eiltempo. Er kaufte ganz im Stil eines Kaufmanns vorausschauend Grund an, um der Stadt Neuerungen zu ermöglichen. Der Politiker Greil konnte sich bei den großen Bauprojekten der Zeit auf die Beamten und Stadtplaner Eduard Klingler, Jakob Albert und Theodor Prachensky stützen. Auch privaten Investitionen in die Wirtschaft der Stadt stand er ausgesprochen offen gegenüber. Infrastrukturprojekte wie das neue Rathaus in der Maria-Theresienstraße 1897, die Hungerburgbahn 1906 und die Karwendelbahn wurden während seiner Regierungszeit umgesetzt. Weitere gut sichtbare Meilensteine waren die Erneuerung des Marktplatzes und der Bau der Markthalle.

Neben den prestigeträchtigen Großprojekten entstanden in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts aber viele unauffällige Revolutionen. Vieles, was in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorangetrieben wurde, gehört heute zum Alltag. Für die Menschen dieser Zeit waren diese Dinge aber eine echte Sensation und lebensverändernd. Bereits Greils Vorgänger Bürgermeister Heinrich Falk (1840 – 1917) hatte erheblich zur Modernisierung der Stadt und zur Besiedelung des Saggen beigetragen. Seit 1859 war die Beleuchtung der Stadt mit Gasrohrleitungen stetig vorangeschritten. Mit dem Wachstum der Stadt und der Modernisierung wurden die Senkgruben, die in Hinterhöfen der Häuser als Abort dienten und nach Entleerung an umliegende Landwirte als Dünger verkauft wurden, zu einer Unzumutbarkeit für immer mehr Menschen. 1880 wurde das Raggeln, so der Name im Volksmund für die Entleerung der Aborte, in den Verantwortungsbereich der Stadt übertragen. Zwei pneumatische Maschinen sollten den Vorgang zumindest etwas hygienischer gestalten. Zwischen 1887 und 1891 wurde Innsbruck mit einer modernen Hochdruckwasserleitung ausgestattet, über die auch Wohnungen in höher gelegenen Stockwerken mit frischem Wasser versorgt werden konnten. Wer auf sich hielt und es sich leisten konnte, hatte damit erstmals die Gelegenheit eine Spültoilette im Eigenheim zu installieren.

Greil setzte diesen Feldzug der Modernisierung fort. Nach jahrzehntelangen Diskussionen wurde 1903 mit dem Bau einer modernen Schwemmkanalisation begonnen. Ausgehend von der Innenstadt wurden immer mehr Stadtteile an diesen heute alltäglichen Luxus angeschlossen. 1908 waren nur die Koatlackler Mariahilf und St. Nikolaus nicht an das Kanalsystem angeschlossen. Auch der neue Schlachthof im Saggen erhöhte Hygiene und Sauberkeit in der Stadt. Schlecht kontrollierte Hofschlachtungen gehörten mit wenigen Ausnahmen der Vergangenheit an. Das Vieh kam im Zug am Sillspitz an und wurde in der modernen Anlage fachgerecht geschlachtet. Greil überführte auch das Gaswerk in Pradl und das Elektrizitätswerk in Mühlau in städtischen Besitz. Die Straßenbeleuchtung wurde im 20. Jahrhundert von den Gaslaternen auf elektrisches Licht umgestellt. 1888 übersiedelte das Krankenhaus von der Maria-Theresienstraße an seinen heutigen Standort.

Bürgermeister und Gemeinderat konnten sich bei dieser Innsbrucker Renaissance neben der wachsenden Wirtschaftskraft in der Vorkriegszeit auch auf Mäzen aus dem Bürgertum stützen. Waren technische Neuerungen und Infrastruktur Sache der Liberalen, verblieb die Fürsorge der Ärmsten weiterhin bei klerikal gesinnten Kräften, wenn auch nicht mehr bei der Kirche selbst. Freiherr Johann von Sieberer stiftete das Greisenasyl und das Waisenhaus im Saggen. Leonhard Lang stiftete das Gebäude, das vorher als Hotel genutzt wurde, in das das Rathaus von der Altstadt 1897 übersiedelte, gegen das Versprechen der Stadt ein Lehrlingsheim zu bauen.

