Rapoldipark

Leipziger Platz

Wissenswert

Zwischen Leipzigerplatz, Sill und den Pradler Bauernhöfen beim Florianibrunnen erstreckt sich eine der grünen Oasen Innsbrucks. Der Rapoldipark ist ob seiner zentralen Lage, den vielfältigen Möglichkeiten und der gepflegten Gartenanlage beliebt bei Alt und Jung. Die Entwicklung von ein paar Spazierwegen hin zum Sport- und Spielparadies dauerte fast 100 Jahre.

Den Anfang nahm der Park zwischen dem 1861 in Betrieb gegangenen Gaswerk und dem Leipziger Platz. Neben den herrschaftlichen Bürgerhäusern erhielt sich eine kleine unverbaute Fläche. Während der von Hunger geprägten letzten Jahre des Ersten Weltkrieges wurden hier Schrebergärten zur Versorgung der Bevölkerung angelegt.

Nach dem Krieg wurden die freigewordenen Flächen südlich des Gaswerks in einen Park umgebaut. Der Rapoldipark war ein typisches Projekt der Ersten Republik. Die von jungen Bäumen gesäumten Spazierwege und Bänke vor dem mächtigen Werksgebäude sollten der in Pradl ansässigen Arbeiterschaft ein wenig Ruhe und Erholung ermöglichen. Die Grundstruktur des alten, südlichen Teils des Parks beruht noch immer auf diesen Plänen.

Die offizielle Eröffnung als Parkanlage fand 1927 statt, zwei Jahre vor der Fertigstellung des benachbarten Städtischen Hallenbades. Namensgeber war der kurz zuvor verstorbene sozialdemokratische Politiker Martin Rapoldi, der sich im Arbeiterbezirk Pradl höchster Beliebtheit erfreut hatte.

Auch während des Zweiten Weltkrieges und den ersten Jahren der Nachkriegszeit wurde die Anlage wieder als Ackerfläche genutzt. 1958 wurde das sehenswerte, aber nicht unumstrittene Symbol des Rapoldiparks aufgestellt. Der Künstler Hans Plangger (1899 – 1971) hatte den Salige-Fräulein-Brunnen 1944 für die Gau-Kunstausstellung Tirol-Vorarlberg entworfen. Final ausgeführt und aufgestellt wurde sie allerdings erst nach Beauftragung durch den Gemeinderat im Jahr 1953. Die nationalsozialistische Ästhetik, Formensprache und Symbolik fand offenbar noch immer großen Zu- und wenig Widerspruch.

Der gebürtige Südtiroler Plangger hatte sein Studium wie viele seiner Künstlerkollegen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bei Josef Müllner an der Akademie der Bildenden Künste absolviert. Seinen Einstieg in die nationalsozialistischen Kunstszene schaffte er 1937 auf der Großen Deutsche Kunstausstellung in München. Er zählte dank seiner klaren Formensprache und Ästhetik zu den geförderten Künstlern des Systems. Ursprünglich geplanter Aufstellungsort war der Rennweg. Dort sollte es als Hintergrund und Aufputz für Aufmärsche der Nationalsozialisten dienen. Das monumentale, aus einem Marmorblock gefertigte Kunstwerk zeigt drei barbusige Frauen und einen Faun, der hinter den Damen sitzt. Die Saligen Frauen sind Sagengestalten aus dem alpinen Raum vorchristlicher Zeiten. Sie galten in vielen europäischen Kulturen in verschiedener Form als Archetyp für Reinheit und Weisheit. In vielen Geschichten und Überlieferungen werden sie als Bewahrer vor Missernten, Unglück und Unfruchtbarkeit geschildert. Plangger gab ihnen am Brunnen die Form der idealisierten, arisch-tugendhaften Frau, stark und weiblich-mütterlich zugleich.

1974 wurde das Gaswerk etwas weiter in den Osten an den Sillzwickl verlegt. Der Spirit der 1970er, aus dem später die ersten Umweltschutzbewegungen hervorgehen sollten, machte sich in der Bevölkerung und der Stadtplanung bemerkbar. Anders als auf den Zelgergründen bei der Triumphpforte, wo 45 Jahre zuvor anstatt eines Parks das umstrittene Hochhaus gebaut wurde, zeigte man Mut zum Grünen. Eine Bürgerbefragung ergab, dass der neue, nördliche Teil des Rapoldiparks nicht als distanzierte viktorianische Anlage, sondern naturbelassen gestaltet werden sollte. Innerhalb von drei Jahren entstanden an der ehemaligen Stelle des kohleverbrennenden Gaswerks ein Spielplatz, eine Liegewiese, ein Sportplatz, Tischtennistische, Bocciabahnen und der Ententeich. Während der jüngsten Renovierungen veränderte sich der Park vom naturbelassenen Projekt der 1970er nur in Details.

Auch dieser neue Teil erhielt in den 1980er Jahren einen Brunnen. Der in Pradl aufgewachsene Künstler Helmut Schober gestaltete gemeinsam mit dem Mailänder Architekten Flavio Conti eine bronzene Brunnenskulptur auf einem mit Natursteinen gepflasterten Viereck. Der Kreis, der für das Göttliche steht, verbindet sich mit dem Quadrat, dem Symbol für das Weltliche. Die gewellte Oberfläche des Kreises wird vom Wasser sanft umspült und symbolisiert Christus, der von Thomas von Aquin mit einer das Universum überflutenden Welle verglichen wurde.

Der Rapoldipark genoss nicht immer den besten Ruf. Obdachlose und Drogenabhängige suchten den Park ebenso gerne auf wie Familien. Pradler sind trotzdem stolz auf ihre grüne Lunge am Rand der Innenstadt, frei nach dem Motto: „In Pradl wohnt der Adel“.

Die Rapoldis: Kommunalpolitik und Widerstand

Das Ehepaar Martin (1880 – 1926) und Maria Rapoldi (1884 – 1975) zählten vom Ende der Monarchie bis in die Nachkriegszeit zu den beeindruckendsten Persönlichkeiten der Innsbrucker Stadtpolitik. Martin Rapoldi war über Kärnten, Wien und Böhmen nach Innsbruck gekommen. Während seiner Tischlerlehre kam er erstmals mit sozialkritischen Ideen in Berührung. Gemeinsam mit anderen Lehrlingen gründete er in Klagenfurt mit jugendlichem Eifer eine Art anarchistischer Gewerkschaft. In der Hauptstadt der Donaumonarchie und in Zatek in der heutigen Tschechei, engagierte er sich in Gewerkschaft und der kurz zuvor offiziell gegründeten Sozialdemokratischen Partei. 1904 übersiedelte er nach Innsbruck, wo der Mitzwanziger bald als ambitionierter Organisator und mitreißender Redner auffiel. Im Jahr darauf heiratete er seine Frau Maria, die ebenfalls politisch aktiv war. Dank seiner sprachlichen Begabung übernahm er in den folgenden Jahren die Volkszeitung, das Pressorgan der Tiroler Sozialdemokratie. Trotz anfänglicher Euphorie für den Kriegseintritt auch auf Seiten der Sozialdemokratie setzte sich der als antiklerikaler Pfaffenfresser bekannte Rapoldi bald für den Frieden und die Einführung des allgemeinen Wahlrechts auch auf Kommunalebene ein. Ganz auf Parteilinie war er nach 1918 Anhänger eines Zusammenschlusses mit dem Deutschen Reich.

