Hotel Weisses Kreuz

Herzog-Friedrich-Straße 31

Wissenswert

Das Weisse Kreuz zählt zu den ältesten Gasthäusern Innsbrucks. Glaubt man dem Hotel selbst, so öffnete es seine Pforten bereits 1465, als Innsbruck unter Siegmund dem Münzreichen zur wichtigsten Stadt Tirols aufzusteigen begann. Das schmale Haus bildete einen Teil der Laubengänge der Herzog-Friedrich-Straße, der damaligen Hauptverkehrsader durch die Stadt. Verlässlich bestätigt ist das Gasthaus am Oberen Stadtplatz seit dem 16. Jahrhundert unter seinem damaligen Besitzer Achazi Zürler. Der bekannteste Gast in der Geschichte des Hauses war Wolfgang Amadeus Mozart (1756 - 1791), der hier auf einer seiner Italienreisen nächtigte. Sein Manager und Vater wollte die Talente des kleinen, bereits im Jugendalter im ganzen Reich bekannten Genies, auch in Tirol vorzeigen. Der vielleicht erfolgreichste Export Österreichs gab am 17. Dezember 1769 im zarten Alter von 13 Jahren ein Konzert im Palais Trapp in Innsbruck. Zur nachhaltigen touristischen Ausbeutung Innsbrucks zum Thema Mozart reichte dieser eine Auftritt zwar nicht, das Hotel ist dank einer Erinnerungstafel an den hochbegabten Gast aber als Mozarthaus bekannt. Sechs Jahre Post Mozartem erhielt das Gasthaus unter dem Besitzer Nikolaus Benz seinen offiziellen Namen Weißes Kreuz Wirtsbehausung. Wie viele Lokale wurde auch die altehrwürdige Gaststätte in der Altstadt im Laufe des 19. Jahrhunderts dank der gesellschaftlichen Umbrüche zum Treffpunkt von Bürgern und Studenten. Es wurde nicht nur getrunken und getanzt. 1904 nahmen die als Fatti di Innsbruck in die Geschichte eingegangenen Ereignisse ihren Ausgang im Weißen Kreuz. Bei den gewaltsamen Straßenkämpfen zwischen Polizei, deutsch- und italienischsprachigen Studenten wurde ein Kunstmaler getötet. In der Folge der Auseinandersetzungen wurden Einrichtung und Innenräume des Gasthauses von der wilden Meute in einem patriotischen Sturm der Entrüstung mit Ausnahme eines Bildnis Kaiser Franz Josefs vollkommen zerstört.

Durch viele Renovierungen der Innenräume ist von der alten gotischen Bausubstanz nur noch wenig übrig. 1926 verpasste Rudolf Stolz der Fassade das markante Putzrelief im typischen Stil der Zwischenkriegszeit, der Tiroler Moderne. Die Ähnlichkeit mit der nur kurz später erfolgten Malerei am gegenüberliegenden Weinhaus Happ ist erstaunlich. Stolz schmückte die für die Altstadt typischen Erker mit Weinreben und zwei Weinbauern. Über die Szenerie wacht Sankt Urban, der Schutzheilige der Winzer und Beschützer vor Trunkenheit. Das bunte Gemälde passt sich harmonisch an die Altstadt und das sehenswerte Straßenschild des Weißen Kreuz an. 1952 und 2020 kam es erneut zu Renovierungen. Die Gaststätte wurde aus dem Erdgeschoss ganz nach oben verlegt. Die Bar Blaue Brigitte im Dachgeschoss des sechsstöckigen Gebäudes zählt zu Innsbrucks beliebtesten Lokalen für den Aperitif samt tollem Ausblick über die Dächer der Altstadt.

Die Wallschen und die Fatti di Innsbruck

Vorurteile und Rassismus gegenüber Zuwanderern waren und sind in Innsbruck wie in allen Gesellschaften üblich. Egal ob syrische Flüchtlinge seit 2015 oder türkische Gastarbeiter in den 1970er und 80er Jahren, das Fremde erzeugt meist wenig wohlgesonnene Animositäten im durchschnittlichen Tiroler. Heute mögen Italien das liebste Reiseziel der Innsbrucker und Pizzerien Teil des gastronomischen Alltags sein, lange Zeit waren unsere südlichen Nachbarn die am argwöhnischsten beäugte Bevölkerungsgruppe. Was um 1900 dem Wiener Juden und Ziegelböhmen waren, waren dem Tiroler die Wall´schen.