Im Gegensatz zur boomenden Vorkriegsära war die Zeit nach 1914 vom Krisenmanagement geprägt. In seinen letzten Amtsjahren begleitete Greil Innsbruck am Übergang von der Habsburgermonarchie zur Republik durch Jahre, die vor allem durch Hunger, Elend, Mittelknappheit und Unsicherheit geprägt waren. Er war 68 Jahre alt, als italienische Truppen nach dem Ersten Weltkrieg die Stadt besetzten und Tirol am Brenner geteilt wurde, was für ihn als Vertreter des Deutschnationalismus besonders bitter war. 1919 konnte die Sozialdemokraten in Innsbruck zwar zum ersten Mal den Wahlsieg davontragen, dank der Mehrheiten im Gemeinderat blieb Greil aber Bürgermeister. 1928 verstarb er als Ehrenbürger der Stadt Innsbruck im Alter von 78 Jahren. Die Wilhelm-Greil-Straße war noch zu seinen Lebzeiten nach ihm benannt worden.

Die Bocksiedlung und der Austrofaschismus

Politische Polarisierung prägte neben Hunger das Leben der Menschen in den 1920er und 1930er Jahren. Der Zusammenbruch der Monarchie hatte zwar eine Republik hervorgebracht, die beiden großen Volksparteien, die Sozialdemokraten und die Christlichsozialen, standen sich aber feindselig wie zwei Skorpione gegenüber. Beide Parteien bauten paramilitärische Blöcke auf, um die politische Agenda notfalls auf der Straße mit Gewalt zu untermauern. Der Republikanische Schutzbund auf Seiten der Sozialdemokraten und verschiedene christlich-sozial oder gar monarchistisch orientierte Heimwehren, der Einfachheit halber sollen die unterschiedlichen Gruppen unter diesem Sammelbegriff zusammengefasst werden, belauerten sich wie Bürgerkriegsparteien. Viele Politiker und Funktionäre beider Seiten hatten im Krieg an der Front gekämpft und waren dementsprechend militarisiert. Die Tiroler Heimatwehr konnte im ländlichen Tirol dank der Unterstützung der katholischen Kirche auf bessere Infrastruktur und politisches Netzwerk zurückgreifen. Am 12. November 1928, dem zehnten Jahrestag der Gründung der Republik, marschierten am Ersten gesamtösterreichischen Heimwehraufmarsch 18.000 Heimatwehrmänner durch die Stadt, um ihre Überlegenheit am höchsten Feiertag der heimischen Sozialdemokratien zu untermauern. Als Mannschaftsquartier der steirischen Truppen diente unter anderem das Stift Wilten.  

Ab 1930 zeigte auch die NSDAP immer mehr Präsenz im öffentlichen Raum. Besonders unter Studenten und jungen, desillusionierten Arbeitern konnte sie Anhänger gewinnen. 1932 zählte die Partei bereits 2500 Mitglieder in Innsbruck. Immer wieder kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen den verfeindeten politischen Gruppen. Berüchtigt wurde die sogenannte Höttinger Saalschlacht vom 27. Mai 1932. Hötting war damals noch kein Teil Innsbrucks. In der Gemeinde lebten vor allem Arbeiter. In dieser roten Bastion Tirols planten Nationalsozialisten eine Kundgebung im Gasthof Goldener Bär, einem Treffpunkt der Sozialdemokraten. Diese Provokation endete in einem Kampf, der mit über 30 Verletzten und einem Todesopfer auf Seiten der Nationalsozialisten durch eine Stichwunde endete. Die Ausschreitungen breiteten sich auf die ganze Stadt aus, sogar in der Klinik gerieten die Verletzten noch aneinander. Nur unter Einsatz der Gendarmerie und des Heeres konnten die Kontrahenten voneinander getrennt werden.