In den frühen Jahren der Ersten Republik legte er eine kurze, aber steile Karriere hin. Er wurde zum Landtagsabgeordneten in Tirol und Mitglied des ersten Nationalrates in Wien erkoren. In Innsbruck schaffte er es die Sozialdemokraten zur stärksten Partei im Gemeinderat zu machen.  Auf Grund der antisozialistischen Haltung der anderen Fraktionen im Gemeinderat konnte er aber den Bürgermeisterposten nie besetzen. Ein besonderes Anliegen waren ihm der Wohnungsbau und die städtische Energieversorgung. Während Rapoldis Zeit im Gemeinderat entstanden in Dreiheiligen und Pradl die Großprojekte Schlachthofblock, Pembaurblock sowie der Schule und Kindergarten in der heutigen Pembaurstraße. Er war maßgeblich am Aufbau der Innsbrucker Lichtwerke, den heutigen Innsbrucker Kommunalbetrieben, beteiligt. Mit Kriegsende begannen die Verhandlungen zwischen der Stadt Innsbruck und dem Kloster St. Georgenberg über den Kauf des Achensees für den Bau eines Kraftwerks. Sowohl bei der Errichtung der Achenseebahn, des Achenseekraftwerkes und der Gründung der Tiroler Wasserkraft TIWAG war Martin Rapoldi die treibende Kraft. 1926 verstarb der umtriebige Rote Tischlergeselle mit nur 46 Jahren an den Folgen einer Nierenentzündung.

Nicht weniger eindrucksvoll ist die Vita seiner Frau Maria. Im elterlichen Haushalt in Wörgl kam sie früh mit sozialdemokratischen Ideen in Kontakt. Die gelernte Buchhalterin übersiedelte nach Innsbruck. Wahrscheinlich bei ihrer Arbeit für die Krankenkasse lernte sie ihren zukünftigen Ehemann kennen. Trotz ihrer beiden kleinen Töchter engagierte sich Maria bereits 1912 auf der Landesfrauenkonferenz der Sozialdemokratinnen. Nach dem Tod ihres Mannes blieb sie weiterhin in der Sozialdemokratie aktiv. Als Mitarbeiterin der Volkszeitung kam sie in den Jahren des Austrofaschismus immer wieder ins Visier der Vaterländischen Front. Nachdem die Volkszeitung im Rahmen der Zensur durch das Regime verboten wurde, musste sie sich als erwerbslose Witwe durchschlagen. Sie eröffnete ein Stempelgeschäft in der Altstadt. Gleichzeitig war sie im Untergrund an der Roten Hilfe, der Unterstützung von Familien inhaftierter Mitglieder des Republikanischen Schutzbundes. Während der Zeit des Nationalsozialismus wurde sie für kurze Zeit inhaftiert. Nach dem Krieg trat sie auch in offizieller Funktion aus dem Schatten ihres jung verstorbenen Gatten Martin. Von 1946 – 1959 war sie Mitglied des Innsbrucker Gemeinderats. Sie setzte sich für soziale Agenden wie Altersheime, Kinderheime, die Verbesserung der Lebensmittel- und Krankenversorgung in der Nachkriegszeit ein. Als Mitglied des Tiroler Hilfswerks, des Stadtschulrats des Kuratoriums des Waisenheimes Sieberer und des Verwaltungsausschusses des Innsbrucker Realgymnasiums für Mädchen

Martin und Maria Rapoldi sind in einem sehenswerten Ehrengrab am Westfriedhof beigesetzt. Der 1927 eröffnete Park in Pradl trägt ebenfalls den Namen der beiden erinnerungswürdigen Stadtpolitiker. In Kranebitten errichtete die Sozialdemokratische Partei nach Martins frühem Tod ein Denkmal für ihn, das 1934 von Mitgliedern der Heimatwehr zerstört wurde.

Eine Republik entsteht

Kaum eine Epoche ist schwerer zu fassen als die Zwischenkriegszeit. Die Roaring Twenties, Jazz und Automobile kommen einem ebenso in den Sinn wie Inflation und Wirtschaftskrise. In Großstädten wie Berlin gebärdeten sich junge Damen als Flappers mit Bubikopf, Zigarette und kurzen Röcken zu den neuen Klängen lasziv, Innsbrucks Bevölkerung gehörte als Teil der jungen Republik Österreich zum größten Teil zur Fraktion Armut, Wirtschaftskrise und politischer Polarisierung.

Die Republik Deutschösterreich war zwar ausgerufen, wie es in Österreich weitergehen sollte, war unklar. Das neue Österreich erschien zu klein und nicht lebensfähig. Monarchie und Adel wurden verboten. Der Beamtenstaat des k.u.k. Reiches setzte sich nahtlos unter neuer Fahne und Namen durch. Die Bundesländer als Nachfolger der alten Kronländer erhielten in der Verfassung im Rahmen des Föderalismus viel Spielraum in Gesetzgebung und Verwaltung. Die Begeisterung für den neuen Staat hielt sich aber in der Bevölkerung in Grenzen. Nicht nur, dass die Versorgungslage nach dem Wegfall des allergrößten Teils des ehemaligen Riesenreiches der Habsburger miserabel war, die Menschen misstrauten dem Grundgedanken der Republik. Die Monarchie war nicht perfekt gewesen, mit dem Gedanken von Demokratie konnten aber nur die allerwenigsten etwas anfangen. Anstatt Untertan des Kaisers war man nun zwar Bürger, allerdings nur Bürger eines Zwergstaates mit überdimensionierter und in den Bundesländern wenig geliebter Hauptstadt anstatt eines großen Reiches. In den ehemaligen Kronländern, die zum großen Teil christlich-sozial regiert wurden, sprach man gerne vom Wiener Wasserkopf, der sich mit den Erträgen der fleißigen Landbevölkerung durchfüttern ließ.

Auch andere Bundesländer spielten mit dem Gedanken, sich von der Republik abzukoppeln, nachdem der von allen Parteien unterstützte Plan sich Deutschland anzuschließen von den Siegermächten des Ersten Weltkriegs untersagt worden war. Die Tiroler Pläne allerdings waren besonders spektakulär. Von einem neutralen Alpenstaat mit anderen Bundesländern, einem Freistaat bestehend aus Tirol und Bayern oder von Kufstein bis Salurn, einem Anschluss an die Schweiz bis hin zu einem katholischen Kirchenstaat unter päpstlicher Führung gab es viele Überlegungen. Besonders populär war die naheliegendste Lösung. In Tirol war es nicht neu, sich als Deutscher zu fühlen. Warum sich also nicht auch politisch an den großen Bruder im Norden anhängen? Besonders unter städtischen Eliten und Studenten war dieser Wunsch sehr ausgeprägt. Der Anschluss an Deutschland erhielt in Tirol bei einer Abstimmung in Tirol einen Zuspruch von 98%, kam aber nie zustande.

Anstatt ein Teil Deutschlands zu werden, unterstand man den ungeliebten Wallschen. Knapp zwei Jahre lang besetzten italienische Truppen nach Kriegsende Innsbruck. Bei den Friedensverhandlungen in Paris war wurde der Brenner zur neuen Grenze erklärt. Das historische Tirol war zweigeteilt. Am Brenner stand Militär, um eine Grenze zu sichern, die es vorher nie gab und als unnatürlich und ungerecht empfunden wurde. 1924 beschloss der Innsbrucker Gemeinderat, Plätze und Straßen rund um den Hauptbahnhof nach Südtiroler Städten zu benennen. Der Bozner Platz sowie die Brixner- und die Salurnerstraße tragen ihre Namen bis heute. Viele Menschen zu beiden Seiten des Brenners fühlten sich verraten. Man hatte den Krieg zwar bei Weitem nicht gewonnen, als Verlierer gegenüber Italien sah man sich aber nicht. Der Hass auf Italiener erreichte in der Zwischenkriegszeit seinen Höhepunkt, auch wenn die Besatzungstruppen sich betont milde gab. Eine Passage aus dem Erzählband „Die Front über den Gipfeln“ des nationalsozialistischen Autors Karl Springenschmid aus den 1930ern spiegelt die allgemeine Stimmung wider:

„`Walsch (Anm.:Italienisch) werden, das wär das Ärgste!` sagt die Junge.