Die Abneigung gegenüber Italienern kann in Innsbruck auf eine lange Tradition zurückblicken. Italien als eigenständigen Staat gab es zwar nicht, viele kleine Grafschaften, Stadtstaaten und Fürstentümer zwischen dem Gardasee und Sizilien prägten die politische Landschaft. Auch sprachlich und kulturell unterschieden sich die einzelnen Regionen. Trotzdem begann man im Laufe der Zeit, sich als Italiener zu verstehen. Während des Mittelalters und der Frühen Neuzeit waren sie vor allem als Mitglieder der Beamtenschaft, des Hofstaates Bankiers oder gar Gattinnen diverser Landesfürsten in Innsbruck ansässig. Die Abneigung zwischen Italienern und Deutschen war gegenseitig. Die einen galten wahlweise als ehrlos, unzuverlässig, hochnäsig, eitel, moralisch verdorben und faul, die anderen als unzivilisiert, barbarisch, ungebildet und Schweine.

Mit den Kriegen zwischen 1848 und 1866 erreichte der Hass auf alles Italienische ein neues Hoch im Heiligen Land Tirol, obwohl viele Wallsche in der k.u.k. Armee dienten und auch die Landbevölkerung größtenteils unter den italienischsprachigen Tirolern loyal zur Monarchie stand. Die Italiener unter Garibaldi galten als gottlose Aufrührer und Republikaner und wurden von den Kirchkanzeln zwischen Kufstein und Riva del Garda sowohl auf Italienisch wie auch auf Deutsch gegeißelt.

Eine große Rolle im Konflikt spielte die Tiroler Presselandschaft, die nach der Liberalisierung 1867 einen Aufschwung erlebte. Was heute Social Media zur gesellschaftlichen Spaltung beiträgt, übernahmen damals Zeitungen. Konservative, Katholiken, Großdeutsche, Liberale und Sozialisten hatten jeweils ihre eigenen Presseorgane. Treue Leser dieser wenig neutralen Blätter lebten in ihrer Meinungsblase. Auf italienischer Seite ragte der im Krieg vom österreichischen Militär wegen Hochverrats am Würgegalgen hingerichtete Sozialist Cesare Battisti (1875 – 1916) heraus. Der Publizist und Politiker, der in Wien studiert hatte und deswegen vielen nicht nur als Feind, sondern als Verräter galt, befeuerte den Konflikt in den Zeitungen Il Popolo und L´Avvenire immer wieder mit spitzer Feder befeuerte.

Auch Vereine spielten bei der Verhärtung der Fronten eine tragende Rolle. 1867 war nicht nur das Pressegesetz reformiert worden, auch Vereine konnten nun einfacher gegründet werden. Das löste einen regelrechten Boom aus. Sportvereine, Turnerschaften, Theatergruppen, Schützen oder die Innsbrucker Liedertafel dienten oft als eine Art Vorfeldorganisation, die sich politisch verorteten und auch agitierten. Die Vereinsmitglieder trafen sich in eigenen Lokalen und veranstalteten regelmäßig Vereinsabende, vielfach auch öffentlich. Besonders politisch aktiv und extremistisch in ihren Meinungen waren die Studentenverbindungen. Die jungen Männer entstammten dem gehobenen Bürgertum oder der Aristokratie und waren sowohl gewohnt anzuschaffen als auch Waffen zu tragen. Ein Drittel der Studenten in Innsbruck war in einer Verbindung, davon war knapp die Hälfte deutschnational orientiert. Anders als heute war es nicht ungewöhnlich, dass sie sich in voller Wichs in ihrer Couleur, also der Uniform samt Säbel, Barett und Band in der Öffentlichkeit zeigten, nicht selten auch mit Stock und Revolver bewaffnet.