Nach jahrelangen bürgerkriegsähnlichen Zuständen setzten sich 1933 die Christlichsozialen unter Kanzler Engelbert Dollfuß (1892 – 1934) durch und schalteten das Parlament aus. In Innsbruck kam es dabei zu keinen Kampfhandlungen. Am 15. März wurde das Parteihaus der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Tirol im Hotel Sonne geräumt, der -Anführer des Republikanischen Schutzbundes Gustav Kuprian wegen Hochverrat festgenommen und die einzelnen Gruppen entwaffnet. Das Ziel Dollfuß´ war die Errichtung des sogenannten Österreichischen Ständestaats, einem Einparteienstaat ohne Opposition unter Beschneidung elementarer Rechte wie Presse- oder Versammlungsfreiheit. In Tirol wurde 1933 die Tiroler Wochenzeitung neu gegründet um als Parteiorgan zu fungieren. Der gesamte Staatsapparat sollten analog zum Faschismus Mussolinis in Italien unter der Vaterländischen Front geeint werden: Antisozialistisch, autoritär, konservativ im Gesellschaftsbild, antidemokratisch, antisemitisch und militarisiert.

Dollfuß war in Tirol überaus populär, wie Aufnahmen des vollen Platzes vor der Hofburg während einer seiner Ansprachen aus dem Jahr 1933 zeigen. Seine Politik war das, was der Habsburgermonarchie am nächsten kam. Sein politischer Kurs wurde von der katholischen Kirche unterstützt. Das gab ihm Zugriff auf Infrastruktur, Presseorgane und Vorfeldorganisationen. Gegen die verhassten Sozialisten ging die Vaterländische Front mit ihren paramilitärischen Einheiten hart vor. Die Presse war politisch gesteuert und zensuriert. Die Artikel glorifizierten das ländliche Leben in seiner Idylle. Kinderreiche Familien wurden finanziell unterstützt. Die Geschlechtertrennung an Schulen und die Umgestaltung der Lehrpläne für Mädchen bei gleichzeitiger vormilitärischer Ertüchtigung der Buben war im Sinn eines großen Teils der Bevölkerung. Auch die traditionell orientierte Kulturpolitik, mit der sich Österreich als das bessere Deutschland unter der antiklerikalen nationalsozialistischen Führung positionierte, gefiel dem konservativen Teil der Gesellschaft. Bereits 1931 hatten sich einige Tiroler Bürgermeister zusammengeschlossen, um das Einreiseverbot für die Habsburger aufheben zu lassen, das unausgesprochene Fernziel der Neuinstallation der Monarchie durch die Christlichsozialen erfreute sich also einer breiten Unterstützung.

Am 25. Juli 1934 kam es in Wien zu einem Putschversuch der verbotenen Nationalsozialisten, bei dem Dollfuß ums Leben kam. Auch in Innsbruck kam es zu einem Umsturzversuch. Beim Versuch einer Gruppe von Nationalsozialisten die Kontrolle über die Stadt zu gelangen, wurde in der Herrengasse ein Polizist erschossen. Hitler, der die Anschläge nicht angeordnet hatte, distanzierte sich, die österreichischen Gruppen der verbotenen Partei wurden dadurch eingeschränkt. In Innsbruck wurde auf „Verfügung des Regierungskommissärs der Landeshauptstadt Tirols“ der Platz vor dem Tiroler Landestheater als Dollfußplatz geführt. Hier hatte sich Dollfuß bei einer Kundgebung zwei Wochen vor seinem Tod noch mit dem aus Tirol stammenden Heimwehrführer Richard Steidle getroffen.