Da nickt der alte Tappeiner bloß und schimpft: `Weiß wohl selber und wir wissen es alle: Walsch werden, das wär das Ärgste.“

Ungemach drohte auch in der Innenpolitik. Die Revolution in Russland und der darauffolgende Bürgerkrieg mit Millionen von Todesopfern, Enteignung und kompletter Systemumkehr warf ihren langen Schatten bis nach Österreich. Die Aussicht auf sowjetische Zustände machte den Menschen Angst. Österreich war tief gespalten. Hauptstadt und Bundesländer, Stadt und Land, Bürger, Arbeiter und Bauern – im Vakuum der ersten Nachkriegsjahre wollte jede Gruppe die Zukunft nach ihren Vorstellungen gestalten. Die Kluft bestand nicht nur auf politischer Ebene. Moral, Familie, Freizeitgestaltung, Erziehung, Glaube, Rechtsverständnis – jeder Lebensbereich war betroffen. Wer sollte regieren? Wie sollten Vermögen, Rechte und Pflichten verteilt werden. Ein kommunistischer Umsturz war besonders in Tirol keine reale Gefahr, ließ sich aber medial gut als Bedrohung instrumentalisieren, um die Sozialdemokratie in Verruf zu bringen. 1919 hatte sich in Innsbruck zwar ein Arbeiter-, Bauer- und Soldatenrat nach sowjetischem Vorbild ausgerufen, sein Einfluss blieb aber gering und wurde von keiner Partei unterstützt. Die ab 1920 offiziell gebildeten Soldatenräte waren christlich-sozial dominiert. Das bäuerliche und bürgerliche Lager rechts der Mitte militarisierte sich in Folge mit der Tiroler Heimatwehr professioneller und in größerer Zahl als linke Gruppen. Die Sozialdemokratie wurde von den Kirchkanzeln herab und in konservativen Medien trotzdem als Judenpartei und heimatlose Vaterlandsverräter bezeichnet. Allzu gerne gab man ihnen die Schuld am verlorenen Krieg und den Folgen gab. Der Tiroler Anzeiger brachte die Volksängste auf den Punkt: “Wehe dem christlichen Volke, wenn bei den Wahlen die Juden=Sozi siegen!“.

Während in den ländlichen Bezirken die Tiroler Volkspartei als Zusammenschluss aus Bauernbund, Volksverein und Katholischer Arbeiterschaft dominierte, konnte die Sozialdemokratie unter der Führung von Martin Rapoldi trotz des starken Gegenwindes in Innsbruck bei den ersten Wahlen 1919 stets zwischen 30 und 50% der Stimmen erringen. Dass es mit dem Bürgermeistersessel für die Genossen nicht klappte, lag an den Mehrheiten im Gemeinderat durch Bündnisse der anderen Parteien. Liberale und Tiroler Volkspartei stand der Sozialdemokratie gegenüber mindestens so ablehnend gegenüber wie der Bundeshauptstadt Wien und den italienischen Besatzern.

Die hohe Politik war aber nur der Rahmen des eigentlichen Elends. Die als Spanische Grippe in die Geschichte eingegangene Epidemie forderte in den Jahren nach dem Krieg auch in Innsbruck ihren Tribut. Genaue Zahlen wurden nicht erfasst, weltweit schätzt man die Zahl der Todesopfer auf 27 – 50 Millionen. Viele Innsbrucker waren von den Schlachtfeldern nicht nach Hause zurückgekehrt und fehlten als Väter, Ehemänner und Arbeitskräfte. Viele von denen, die es zurückgeschafft hatten, waren verwundet und von den Kriegsgräueln gezeichnet. Noch im Februar 1920 veranstaltete der „Tiroler Ausschuss der Sibirier“ im Gasthof Breinößl „…zu Gunsten des Fondes zur Heimbeförderung unserer Kriegsgefangenen…“ einen Benefizabend. Noch lange nach dem Krieg bedurfte das Land Tirol Hilfe von auswärts, um die Bevölkerung zu ernähren. Unter der Überschrift „Erhebliche Ausdehnung der amerikanischen Kinderhilfsaktion in Tirol“ stand am 9. April 1921 in den Innsbrucker Nachrichten zu lesen: „Den Bedürfnissen des Landes Tirol Rechnung tragend, haben die amerikanischen Vertreter für Oesterreich in hochherzigster Weise die tägliche Mahlzeitenanzahl auf 18.000 Portionen erhöht.“

Dazu kam die Arbeitslosigkeit. Vor allem Beamte und Mitarbeiter im öffentlichen Dienst, hatten ihre Arbeit verloren, nachdem der Völkerbund seine Anleihe an herbe Sparmaßnahmen geknüpft hatte. Der Tourismus als Wirtschaftsfaktor war ob der Probleme in den umliegenden, vom Krieg ebenfalls gebeutelten Ländern inexistent. Viele Menschen verloren ihre Bleibe. 1922 waren in Innsbruck 3000 Familien auf Wohnungssuche trotz eines städtischen Notwohnungsprogrammes, das bereits mehrere Jahre in Kraft war. In alle verfügbaren Objekte wurden Wohnungen gebaut. Am 11. Februar 1921 fand sich in einer langen Liste in den Innsbrucker Nachrichten über die einzelnen Projekte, die betrieben wurden unter anderem dieser Posten:

Das städtische Krankenhaus hat die Seuchenbaracke in Pradl aufgelassen und der Stadtgemeinde zur Herstellung von Notwohnungen zur Verfügung gestellt. Zur Errichtung von 7 Notwohnungen wurde der erforderliche Kredit von 295 K (Anm.: Kronen) bewilligt.

In den ersten Jahren passierte nur sehr wenig. Erst mit der Währungssanierung und der Einführung des Schillings 1925 als neuer Währung unter Kanzler Ignaz Seipel begann Innsbruck sich zumindest oberflächlich zu erholen und konnte die Modernisierung der Stadt einleiten. Es trat das ein, was Wirtschaftswissenschaftler eine Scheinblüte nennen. Diese Bubble bescherte der Stadt Innsbruck große Projekte wie das Tivoli, das Städtische Hallenbad, die Höhenstraße auf die Hungerburg, die Bergbahnen auf den Berg Isel und die Nordkette, neue Schulen und Wohnblöcke. Die Stadt kaufte den Achensee und errichtete als Hauptaktionär der TIWAG das Kraftwerk in Jenbach. Die Handschrift der neuen, großen Massenparteien in der Gestaltung dieser Projekte ist dabei nicht zu übersehen.

Die erste Republik war eine schwere Geburt aus den Überbleibseln der einstigen Monarchie und sie sollte nicht lange halten. Trotz der Nachkriegsprobleme passierte in der Ersten Republik aber auch viel Positives. Aus Untertanen wurden Bürger. Was in der Zeit Maria Theresias begann, wurde nun unter neuen Vorzeichen weitergeführt. Der Wechsel vom Untertanen zum Bürger zeichnete sich nicht nur durch ein neues Wahlrecht, sondern vor allem durch die verstärkte Obsorge des Staates aus. Staatliche Regelungen, Schulen, Kindergärten, Arbeitsämter, Krankenhäuser und städtische Wohnanlagen traten an die Stelle des Wohlwollens des Grundherren, Landesfürsten, wohlhabender Bürger, der Monarchie und der Kirche.

Bis heute basiert vieles im österreichischen Staatswesen sowie im Innsbrucker Stadtbild und der Infrastruktur auf dem, was nach dem Zusammenbruch der Monarchie entstanden war. In Innsbruck gibt es keine bewussten Erinnerungsorte an die Entstehung der Ersten Republik in Österreich. Die denkmalgeschützten Wohnanlagen wie der Schlachthofblock, der Pembaurblock oder der Mandelsbergerblock oder die Pembaurschule sind Stein gewordene Zeitzeugen.