Es wundert daher nicht, dass ihr Habitat ein besonderer Brandherd war. Einer der größten politischen Streitpunkte in der Autonomiedebatte bzw. dem Wunsch, sich dem Königreich Italien anzuschließen, war eine eigene italienische Universität. Durch den Verlust Paduas hatten italienischstämmige Tiroler keine Möglichkeit mehr, das Studium in ihrer Muttersprache im Inland zu absolvieren. Obwohl ein Besuch der Hochschule eigentlich nur eine Angelegenheit einer kleinen Elite war, konnten irredentistische, anti-österreichische Tiroler Abgeordnete aus dem Trentino das Thema als Symbol für die angestrebte Autonomie immer wieder emotional aufladen und den Hass auf Habsburg schüren. Die Diskussion, ob man eine Universität in Triest, der bevorzugte Ort der italienischsprachigen Vertreter, Innsbruck, Trient oder Rovereto anvisieren sollte, entspann sich über Jahre hinweg. Wilhelm Greil wurde für sein inkorrektes Verhalten gegenüber der italienischen Bevölkerung vom k.k. Statthalter ermahnt, waren doch alle Sprachgruppen innerhalb der Monarchie seit 1867 von Gesetz wegen gleich zu behandeln.  

Wie groß die von Deutschnationalen befürchtete Überfremdung durch italienische Studenten war, zeigt ein Blick in die Statistik. Fakten wurden auch damals im Diskurs oft durch Bauchgefühl und rassistisch motivierten Populismus ersetzt. Nach der Eingemeindung Pradls und Wiltens 1904 hatte Innsbruck etwas über 50.000 Einwohner. Der Anteil der Studenten lag mit etwas über 1000 bei unter 2%. Von den etwa 3000 italienischstämmigen, die meisten davon Welschtiroler aus dem Trentino, waren nur etwas über 100 an der Universität inskribiert. Den Großteil der Wallschen machten Arbeiter, Wirte, Händler und Soldaten aus. Viele lebten schon lange in und rund um Innsbruck. Besonders in Wilten ließen sich viele nieder. Bald fand sich im etwas günstigeren Arbeiterdorf am unteren Stadtplatz eine kleine Diaspora zusammen. Anton Gutmann vertrieb in seiner Kellerei-Genossenschaft Riva in der Leopoldstraße 30 italienische Weine, gegenüber konnte man im Gasthaus Steneck Spezialitäten südlich des Brenners gut und günstig essen. Der überwiegende Teil war Teil einer anderen Alltagskultur, sprach als Untertanen der Monarchie aber ausgezeichnet Deutsch, nur ein kleiner Teil kam aus Dalmatien oder Triest und war tatsächlich fremdsprachig. Auch sie gründeten dem Zeitgeist verpflichtet Sportvereine wie den Club Ciclistico oder die Unione Ginnastica, sozialistisch orientierte Arbeiter- und Konsumorganisationen, Musikvereine und Studentenverbindungen.

Obwohl auch unter ihnen die Studenten nur einen geringen Teil ausmachten, wurde ihnen und der Forderung nach einem Institut mit italienisch als Prüfungs- und Unterrichtssprache überdurchschnittliche Aufmerksamkeit entgegengebracht. Konservative und deutschnationale Politiker, Studenten und Medien sahen durch eine italienische Universität das Tiroler Deutschtum in Gefahr. Zu den ethnischen und rassistischen Ressentiments gegenüber den südländischen Nachbarn kam besonders bei Katholiken auch die Angst vor Charakteren wie Cesare Battisti, der als Sozialist ohnehin das leibhaftig Böse verkörperte. Bürgermeister Wilhelm Greil nutzte die allgemeine Feindseligkeit gegenüber italienischsprachigen Einwohnern und Studenten in ähnlich populistischer Manier wie es sein Wiener Amtskollege Karl Lueger in Wien mit der antisemitischen Stimmungsmache tat.