Dollfuß´ Nachfolger als Kanzler Kurt Schuschnigg (1897 – 1977) war gebürtiger Tiroler und Mitglied der Innsbrucker Studentenverbindung Austria. Er betrieb lange Zeit eine Rechtsanwaltskanzlei in Innsbruck. 1930 gründete er eine paramilitärische Einheit namens Ostmärkische Sturmscharen, die das Gegengewicht der Christlich-Sozialen zu den radikalen Heimwehrgruppen bildeten. Nach dem Februaraufstand 1934 war er als Justizminister im Kabinett Dollfuß mitverantwortlich für die Hinrichtung mehrerer Sozialdemokraten.

Vor allem wirtschaftlich konnte aber auch der Austrofaschismus das Ruder in den 1930er Jahren nicht herumreißen. Die Wirtschaftskrise, die 1931 auch Österreich erreichte und die radikale, populistische Politik der NSDAP befeuerte, schlug hart zu. Die staatlichen Investitionen in große Infrastrukturprojekte kamen zum Erliegen. Die Arbeitslosenquote lag 1933 bei 25%. Die Einschränkung der sozialen Fürsorge, die zu Beginn der Ersten Republik eingeführt worden war, hatte dramatische Auswirkungen. Langzeitarbeitslose wurden vom Bezug von Sozialleistungen als „Ausgesteuerte“ ausgeschlossen. Die Armut ließ die Kriminalitätsrate ansteigen, Überfälle, Raube und Diebstähle häuften sich.

Ein besonderes Problem war wie schon in den Jahrzehnten zuvor die Wohnsituation. Trotz der Bemühungen seitens der Stadt modernen Wohnraum zu schaffen, hausten noch immer viele Innsbrucker in Bruchbuden. Badezimmer oder ein Schlafraum pro Person war die Ausnahme. Seit dem großen Wachstum Innsbrucks ab den 1880er Jahren war die Wohnsituation für viele Menschen prekär. Eisenbahn, Industrialisierung, Flüchtlinge aus den deutschsprachigen Gebieten Italiens und Wirtschaftskrise hatten Innsbruck an den Rand des Möglichen getrieben. Nach Wien hatte Innsbruck die zweithöchste Anzahl an Bewohnern pro Haus vorzuweisen. Die Mietpreise für Wohnraum waren derart hoch, dass Arbeiter häufig in Etappen schliefen, um sich die Kosten zu teilen. Zwar waren vor allem in Pradl neue Wohnblöcke und Obdachlosenunterkünfte entstanden wie das Wohnheim für Arbeiter in der Amthorstraße im Jahr 1907, die Herberge in der Hunoldstraße und der Pembaurblock, das genügte aber nicht um der Situation Herr zu werden. Aus dieser Not und Verzweiflung entstanden an den Randgebieten der Stadt mehrere Barackendörfer und Siedlungen, gegründet von den Ausgeschlossenen, Verzweifelten und Abgehängten, die im System keinen Platz fanden.

Im Kriegsgefangenenlager in der Höttinger Au quartierten sich nach dessen Ausmusterung Menschen in den Baracken ein. Die bis heute bekannteste und berüchtigtste war die Bocksiedlung am Gebiet der heutigen Reichenau. Zwischen dem damals dort beheimateten Flughafen und den Baracken des Konzentrationslagers Reichenau siedelten sich ab 1930 mehrere Familien in Baracken und Wohnwägen an. Die Entstehungslegende spricht von Otto und Josefa Rauth als Gründerinnen, deren Wohnwagen hier strandete. Rauth war nicht nur wirtschaftlich, sondern als bekennender Kommunist in Tiroler Lesart auch moralisch arm. Sein Floß, die Arche Noah, mit dem er über Inn und Donau in die Sowjetunion gelangen wollte, ankerte vor dem Gasthof Sandwirt.