Auferstanden aus Ruinen

Nach Kriegsende kontrollierten US-Truppen für zwei Monate Tirol. Anschließend übernahm die Siegermacht Frankreich die Verwaltung. Den Tirolern blieb die sowjetische Besatzung, die über Ostösterreich hereinbrach, erspart. Besonders in den ersten drei Nachkriegsjahren war der Hunger der größte Feind der Menschen. Der Mai 1945 brachte nicht nur das Kriegsende, sondern auch Schnee. Der Winter 1946/47 ging als besonders kalt und lang in die Tiroler Klimageschichte ein, der Sommer als besonders heiß und trocken. Es kam zu Ernteausfällen von bis zu 50%.

Die Versorgungslage war vor allem in der Stadt in der unmittelbaren Nachkriegszeit katastrophal. Die tägliche Nahrungsmittelbeschaffung wurde zur lebensgefährlichen Sorge im Alltag der Innsbrucker. Neben den eigenen Bürgern mussten auch tausende von Displaced Persons, freigekommenen Zwangsarbeitern und Besatzungssoldaten ernährt werden. Um diese Aufgabe zu bewältigen, war die Tiroler Landesregierung auf die Hilfe von außerhalb angewiesen. Der Vorsitzende der UNRRA (Anm.: United Nations Relief and Rehabilitation Administration), die Kriegsgebiete mit dem Nötigsten versorgte, Fiorello La Guardia zählte Österreich „zu jenen Völkern der Welt, die dem Hungertod am nächsten sind.“ Milch, Brot, Eier, Zucker, Mehl, Fett – von allem war zu wenig da. Die französische Besatzung konnte den Bedarf an benötigten Kilokalorien pro Kopf nicht abdecken, fehlte es doch der eigenen Bevölkerung und den Einsatzkräften oft an der Versorgung. Bis 1946 entnahmen sie der Tiroler Wirtschaft sogar Güter.

Die Lebensmittelversorgung erfolgte schon wenige Wochen nach Kriegsende über Lebensmittelkarten. Erwachsene mussten eine Bestätigung des Arbeitsamtes vorlegen, um an diese Karten zu kommen. Die Rationen unterschieden sich je nach Kategorie der Arbeiter. Schwerstarbeiter, Schwangere und stillende Mütter erhielten Lebensmittel im „Wert“ von 2700 Kalorien. Handwerker mit leichten Berufen, Beamte und Freiberufler erhielten 1850 Kilokalorien, Angestellte 1450 Kalorien. Hausfrauen und andere „Normalverbraucher“ konnten nur 1200 Kalorien beziehen.

Zusätzlich gab es Initiativen wie Volksküchen oder Ausspeisungen für Schulkinder, die von ausländischen Hilfsorganisationen übernommen wurden. Aus Amerika kamen Carepakete von der Wohlfahrtsorganisation Cooperative for American Remittances to Europe. Viele Kinder wurden im Sommer zu Pflegehaushalten in die Schweiz verschickt, um wieder zu Kräften zu kommen und ein paar zusätzliche Kilo auf die Rippen zu bekommen.

Für alle reichten all diese Maßnahmen allerdings nicht aus. Vor allem Hausfrauen und andere „Normalverbraucher“ litten unter den geringen Zuteilungen. Viele Innsbrucker machten sich trotz der Gefahr, festgenommen zu werden, auf den Weg in die umliegenden Dörfer, um zu hamstern. Wer Geld hatte, bezahlte teils utopische Preise bei den Bauern. Wer keins hatte, musste um Nahrungsmittel betteln. Frauen, deren Männer gefallen, in Gefangenschaft oder vermisst waren, sahen in Extremfällen keinen anderen Ausweg, als sich zu prostituieren. Diese Frauen, besonders die unglücklichen, die schwanger wurden, mussten über sich und ihren Nachwuchs übelste Beschimpfungen ergehen lassen. Vom legalen Schwangerschaftsabbruch war man in Österreich noch 30 Jahre entfernt.

Die Politik stand dem zu einem großen Teil machtlos gegenüber. Alle Interessen zu befrieden, war schon in normalen Zeiten unmöglich. Viele Entscheidung zwischen dem Parlament in Wien, dem Tiroler Landtag und dem Innsbrucker Rathaus waren für die Menschen nicht nachvollziehbar. Während Kinder auf Obst und Vitamine verzichten mussten, wurde von manchen Bauern legal gewinnbringender Schnaps gebrannt. Amtsgebäude und Gewerbebetriebe bekamen vom Elektrizitätswerk Innsbruck freie Hand, während den Privathaushalten ab Oktober 1945 der Zugang zum Strom an mehreren Tagzeiten eingeschränkt wurde. Selbige Benachteiligung der Haushalte gegenüber der Wirtschaft galt für die Versorgung mit Kohle. Die alten Gräben zwischen Stadt und Land wurden größer und hasserfüllter. Innsbrucker warfen der Umlandbevölkerung vor, bewusst Lebensmittel für den Schwarzmarkt zurückzuhalten. Es kam zu Überfällen, Diebstählen und Holzschlägerungen. Transporte am Bahnhof wurden von bewaffneten Einheiten bewacht. Sich Lebensmittel aus einem Lager anzueignen war illegal und Alltag zu gleich. Kinder und Jugendliche streunten hungrig durch die Stadt und nahmen jede Gelegenheit sich etwas zu Essen oder Brennmaterial zu besorgen wahr. Der erste Tiroler Landeshauptmann Gruber, während des Krieges selbst illegal im Widerstand, hatte zwar Verständnis für die Situation der Menschen, die sich gegen das System auflehnten, konnte aber nichts daran ändern. Auch dem Innsbrucker Bürgermeister Anton Melzer waren die Hände gebunden. Es war nicht nur schwierig, die Bedürfnisse aller Interessensgruppen unter einen Hut zu bringen, immer wieder kam es unter der Beamtenschaft zu Fällen von Korruption und Gefälligkeiten gegenüber Verwandten und Bekannten. Grubers Nachfolger am Landeshauptmannsessel Alfons Weißgatterer musste gleich mehrere kleine Aufstände überstehen, als sich der Volkszorn Luft machte und Steine Richtung Landhaus flogen Die Antwort der Landesregierung erfolgte über die Tiroler Tageszeitung. Das Blatt war 1945 unter der Verwaltung der US-Streitkräfte zur Demokratisierung und Entnazifizierung gegründet worden, ging aber bereits im Folgejahr an die Schlüssel GmbH unter Leitung des ÖVP Politikers Joseph Moser. Dank der hohen Auflage und ihrem fast unmittelbaren Einfluss auf den Inhalt konnte die Tiroler Landesregierung die öffentliche Stimmung lenken:

Sind etwa die zerbrochenen Fensterscheiben, die gestern vom Landhaus auf die Straße klirrten, geeignete Argumente, um unseren Willen zum Wiederaufbau zu beweisen? Sollten wir uns nicht daran erinnern, dass noch niemals in irgendeinem Lande wirtschaftliche Schwierigkeiten durch Demonstrationen und Kundgebungen beseitigt worden sind?

Mindestens gleich schlecht war die Wohnsituation. Geschätzte 30.000 Innsbrucker waren obdachlos, lebten auf engstem Raum bei Verwandten oder in Barackensiedlungen wie dem ehemaligen Arbeitslager in der Reichenau, in der vom Volksmund „Ausländerlager“ genannten Barackensiedlung für Vertriebene aus den ehemals deutschen Gebieten Europas oder der Bocksiedlung. Weniges erinnert noch an den desaströsen Zustand, in dem sich Innsbruck nach den Luftangriffen der letzten Kriegsjahre in den ersten Nachkriegsjahren befand. Zehntausende Bürger halfen mit, Schutt und Trümmer von den Straßen zu schaffen. Die Maria-Theresien-Straße, die Museumstraße, das Bahnhofsviertel, Wilten oder die Pradlerstraße wären wohl um einiges ansehnlicher, hätte man nicht die Löcher im Straßenbild schnell stopfen müssen, um so schnell als möglich Wohnraum für die vielen Obdachlosen und Rückkehrer zu schaffen.