Nach einigem Hin und Her wurde im September 1904 beschlossen, eine provisorische rechtswissenschaftliche Fakultät in Innsbruck zu gründen. Das sollte die Studenten trennen, ohne eine der Gruppen zu vergrämen. Von Anfang an stand das Projekt aber unter keinem guten Stern. Niemand wollte der Universität die nötigen Räumlichkeiten vermieten. Schließlich stellte der geschäftstüchtige Baumeister Anton Fritz eine Wohnung in einem seiner Mietzinshäuser in der Liebeneggstraße 8 zur Verfügung. Bei der Antrittsvorlesung und der feierlichen Abendveranstaltung im Gasthaus zum Weißen Kreuz am 3. November waren Promis wie Battisti oder der spätere italienische Ministerpräsident Alcide de Gasperi anwesend. Je später der Abend desto ausgelassener die Stimmung. Als Schmährufe wie „Porchi tedeschi“ und „Abbasso Austria“ (Anm.: Deutsche Schweine und Nieder mit Österreich) fielen, eskalierte die Situation. Eine mit Stöcken, Messern und Revolvern bewaffnete Meute deutschsprachiger Studenten belagerte das Weiße Kreuz, in dem sich die ebenfalls zu einem großen Teil bewaffneten Italiener verschanzten. Ein Trupp Kaiserjäger konnte den ersten Tumult erfolgreich auflösen. Dabei wurde der Kunstmaler August Pezzey (1875 – 1904) durch einen Stich mit dem Bajonett irrtümlich von einem übertrieben nervösen Soldaten tödlich verwundet.

Die Innsbrucker Nachrichten erschienen nach den nächtlichen Aktivitäten am 4. November unter der Headline: „Deutsches Blut geflossen!“. Der anwesende Redakteur berichtete von 100 bis 200 Revolverschüssen, die von den Italienern auf die „Schar von deutschen Studenten“ abgegeben wurden, die sich vor dem Gasthaus zum Weißen Kreuz versammelt hatten. Die neun dadurch Verletzten wurden namentlich aufgezählt, anschließend folgte eine erstaunlich detaillierte Erzählung des Geschehenen inklusive der Verwundung Pezzeys. Die Nachricht über den Tod des jungen Mannes löste einen Sturm an Racheakten und Gewalttaten aus. Zu den überzeugten Deutschnationalen gesellten sich, wie bei jedem Aufruhr, Schaulustige und Randalierer, die Spaß daran hatten, in der Anonymität der Masse über die Stränge zu schlagen ohne großartige politische Überzeugung. Während die in Haft genommenen Italiener im vollkommen überfüllten Gefängnis die martialische Hymne Inno di Garibaldi anstimmten, kam es in der Stadt zu schweren Ausschreitungen gegen italienische Lokale und Betriebe. Die Räumlichkeiten des Gasthauses zum Weißen Kreuz wurden in monarchietreuer Manier bis auf ein Porträt Kaiser Franz Josefs vollkommen verwüstet. Randalierer bewarfen den Wohnsitz des Statthalters, das Palais Trapp, mit Steinen, da seine Frau italienische Wurzeln hatte. Das von Anton Fritz der Universität zur Verfügung gestellte Gebäude in der Liebeneggstraße wurde ebenso zerstört wie der private Wohnsitz des Baumeisters.

Der in den Wirren zu Tode gekommene, aus einer Ladiner Familie stammende August Pezzey, wurde in einem nationalen Rausch von Politikern und der Presse zum „Deutschen Helden“ erklärt. Er erhielt am Innsbrucker Westfriedhof ein Ehrengrab. Bei seinem Begräbnis mit Tausenden Trauernden, verlas Bürgermeister Greil eine pathetische Rede:

„…Ein herrlich schöner Tod war Dir beschieden auf dem Felde der Ehre für das deutsche Volk… Im Kampfe gegen freche welsche Gewalttaten hast Du Dein Leben ausgehaucht als Märtyrer für die deutsche Sache…“

Berichte von den Fatti di Innsbruck schafften es in die internationale Presse und trugen entscheidend zum Rücktritt des österreichischen Ministerpräsidenten Ernest von Koerber bei. Je nach Medium wurden die Italiener als ehrlose Banditen oder mutige Nationalhelden, die Österreicher als pangermanistische Barbaren oder Bollwerk gegen das Wallsche gesehen. Am 17. November, nur zwei Wochen nach der feierlichen Eröffnung, wurde die italienische Fakultät in Innsbruck wieder aufgelöst. Eine eigene Universität blieb der Sprachgruppe innerhalb Österreich-Ungarns bis zum Ende der Monarchie 1918 verwehrt. Die lange Tradition, Italiener als ehrlos und faul zu betrachten, wurde mit dem Kriegseintritt Italiens an der Seite der Entente noch mehr befeuert. Bis heute halten viele Tiroler die negativen Vorurteile gegenüber ihren südlichen Nachbarn lebendig. 