Nach und nach entstand ein Bereich gleichermaßen am Rand der Stadt wie auch der Gesellschaft, der vom inoffiziellen Bürgermeister der Siedlung Johann Bock (1900 – 1975) wie eine unabhängige Kommune geleitet wurde. Er regelte die Agenden in seinem Wirkungsbereich in rau-herzlicher Manier.

Die Bockala hatten einen fürchterlichen Ruf unter den braven Bürgern der Stadt. Bei aller Geschichtsglättung und Nostalgie wohl nicht zu Unrecht. So hilfsbereit und solidarisch die oft exzentrischen Bewohner der Siedlung untereinander sein konnten, waren körperliche Gewalt und Kleinkriminalität an der Tagesordnung. Übermäßiger Alkoholkonsum war gängige Praxis.Die Straßen waren nicht asphaltiert. Fließendes Wasser, Kanalisation und Sanitäranlagen gab es ebenso wenig wie eine reguläre Stromversorgung. Sogar die Versorgung mit Trinkwasser war lange prekär, was die ständige Gefahr von Seuchen mit sich brachte.

Viele, nicht aber alle Bewohner waren arbeitslos oder kriminell. Es waren vielfach Menschen, die durch das System fielen, die sich in der Bocksiedlung niederließen. Das falsche Parteibuch zu haben konnte genügen, um im Innsbruck der 1930er keinen Wohnraum ergattern zu können. Karl Jaworak, der 1924 ein Attentat auf Bundeskanzler Prälat Ignaz Seipel verübte, lebte nach seiner Haft und Deportation in ein Konzentrationslager während des NS-Regimes ab 1958 an der Adresse Reichenau 5a.

Die Ausstattung der Behausungen der Bocksiedlung war ebenso heterogen wie die Bewohner. Es gab Wohn- und Zirkuswägen, Holzbaracken, Wellblechhütten, Ziegel- und Betonhäuser. Die Bocksiedlung hatte auch keine fixen Grenzen. Bockala zu sein war in Innsbruck ein sozialer Status, der zu einem großen Teil in der Imagination der Bevölkerung entstand.

Innerhalb der Siedlung kam es zu Vermietung und Verkauf der errichteten Häuser und Wägen. Unter Duldung der Stadt Innsbruck entstanden ersessene Werte. Die Bewohner bewirtschafteten Selbstversorgergärten und hielten Vieh, auch Hund und Katze standen in kargen Zeiten am Speiseplan.

Die Luftangriffe des Zweiten Weltkrieges verschärften die Wohnsituation in Innsbruck und ließen die Bocksiedlung wachsen. Um die 50 Unterkünfte sollen es am Höhepunkt gewesen sein. Auch die Baracken des Konzentrationslagers Reichenau wurden als Schlafplätze genutzt, nachdem die letzten inhaftierten Nationalsozialisten, die dort verwahrt wurden, verlegt oder freigelassen worden waren, allerdings zählte das KZ nicht zur Bocksiedlung im engeren Sinn.

Der Anfang vom Ende waren die Olympischen Spielen von 1964 und ein Brand in der Siedlung ein Jahr zuvor. Böse Zungen behaupten, dieser sei gelegt worden, um die Räumung zu beschleunigen.  1967 verhandelten Bürgermeister Alois Lugger und Johann Bock, Erzählungen nach in alkoholgeschwängerter Atmosphäre, über das weitere Vorgehen und Entschädigungen seitens der Gemeinde für die Räumung. 1976 wurden die letzten Quartiere wegen hygienischer Mängel geräumt.

Viele ehemalige Bewohner der Bocksiedlung wurden nach den Olympischen Spielen in städtische Wohnungen in Pradl, der Reichenau und im O-Dorf einquartiert. Die Sitten der Bocksiedlung lebten noch einige Jahre fort, was den schlechten Ruf der städtischen Wohnblöcke dieser Stadtviertel bis heute ausmacht.