Ästhetik aber war ein Luxus, den man sich in dieser Situation nicht leisten konnte. Die ausgezehrte Bevölkerung benötigte neuen Wohnraum, um den gesundheitsschädlichen Lebensbedingungen, in denen Großfamilien teils in Einraumwohnungen einquartiert waren, zu entfliehen.

„Die Notlage gefährdet die Behaglichkeit des Heims. Sie zehrt an den Wurzeln der Lebensfreude. Niemand leidet mehr darunter als die Frau, deren Glück es bildet, einen zufriedenen, trauten Familienkreis, um sich zu sehen. Welche Anspannung der seelischen Kraft erfordern der täglich zermürbende Kampf um ein bisschen Einkauf, die Mühsal des Schlangestehens, die Enttäuschungen der Absagen und Abweisungen und der Blick in den unmutigen Gesichtern der von Entbehrungen gepeinigten Lieben.“

Was in der Tiroler Tageszeitung zu lesen stand, war nur ein Teil der harten Alltagsrealität. Wie schon nach dem Ersten Weltkrieg, als die Spanische Grippe viele Opfer forderte, kam es auch 1945 zu einem Anstieg gefährlicher Infektionen. Impfstoffe gegen Tuberkulose konnten im ersten Winter nicht geliefert werden. Auch Krankenhausbetten waren Mangelware. Auch wenn sich die Situation nach 1947 entspannte, blieben die Lebensumstände in Tirol prekär. Bis es zu merklichen Verbesserungen kam, dauerte es Jahre. Die Lebensmittelrationierungen wurde am 1. Juli 1953 eingestellt. Im selben Jahr konnte Bürgermeister Greiter verkünden, dass alle während der Luftangriffe zerstörten Gebäude wieder in Stand gesetzt worden waren.

Zu verdanken war dies auch den Besatzern. Die französischen Truppen unter Emile Bethouart verhielten sich sehr milde und kooperativ gegenüber dem ehemaligen Feind und begegneten der Tiroler Kultur und Bevölkerung freundlich und aufgeschlossen. Stand man der Besatzungsmacht anfangs feindlich gesinnt gegenüber - schon wieder war ein Krieg verloren gegangen - wich die Skepsis der Innsbrucker mit der Zeit. Die Soldaten waren vor allem bei den Kindern beliebt wegen der Schokoladen und Süßigkeiten, die sie verteilten. Viele Menschen erhielten innerhalb der französischen Verwaltung Arbeit. Manch ein Tiroler sah dank der Uniformierten der 4. Marokkanischen Gebirgsdivision, die bis September 1945 den Großteil der Soldaten stellten, zum ersten Mal dunkelhäutige Menschen. Das Franzosendenkmal am Landhausplatz erinnert an die französische Besatzungszeit. Am Emile-Bethouart-Steg, der St. Nikolaus und die Innenstadt über den Inn verbindet, befindet sich eine Gedenktafel, die die Beziehung zwischen Besatzung und Bevölkerung gut zum Ausdruck bringt:

„Als Sieger gekommen.

Als Beschützer geblieben.

Als Freund in die Heimat zurückgekehrt.“

Neben den materiellen Nöten bestimmte das kollektive Kriegstrauma die Gesellschaft. Die Erwachsenen der 1950er Jahre waren Produkte der Erziehung der Zwischenkriegszeit und des Nationalsozialismus. Männer, die an der Front gekämpft hatten, konnten als Kriegsverlierer nur in bestimmten Kreisen von ihren grauenhaften Erlebnissen sprechen, Frauen hatten meist gar kein Forum zur Verarbeitung ihrer Ängste und Sorgen. Häusliche Gewalt und Alkoholismus waren weit verbreitet. Lehrer, Polizisten, Politiker und Beamte kamen vielfach aus der nationalsozialistischen Anhängerschaft, die nicht einfach mit dem Ende des Krieges verschwand, sondern lediglich öffentlich totgeschwiegen wurde. Am Innsbrucker Volksgerichtshof kam es unter der Regie der Siegermächte zwar zu einer großen Anzahl an Verfahren gegen Nationalsozialisten, die Anzahl an Verurteilungen spiegelte aber nicht das Ausmaß des Geschehens wider. Der größte Teil der Beschuldigten kam frei. Besonders belastete Vertreter des Systems kamen für einige Zeit ins Gefängnis, konnten aber nach Verbüßung der Haft relativ unbehelligt an ihr altes Leben anknüpfen, zumindest im Beruflichen. Nicht nur wollte man einen Schlussstrich unter die letzten Jahrzehnte ziehen, man benötigte die Täter von gestern, um die Gesellschaft von heute am Laufen zu halten.

Das Problem an dieser Strategie des Verdrängens war, dass niemand die Verantwortung für das Geschehene übernahm, auch wenn vor allem zu Beginn die Begeisterung und Unterstützung für den Nationalsozialismus groß war. Es gab kaum eine Familie, die nicht mindestens ein Mitglied mit einer wenig rühmlichen Geschichte zwischen 1933 und 1945 hatte. Scham über das, was seit 1938 und in den Jahren in der Politik Österreichs geschehen war mischte sich zur Angst davor, von den Besatzungsmächten USA, Großbritannien, Frankreich und die UDSSR als Kriegsschuldiger ähnlich wie 1918 behandelt zu werden. Es entstand ein Klima, in dem niemand, weder die daran beteiligte noch die nachfolgende Generation über das Geschehene sprach. Diese Haltung verhinderte lange die Aufarbeitung dessen, was seit 1933 geschehen war. Der Mythos von Österreich als erstem Opfer des Nationalsozialismus, der erst mit der Affäre Waldheim in den 1980er Jahren langsam zu bröckeln begann, war geboren. Polizisten, Lehrer, Richter – sie alle wurden trotz ihrer politischen Gesinnung an ihrem Platz gelassen. Die Gesellschaft brauchte sie, um am Laufen zu bleiben.

Ein Beispiel für den großzügig ausgebreiteten Mantel des Vergessens mit großem Bezug zu Innsbruck ist die Vita des Arztes Burghard Breitner (1884-1956). Breitner wuchs in einem wohlbetuchten bürgerlichen Haushalt auf. Die Villa Breitner am Mattsee war Sitz eines Museums über den vom Vater verehrten deutschnationalen Dichter Josef Viktor Scheffel. Nach der Matura entschied sich Breitner gegen eine Karriere in der Literatur und für ein Medizinstudium. Anschließend beschloss er seinen Militärdienst und begann seine Karriere als Arzt. 1912/13 diente er als Militärarzt im Balkankrieg. 1914 verschlug es ihn an die Ostfront, wo er in russische Kriegsgefangenschaft geriet. Als Arzt kümmerte er sich im Gefangenenlager aufopferungsvoll um seine Kameraden. Erst 1920 sollte er als Held und „Engel von Sibirien“ aus dem Gefangenenlager wieder nach Österreich zurückkehren. 1932 begann seine Laufbahn an der Universität Innsbruck. 1938 stand Breitner vor dem Problem, dass er auf Grund des jüdischen Hintergrundes seiner Großmutter väterlicherseits den „Großen Ariernachweis“ nicht erbringen konnte. Auf Grund seines guten Verhältnisses zum Rektor der Uni Innsbruck und zu wichtigen Nationalsozialisten konnte er aber schlussendlich an der Universitätsklinik weiterarbeiten. Während des NS-Regimes war Breitner als Vorstand der Klinik Innsbruck für Zwangssterilisierungen und „freiwillige Entmannungen“ verantwortlich, auch wenn er wohl keine der Operationen persönlich durchführte. Nach dem Krieg schaffte es der „Engel von Sibirien“ mit einigen Mühen sich durch das Entnazifizierungsverfahren zu winden. 1951 wurde er als Kandidat des VDU, einem politischen Sammelbecken überzeugter Nationalsozialisten, als Kandidat für die Bundespräsidentschaftswahl aufgestellt. 1952 wurde Breitner Rektor der Universität Innsbruck. Nach seinem Tod widmete ihm die Stadt Innsbruck ein Ehrengrab am Westfriedhof Innsbruck. In der Reichenau ist ihm in unmittelbarer Nähe des Standortes des ehemaligen Konzentrationslagers eine Straße gewidmet.