Eine Aufarbeitung dessen, was von vielen Historikern als Austrofaschismus bezeichnet wird, ist in Österreich bisher kaum passiert. So sind in der Kirche St. Jakob im Defereggen in Osttirol oder in der Pfarrkirche Fritzens noch Bilder mit Dollfuß als Beschützer der katholischen Kirche mehr oder minder unkommentiert zu sehen. In vielen Belangen reicht das Erbe der gespaltenen Situation der Zwischenkriegszeit in die Gegenwart. Bis heute gibt es rote und schwarze Autofahrerclubs, Sportverbände, Rettungsgesellschaften und Alpinverbände, deren Wurzeln in diese Zeit zurückreichen.

Die Geschichte der Bocksiedlung wurde in vielen Interviews und mühsamer Kleinarbeit vom Stadtarchiv für das Buch „Bocksiedlung. Ein Stück Innsbruck“ des Stadtarchivs lesenswert aufbereitet.

Andreas Hofer und die Tiroler Erhebung von 1809

Die Zeit der Napoleonischen Kriege bescherte dem Land Tirol ein nationales Epos und mit Andreas Hofer einen Helden, dessen Glanz bis in die heutige Zeit strahlt. Grund dafür war einmal mehr eine Auseinandersetzung mit dem nördlichen Nachbarn und dessen Verbündeten. Das Königreich Bayern war während der Napoleonischen Kriege mit Frankreich verbündet und konnte in mehreren Auseinandersetzungen zwischen 1796 und 1805 das Land Tirol von den Habsburgern übernehmen. Innsbruck war nicht mehr Hauptstadt eines Kronlandes, sondern nur noch eine von vielen Kreishauptstädten der Verwaltungseinheit Innkreis.

Ganz vom Geist der Aufklärung, der Vernunft und der Französischen Revolution beseelt, machten sich die neuen Landesherren daran, die althergebrachte Ordnung umzukrempeln. Vielen Bürgern kam der frische Wind nicht ungelegen. Moderne Gesetze wie die Gassen-Säuberungs-Ordnung oder eine verpflichtende Pockenimpfung sollten Sauberkeit und Gesundheit in der Stadt zuträglich sein. Zu Anfang des 19. Jahrhunderts verstarb noch immer eine beträchtliche Anzahl von Menschen an Krankheiten, die auf mangelnde Hygiene und verseuchtem Trinkwasser zurückzuführen waren. Ein neues Steuersystem wurde eingeführt und die Befugnisse des Adels weiter verringert. Die bayerische Verwaltung erlaubt das 1797 verbotene Vereinswesen wieder. Auch das Zurückdrängen der Kirche aus dem Bildungswesen gefiel liberalen Innsbruckern. So wurde der Benediktinerpater und spätere Mitbegründer des Musikvereins Innsbrucks Martin Goller wurde nach Innsbruck berufen, um die musikalische Ausbildung zu forcieren.

Diese Reformen behagten einem großen Teil der Tiroler Bevölkerung nicht. Die Durchführung katholischer Prozessionen und religiöser Feste fielen dem aufklärerischen Programm der neuen Landesherren zum Opfer. Die Unzufriedenheit wuchs stetig. Der Funke, der das Pulverfass zur Explosion brachte, war die Aushebung junger Männer zum Dienst in der bayrisch-napoleonischen Armee, obwohl Tiroler seit dem Landlibell, einem Gesetz Kaiser Maximilians, nur für die Verteidigung der eigenen Grenzen herangezogen werden durften. Am 10. April kam es bei einer Aushebung in Axams bei Innsbruck zu einem Tumult, der schließlich zu einem Aufstand führte.