Lebensreform und Sozialdemokratie

„Licht Luft und Sonne“ war das Motto der Lebensreform, einer Sammelbewegung alternativer Lebensmodelle, die im späten 19. Jahrhundert in Deutschland im Gleichschritt mit der Entwicklung der Sozialdemokratie ihren Anfang nahm. Beide Strömungen waren Reaktionen auf die Lebensbedingungen in den rasant wachsenden Städten. Die Urbanisierung wurde zunehmend als Belastung empfunden. Der Verkehr auf den Straßen, die Abgase der Fabriken, die beengten Wohnverhältnisse in den Mietkasernen und die bis dahin unbekannte Hast, die neue Krankheitsbilder wie Neurasthenie salonfähig machte, riefen Gegenbewegungen hervor. Innsbruck war zwar nicht mit Paris oder London vergleichbar was Stadtgröße und Intensität der Industrialisierung betrifft, die Fallhöhe für viele Bewohner der ehemals ländlichen Viertel war aber enorm. Die infrastrukturellen Probleme waren ebenfalls ähnlich.

Seit 1869 erschien die Deutsche Vierteljahrschrift für öffentliche Gesundheigspflege, die sich mit der Verbesserung von Ernährung, Hygiene und Wohnraum auseinandersetzte. 1881 wurde die Österreichische Gesellschaft für Gesundheitspflege gegründet. Private Vereine veranstalteten Aufklärungsveranstaltungen zum sauberen und gesunden Leben. Man betrieb politisches Lobbying zur Errichtung von Parks im öffentlichen Raum und der Verbesserung der Infrastruktur wie Bädern, Krankenhäusern, Kanalisation und Wasserleitungen. Assanation und Sozialhygiene waren Schlagwörter einer bürgerlichen Elite, die um ihre Mitmenschen und die Volksgesundheit besorgt war. Wie alle elitären Bewegungen nahm auch die Lebensreform teils absurde Blüten an, zumindest aus damaliger Sicht. Bewegungen wie der Vegetarismus, FKK, Gartenstädte, verschiedene esoterische Strömungen und andere alternative Lebensformen, die sich bis heute in der einen oder anderen Form erhalten konnten, entstanden in dieser Zeit. 

Der exzentrisch anmutende Lebensstil, der wohlhabenden Bürgern in ihren Villen im Saggen, Wilten und Pradl möglich war, blieb Arbeitern meist verwehrt. Viele Mietzinsburgen waren triste und überfüllte Biotope ohne Infrastruktur wie Sportanlagen oder Parks. Es waren die frühen Sozialdemokraten, die sich politisch den Lebensrealitäten der Arbeiter stellten. Moderne Wohnsiedlungen sollte funktional, komfortabel, leistbar und mit Grünflächen verbunden sein. Diese Ansichten hatten sich auch in öffentlichen Stellen durchgesetzt. Albert Gruber, Professor an der Innsbrucker Gewerbeschule, schrieb 1907:

Ich habe zwar oft den Ausspruch gehört, wir in Innsbruck benötigen keine Anlagen, uns gibt das alles die Natur, Das ist aber nicht wahr. Was gibt es schöneres, als wenn die Berufsmenschen von der Stelle ihrer Tätigkeit in ihr Heim durch eine Reihe von Pflanzenanlagen gehen können. Es wird dadurch der Weg von und in den Beruf zu einem Erholungsspaziergang. Die Gründe, weshalb Baum- und Gartenpflanzungen im Bereiche der städtischen Bebauung vorteilhaft wirken, sind übrigens mannigfaltige. Ich will nicht auf die Wechselbeziehung zwischen Menschen und Pflanze hinweisen, die hinlänglich bekannt sein dürfte. In anderer Weise wirken die Pflanzen zur Verbesserung der Atmungsluft durch Verminderung des Staubes.“

Noch vor dem Ersten Weltkrieg kam es zu Veränderungen im politischen Alltag. Die Sozialdemokratie als politische Bewegung als politische Partei gab es seit 1889 offiziell, gestalterische Möglichkeiten hatte sie unter der Habsburgermonarchie aber nur sehr eingeschränkt. Bedeutsam war die Arbeiterbewegung vor allem als gesellschaftliches Gegengewicht zu den in Tirol alles dominierenden katholischen Strukturen. 1865 entstand in Innsbruck der erste Tiroler Arbeiterbildungsverein. Arbeiter sollten sich ihrer Stellung innerhalb der Gesellschaft bewusst werden vor der anstehenden Weltrevolution. Dafür war es unumgänglich, ein Mindestmaß an Bildung zu besitzen und Lesen und Schreiben zu beherrschen. 10 Jahre später gründete Franz Reisch den Allgemeinen Arbeiter-Verein in Innsbruck. Weitere zwei Jahre später wurde reichsweit die Allgemeine Arbeiter-, Kranken-, und Invaliden-Casse“ an den Start geschickt. Trotz staatlicher Repression kam es immer wieder zu beträchtlichen Versammlungen der Radicalen.  Seit 1893 erschien in Innsbruck die sozialdemokratische Volkszeitung als Gegenstimme zu den katholischen Blättern.

1899 wurde in der heutigen Maximilianstraße die Erste Tiroler Arbeiter-Bäckerei, kurz ETAB, eröffnet. Die Genossenschaft machte es sich zum Ziel, unter guten Arbeits- und Hygienebedingungen hochwertiges Brot zu fairen Preisen herzustellen. Nach mehreren Standortwechseln landete die ETAB in der Hallerstraße, wo sie bis 1999 täglich frische Backwaren produzierte.

Die ersten freien Wahlen innerhalb der k.u.k. Monarchie zum Reichsrat für alle männlichen Bürger im Jahr 1907 veränderten nicht nur die politischen, sondern auch die sozialen Kraftverhältnisse. Der Pofel hatte nun politisches Mitspracherecht. Wichtige Gesetze wie Arbeitszeitbeschränkungen und Verbesserung in den Arbeitsbedingungen konnten nun mit mehr Nachdruck verlangt werden. Das Kronland Tirol hatte gemeinsam mit Oberösterreich die längsten Arbeitszeiten in der gesamten Donaumonarchie. Die Gewerkschaftsmitglieder stiegen zahlenmäßig zwar auch an, außerhalb der kleinstädtischen Zentren war Tirol aber zu sehr bäuerlich geprägt, um nennenswerten Druck erzeugen zu können.

Auf Gemeindeebene blieb das Zensuswahlrecht, das großdeutsch-liberalen und konservativ-klerikalen Politikern jahrzehntelang einen Freifahrtschein an die Macht ausgestellt hatte, bis nach dem Krieg bestehen. Die Erfüllung der daraus folgenden Forderungen musste auch nach den ersten Gemeinderatswahlen nach 1918 noch warten. Die Kassen der Nachkriegszeit waren nur dürftig gefüllt. Die großen Innsbrucker Infrastruktur- und Wohnbauprojekte wie das Tivoli, das Städtische Hallenbad, der Pembaur-, der Mandelsberger- oder der Schlachthofblock wurden erst in der Ersten Republik umgesetzt.