Für Gott, Kaiser und Vaterland kamen Abteilungen der Tiroler Landesverteidigung zusammen, um den kleinen Armeeteil und die Verwaltungsbeamten der Bayern aus Innsbruck zu vertreiben. Angeführt wurden die Schützen von Andreas Hofer (1767 – 1810), einen Wirt, Wein- und Pferdehändler aus dem Südtiroler Passeiertal bei Meran. Ihm zur Seite standen nicht nur weitere Tiroler wie Pater Haspinger, Peter Mayr und Josef Speckbacher, sondern im Hintergrund auch der Habsburger Erzherzog Johann.

In Innsbruck angekommen plünderten die Schützen nicht nur offizielle Einrichtungen. Wie bereits beim Bauernaufstand unter Michael Gaismair war der Heldenmut nicht nur von Adrenalin, sondern auch von Alkohol beflügelt. Der wilde Mob war für die Stadt wohl schädlicher als die bayrischen Verwalter seit 1805. Vor allem gegen bürgerliche Damen und den kleinen jüdischen Bevölkerungsanteil Innsbrucks kam es zu heftigen Ausschreitungen der „Befreier“.

Im Juli 1809 hatten Bayern und Franzosen die Kontrolle über Innsbruck nach dem mit den Habsburgern geschlossenen Frieden von Znaim, der vielen bis heute als Wiener Verrat am Land Tirol gilt, zurückerlangt. Was nun folgte, war das, was als Tiroler Erhebung unter Andreas Hofer, der mittlerweile das Oberkommando über die Tiroler Landesverteidigung übernommen hatte, in die Geschichtsbücher eingehen sollte. Insgesamt drei Mal konnten die Tiroler Aufständischen den Sieg vom Schlachtfeld tragen. Besonders bekannt ist die 3. Schlacht im August 1809 am Berg Isel. „Innsbruck sieht und hört, was es noch nie gehört und gesehen: eine Schlacht von 40.000 Kombattanten…

Für kurze Zeit war Andreas Hofer in Ermangelung regulärer Tatsachen Oberkommandant Tirols, auch für zivile Angelegenheiten. Die Kosten für Kost und Logis dieses Bauernregiments musste die Stadt Innsbruck tragen. Besonders die liberalen und vermögenden Kreise der Stadt waren nicht glücklich mit den neuen Stadtherren. Die von ihm als Landeskommandant erlassenen Verordnungen erinnern eher an einen Gottesstaat als ein Gesetzwerk des 19. Jahrhunderts. Frauen durften nur noch züchtig verhüllt auf die Straße gehen, Tanzveranstaltungen wurden verboten und freizügige Denkmäler wie die am Leopoldsbrunnen zu besichtigenden Nymphen wurden aus dem öffentlichen Raum verbannt. Bildungsagenden sollten wieder an den Klerus gehen. Liberale und Intellektuelle wurden verhaftet, dafür wurde das Rosenkranzbeten zum Gebot.

Am Ende gab es im Herbst 1809 in der vierten und letzten Schlacht am Berg Isel eine empfindliche Niederlage gegen die französische Übermacht. Die Regierung in Wien hatte die Tiroler Aufständischen vor allem als taktischen Prellbock im Krieg gegen Napoleon benutzt. Bereits zuvor hatte der Kaiser das Land Tirol offiziell im Friedensvertrag von Schönbrunn wieder abtreten müssen. Innsbruck war zwischen 1810 und 1814 wieder unter bayrischer Verwaltung. Auch die Bevölkerung war nur noch mäßig motiviert, Krieg zu führen. Wilten wurde von den Kampfhandlungen stark in Mitleidenschaft gezogen. Das Dorf schrumpfte von über 1000 Einwohnern auf knapp 700. Hofer selbst war zu dieser Zeit bereits ein von der Belastung dem Alkohol gezeichneter Mann. Er wurde gefangengenommen und am 20. Januar 1810 in Mantua hingerichtet.