Ein bekannter Innsbrucker Vertreter der Lebensreform und der Sozialdemokratie war Josef Prachensky (1861 – 1931), der Vater des Architekten und Stadtplaners Theodor Prachensky. Er war im deutschsprachigen Böhmen, damals Teil der K.u.K. Monarchie aufgewachsen. Als gelernter Buchdrucker hatte er auf seiner Wanderschaft in Wien während des Buchdruckerstreiks die Arbeiterbewegung für sich entdeckt. Nach seiner Hochzeit mit einer Tirolerin ließ er sich in Innsbruck nieder, wo er als Redakteur für die sozialdemokratische Volkszeitung für Tirol und Vorarlberg arbeitete. Josef Prachensky unterstützte den Arbeiter-Consum-Verein, die Tiroler Arbeiterbäckerei und gründete den Gastrobetrieb „Alkoholfrei“ in der Museumstraße, der ganz im Sinne der Lebensreformbewegung und des Sozialismus die Verbesserung der allgemeinen Gesundheit zum Ziel hatte. Bereits Friedrich Engels (1820 – 1895), der Mitverfasser des Kommunistischen Manifestes, hatte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Schnaps und Branntwein als ein Übel der Arbeiterklasse erkannt hatte. Das Ziel, Menschen vom Alkohol wegzubekommen teilte der Sozialismus wie so vieles mit kirchlichen Vereinen. Die Weltrevolution war mit Suchtkranken ebenso wenig durchführbar wie ein tugendhaftes, gottgefälliges Leben. Prachensky war an der Gründung der Sozialdemokratischen Partei Tirols 1890 und nach dem Ersten Weltkrieg an der Gründung des Tiroler Republikanischen Schutzbundes RESCH beteiligt, dem linken Gegenstück zu den rechten Heimwehrverbänden. Ein besonderes politisches Anliegen war ihm die Einschränkung der Kirche auf den Schulunterricht, der im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts auch im eigentlich liberalen Innsbruck, das sich an die nationale Schulordnung halten musste, noch sehr groß war.

Lebensreform und der wachsende Einfluss der Sozialdemokratie beeinflussten auch Kunst und Architektur. Man wollte sich von dem, was Max Weber als protestantische Ethik beschrieb, der Industrie, den Stechuhren, ganz allgemein dem rasenden technischen Fortschritt mit allen Auswirkungen auf den Menschen und das Sozialgefüge, abgrenzen. Der Mensch als Individuum, nicht seine Wirtschaftsleistung, sollte wieder im Mittelpunkt stehen. Die Kultur der alten Gesellschaft, in der Adel und Klerus über dem Rest der Gesellschaft standen, sollte überwunden werden. Der Jugendstil in seiner Verspieltheit war die künstlerische Antwort eines exzentrischen und alternativen Teils des Bürgertums auf dieses Zurück zum Ursprung der Jahrhundertwende. Im Wohnbau der Ersten Republik gewann der Architekturstil der Neuen Sachlichkeit die Oberhand.

Innsbrucks Industrielle Revolutionen

Im 15. Jahrhundert begann sich in Innsbruck eine erste frühe Form der Industrialisierung zu entwickeln. Glocken- und Waffengießer wie die Löfflers errichteten in Hötting, Mühlau und Dreiheiligen Betriebe, die zu den führenden Werken ihrer Zeit gehörten. Entlang des Sillkanals nutzten Mühlen und Betriebe die Wasserkraft zur Energiegewinnung. In der heutigen Adamgasse gab es eine Munitionsfabrik, die 1636 explodierte. Arbeit und Geld zogen eine neue Schicht von Menschen an. Die Stadtränder wuchsen zwischen 1500 und 1700 massiv. Stadtbürger und Betriebe wurden mehr und mehr von der Beamtenschaft und dem Adel aus der Neustadt verdrängt. Die meisten der barocken Palazzi, die heute die Maria-Theresienstraße schmücken, entstanden im 17. Jahrhundert während Dreiheiligen und St. Nikolaus zu Innsbrucks Industrie- und Arbeitervierteln wurden. Vor allem die Metallverarbeitung rund um die Silbergasse und das Zeughaus wuchsen, aber auch Gerber, Tischler, Wagner, Baumeister, Steinmetze und andere Handwerker der frühen Industrialisierung siedelten sich hier an. Die Industrie änderte nicht nur die Spielregeln im Sozialen durch den Zuzug neuer Arbeitskräfte und ihrer Familien, sie hatte auch Einfluss auf die Erscheinung Innsbrucks. Die Arbeiter waren, anders als die Bauern, keines Herren Untertanen. Unternehmer waren zwar nicht von edlem Blut, sie hatten aber oft mehr Kapital zur Verfügung als die Aristokratie. Die alten Hierarchien bestanden zwar noch, begannen aber zumindest etwas brüchig zu werden. Die neuen Bürger brachten neue Mode mit und kleideten sich anders. Kapital von außerhalb kam in die Stadt. Wohnhäuser und Kirchen für die neu zugezogenen Untertanen entstanden. Die großen Werkstätten veränderten den Geruch und den Klang der Stadt. Die Hüttenwerke waren laut, der Rauch der Öfen verpestete die Luft. Innsbruck war von einer kleinen Siedlung an der Innbrücke zu einer Proto-Industriestadt geworden.

Das Wachstum wurde Ende des 18. Jahrhunderts für einige Jahrzehnte von den Napoleonischen Kriegen gebremst. Die zweite Welle der Industrialisierung erfolgte im Verhältnis zu anderen europäischen Regionen in Innsbruck spät. Das Kleine Handwerk, die bäuerliche Herstellung von allerlei Gebrauchsgegenständen vor allem im weniger arbeitsintensiven Winter, und die ehemaligen in Zünften organisierten Handwerksbetriebe der Stadt gerieten unter den Errungenschaften der modernen Warenherstellung unter Druck. In St. Nikolaus, Wilten, Mühlau und Pradl entstanden entlang des Mühlbaches und des Sillkanals moderne Fabriken. Viele innovative Betriebsgründer kamen von außerhalb Innsbrucks. Im heutigen Haus Innstraße 23 gründete der aus der Lausitz nach Innsbrucker übersiedelte Peter Walde 1777 sein Unternehmen, in dem aus Fett gewonnene Produkte wie Talglichter und Seifen hergestellt wurden. Acht Generationen später besteht Walde als eines der ältesten Familienunternehmen Österreichs noch immer. Im denkmalgeschützten Stammhaus mit gotischem Gewölbe kann man heute das Ergebnis der jahrhundertelangen Tradition in Seifen- und Kerzenform kaufen. Franz Josef Adam kam aus dem Vinschgau, um die bis dato größte Brauerei der Stadt in einem ehemaligen Adelsansitz zu gründen. 1838 kam die Spinnmaschine über die Dornbirner Firma Herrburger & Rhomberg über den Arlberg nach Pradl. H&R hatte ein Grundstück an den Sillgründen erworben. Der Platz eignete sich dank der Wasserkraft des Flusses ideal für die schweren Maschinen der Textilindustrie. Neben der traditionellen Schafwolle wurde nun auch Baumwolle verarbeitet. 

Wie 400 Jahre zuvor veränderte auch die Zweite Industrielle Revolution die Stadt und den Alltag ihrer Einwohner nachhaltig. Stadtteile wie Mühlau, Pradl und Wilten wuchsen rasant. Die Betriebe standen oft mitten in den Wohngebieten. Über 20 Betriebe nutzten um 1900 noch immer den Sillkanal. Die Haidmühle in der Salurnerstraße bestand von 1315 bis 1907. In der Dreiheiligenstraße wurde eine Textilfabrik mit der Energie des Sillkanals versorgt. Der Lärm und die Abgase der Motoren waren für die Anrainer die Hölle, wie ein Zeitungsartikel aus dem Jahr 1912 zeigt:

„Entrüstung ruft bei den Bewohnern des nächst dem Hauptbahnhofe gelegenen Stadtteiles der seit einiger Zeit in der hibler´schen Feigenkaffeefabrik aufgestellte Explosionsmotor hervor. Der Lärm, welchen diese Maschine fast den ganzen Tag ununterbrochen verbreitet, stört die ganz Umgebung in der empfindlichsten Weise und muß die umliegenden Wohnungen entwerten. In den am Bahnhofplatze liegenden Hotels sind die früher so gesuchten und beliebten Gartenzimmer kaum mehr zu vermieten. Noch schlimmer als der ruhestörende Lärm aber ist der Qualm und Gestank der neuen Maschine…“

Aristokraten, die sich zu lange auf ihrem Geburtsverdienst auf der faulen Haut ausruhten, während sich die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Spielregeln änderten, mussten ihre Anwesen an den neuen Geldadel verkaufen. Geschickte Exemplare nutzten ihre Voraussetzungen und investierten Familienbesitz und Erträge aus der bäuerlichen Grundentlastung von 1848 in Industrie und Wirtschaft. Der steigende Arbeitskräftebedarf wurde von ehemaligen Knechten und Landwirten ohne Land gedeckt. Während sich die neue vermögende Unternehmerklasse Villen in Wilten, Pradl und dem Saggen bauen ließ und mittlere Angestellte in Wohnhäusern in denselben Vierteln wohnten, waren die Arbeiter in Arbeiterwohnheimen und Massenunterkünften untergebracht. Die einen sorgten in Betrieben wie dem Gaswerk, dem Steinbruch oder in einer der Fabriken für den Wohlstand, während ihn die anderen konsumierten. Schichten von 12 Stunden in engen, lauten und rußigen Bedingungen forderten den Arbeitern alles ab. Zu einem Verbot der Kinderarbeit kam es erst ab den 1840er Jahren. Frauen verdienten nur einen Bruchteil dessen, was Männer bekamen. Die Arbeiter wohnten oft in von ihren Arbeitgebern errichteten Mietskasernen und waren ihnen mangels eines Arbeitsrechtes auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Es gab weder Sozial- noch Arbeitslosenversicherungen. Wer nicht arbeiten konnte, war auf die Wohlfahrtseinrichtungen seines Heimatortes angewiesen. Angemerkt sei, dass sich dieser für uns furchterregende Alltag der Arbeiter nicht von den Arbeitsbedingungen in den Dörfern unterschied, sondern sich daraus entwickelte. Auch in der Landwirtschaft waren Kinderarbeit, Ungleichheit und prekäre Arbeitsverhältnisse die Regel.

Die Industrialisierung betraf aber nicht nur den materiellen Alltag. Innsbruck erfuhr eine Gentrifizierung wie man sie heute in angesagten Großstadtvierteln wie dem Prenzlauer Berg in Berlin beobachten kann. Der Wechsel vom bäuerlichen Leben des Dorfes in die Stadt beinhaltete mehr als einen örtlichen Wechsel. Wie die Menschen die Verstädterung des ehemals ländlichen Bereichs erlebten, lässt uns der Innsbrucker Schriftsteller Josef Leitgeb in einem seiner Texte wissen: 

„…viel fremdes, billig gekleidetes Volk, in wachsenden Wohnblocks zusammengedrängt, morgens, mittags und abends die Straßen füllend, wenn es zur Arbeit ging oder von ihr kam, aus Werkstätten, Läden, Fabriken, vom Bahndienst, die Gesichter oft blaß und vorzeitig alternd, in Haltung, Sprache und Kleidung nichts Persönliches mehr, sondern ein Allgemeines, massenhaft Wiederholtes und Wiederholbares: städtischer Arbeitsmensch. Bahnhof und Gaswerk erschienen als Kern dieser neuen, unsäglich fremden Landschaft.“

Für viele Innsbrucker kam es nach dem Revolutionsjahr 1848 und den neuen wirtschaftlichen Gegebenheiten zu einer Verbürgerlichung. Geschichten, von Menschen, die mit Fleiß, Glück, Talent und etwas finanzieller Starthilfe aufstiegen, gab es immer wieder. Bekannte Innsbrucker Beispiele außerhalb der Hotellerie und Gastronomie, die bis heute existieren sind die Tiroler Glasmalerei, der Lebensmittelhandel Hörtnagl oder die Seifenfabrik Walde. Erfolgreiche Unternehmer übernahmen die einstige Rolle der adeligen Grundherren. Gemeinsam mit den zahlreichen Akademikern bildeten sie eine neue Schicht, die auch politisch mehr und mehr Einfluss gewann. Beda Weber schrieb dazu 1851: 

Ihre gesellschaftlichen Kreise sind ohne Zwang, es verräth sich schon deutlich etwas Großstädtisches, das man anderwärts in Tirol nicht so leicht antrifft." 

Auch die Arbeiter verbürgerlichten. War der Grundherr am Land noch Herr über das Privatleben seiner Knechte und Mägde und konnte bis zur Sexualität über die Freigabe zur Ehe über deren Lebenswandel bestimmen, waren die Arbeiter nun individuell zumindest etwas freier. Sie wurden zwar nur schlecht bezahlt, immerhin erhielten sie aber nun ihren eigenen Lohn anstelle von Kost und Logis und konnten ihre Privatangelegenheiten für sich regeln ohne grundherrschaftliche Vormundschaft. 

Die Kehrseite dieser neu gewonnen Selbstbestimmung traten vor allem in den ersten Jahrzehnten der Industrialisierung zu Tage. Es gab kaum staatliche Infrastruktur für Kranken- und Familienfürsorge. Krankenvorsorge, Pension, Altersheime und Kindergärten waren noch nicht erfunden, hatte die bäuerliche Großfamilie diese Aufgaben vielfach bis jetzt übernommen. In den Arbeitervierteln tummelten sich unter Tags unbeaufsichtigte Kinder: Betroffen waren vor allem die kleinsten, die noch nicht unter die Schulpflicht fielen. 1834 gründete sich nach einem Aufruf des Tiroler Landesgubernators ein Frauenverein, der Kinderverwahranstalten in den Arbeitervierteln St. Nikolaus, Dreiheiligen und in Angerzell, der heutigen Museumstraße, betrieb. Ziel war es nicht nur die Kinder von der Straße fernzuhalten und sie mit Kleidung und Nahrung zu versorgen, sondern ihnen auch Manieren, züchtige Ausdrucksweise und tugendhaftes Verhalten beizubringen. Die Wärterinnen sorgten mit strenger Hand für „Reinlichkeit, Ordnung und Folgsamkeit“ dafür, dass die Kinder zumindest ein Mindestmaß an Fürsorge erfuhren. Die ehemalige Bewahranstalt in der Paul-Hofhaimer-Gasse hinter dem Ferdinandeum gibt es bis heute. Der klassizistische Bau beherbergt heute den Integrationskindergarten der Caritas und einen Betriebskindergarten des Landes Tirol. 

Innsbruck ist keine traditionelle Arbeiterstadt. Zur Bildung einer bedeutenden Arbeiterbewegung wie in Wien kam es in Tirol trotzdem nie. Innsbruck war immer schon vorwiegend Handels- und Universitätsstadt. Zwar gab es Sozialdemokraten und eine Handvoll Kommunisten, die Zahl der Arbeiter war aber immer zu klein, um wirklich etwas zu bewegen. Maiaufmärsche werden vom Großteil der Menschen maximal wegen billiger Schnitzel und Freibier besucht. Auch sonst gibt es kaum Erinnerungsorte an die Industrialisierung und die Errungenschaften der Arbeiterschaft. In der St.-Nikolaus-Gasse und in vielen Mietzinshäusern in Wilten und Pradl haben sich vereinzelt Häuser erhalten, die einen Eindruck vom Alltag der Innsbrucker Arbeiterschaft geben.