Der „Freiheitskampf“ symbolisiert bis heute für das Tiroler Selbstverständnis. Lange Zeit galt Andreas Hofer als unumstrittener Held und als Prototyp des wehrhaften, vaterlandstreuen und standhaften Tirolers. Der Underdog, der sich gegen die fremde Übermacht und unheilige Sitten wehrte. Tatsächlich war Hofer wohl ein charismatischer Anführer, ein politisch aber unbegabter und konservativ-klerikaler, simpler Geist. Seine Taktik bei der 3. Schlacht am Berg Isel „Grad nit aufferlassen tiat sie“ (Ann.: Ihr dürft sie nur nicht heraufkommen lassen) fasst sein Wesen wohl ganz gut zusammen.

In konservativen Kreisen Tirols wie den Schützen wird Hofer unkritisch und kultisch verehrt. Das Tiroler Schützenwesen ist gelebtes Brauchtum, das sich zwar modernisiert hat, in vielen dunklen Winkeln aber noch reaktionär ausgerichtet ist. Wiltener, Amraser, Pradler und Höttinger Schützen marschieren immer noch einträchtig neben Klerus, Trachtenvereinen und Marschmusikkapellen bei kirchlichen Prozessionen und schießen in die Luft, um alles Übel von Tirol und der katholischen Kirche fernzuhalten.

Über die Stadt verteilt erinnern viele Denkmäler an das Jahr 1809. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts erfuhr eine Heroisierung der Kämpfer, die als deutsches Bollwerk gegen fremde Völkerschaften charakterisiert wurden. Der Berg Isel wurde der Stadt für die Verehrung der Freiheitskämpfer vom Stift Wilten, der katholischen Instanz Innsbrucks, zur Verfügung gestellt. Andreas Hofer und seinen Mitstreitern Josef Speckbacher, Peter Mayer, Pater Haspinger und Kajetan Sweth wurden im Stadtteil Wilten, das in der Zeit des großdeutsch-liberal dominierten Gemeinderats 1904 zu Innsbruck kam und lange unter der Verwaltung des Stiftes gestanden hatte, Straßennamen gewidmet. Das kurze Rote Gassl im alten Kern von Wilten erinnert an die Tiroler Schützen, die, in ihnen wohl fälschlich nachgesagten roten Uniformen, dem siegreichen Feldherrn Hofer nach dem Sieg in der zweiten Berg Isel Schlacht an dieser Stelle in Massen gehuldigt haben sollen.

In Tirol wird Andreas Hofer bis heute gerne für alle möglichen Initiativen und Pläne vor den Karren gespannt. Vor allem im Nationalismus des 19. Jahrhunderts berief man sich immer wieder auf den verklärten Helden Andreas Hofer. Hofer wurde über Gemälde, Flugblätter und Schauspiele zur Ikone stilisiert. Aber auch heute noch kann man das Konterfei des Oberschützen sehen, wenn sich Tiroler gegen unliebsame Maßnahmen der Bundesregierung, den Transitbestimmungen der EU oder der FC Wacker gegen auswärtige Fußballvereine zur Wehr setzen. Das Motto lautet dann „Mannder, s´isch Zeit!“. Die Legende vom wehrfähigen Tiroler Bauern, der unter Tags das Feld bestellt und sich abends am Schießstand zum Scharfschützen und Verteidiger der Heimat ausbilden lässt, wird immer wieder gerne aus der Schublade geholt zur Stärkung der „echten“ Tiroler Identität. Die Feiern zum Todestag Andreas Hofers am 20. Februar locken bis heute regelmäßig Menschenmassen aus allen Landesteilen Tirols in die Stadt. 

Erst in den letzten Jahrzehnten setzte eine kritische Betrachtung des erzkonservativen und mit seiner Aufgabe als Tiroler Landeskommandanten wohl überforderten Schützenhauptmanns ein, der angestachelt von Teilen der Habsburger und der katholischen Kirche nicht nur Franzosen und Bayern, sondern auch das liberale Gedankengut der Aufklärung vehement aus Tirol fernhalten wollte.