Franz Baumann und die Tiroler Moderne

Der Erste Weltkrieg brachte nicht nur Herrscherhäuser und Imperien an ihr Ende, auch in Kunst, Musik, Literatur und Architektur veränderte sich in den 1920er Jahren vieles. Während sich Jazz, atonale Musik und Expressionismus im kleinen Innsbruck nicht etablierten, veränderte eine Handvoll Bauplaner das Stadtbild auf erstaunliche Art und Weise. Inspiriert von den neuen Formen der Gestaltung wie dem Bauhausstil, Wolkenkratzern aus den USA und der Sowjetischen Moderne aus der revolutionären UdSSR entstanden in Innsbruck aufsehenerregende Projekte. Die bekanntesten Vertreter der Avantgarde, die diese neue Art und Weise die Gestaltung des öffentlichen Raumes in Tirol zustande brachten, waren Lois Welzenbacher Siegfried Mazagg, Theodor Prachensky, und Clemens Holzmeister. Jeder dieser Architekten hatte seine Eigenheiten, wodurch die Tiroler Moderne nur schwer eindeutig zu definieren ist. Allen gemeinsam war die Abwendung von der klassizistischen Architektur der Vorkriegszeit. Lois Welzenbacher schrieb 1920 in einem Artikel der Zeitschrift Tiroler Hochland über die Architektur dieser Zeit:

„Soweit wir heute urteilen können, steht wohl fest, daß dem 19. Jahrhundert in seinem Großteile die Kraft fehlte, sich einen eigenen, ausgesprochenen Stil zu schaffen. Es ist das Zeitalter der Stillosigkeit… So wurden Einzelheiten historisch genau wiedergegeben, meist ohne besonderen Sinn und Zweck, und ohne harmonisches Gesamtbild, das aus sachlicher oder künstlerischer Notwendigkeit erwachsen wäre.“

Der bekannteste und im Innsbrucker Stadtbild am eindrücklichsten bis heute sichtbare Vertreter der sogenannten Tiroler Moderne war Franz Baumann (1892 – 1974). Anders als Holzmeister oder Welzenbacher hatte er keine akademische Ausbildung genossen. Baumann kam 1892 als Sohn eines Postbeamten in Innsbruck zur Welt. Der Theologe, Publizist und Kriegspropagandist Anton Müllner alias Bruder Willram wurde auf das zeichnerische Talent von Franz Baumann aufmerksam und ermöglichte dem jungen Mann mit 14 Jahren den Besuch der Staatsgewerbeschule, der heutigen HTL. Hier lernte er seinen späteren Schwager Theodor Prachensky kennen. Gemeinsam mit Baumanns Schwester Maria waren die beiden jungen Männer auf Ausflügen in der Gegend rund um Innsbruck unterwegs, um Bilder der Bergwelt und Natur zu malen. Während der Schulzeit sammelte er erste Berufserfahrungen als Maurer bei der Baufirma Huter & Söhne. 1910 folgte Baumann seinem Freund Prachensky nach Meran, um bei der Firma Musch & Lun zu arbeiten. Meran war damals Tirols wichtigster Tourismusort mit internationalen Kurgästen. Unter dem Architekten Adalbert Erlebach machte er erste Erfahrungen bei der Planung von Großprojekten wie Hotels und Seilbahnen.

Wie den Großteil seiner Generation riss der Erste Weltkrieg auch Baumann aus Berufsleben und Alltag. An der Italienfront erlitt er im Kampfeinsatz einen Bauchschuss, von dem er sich in einem Lazarett in Prag erholte. In dieser ansonsten tatenlosen Zeit malte er Stadtansichten von Bauwerken in und rund um Prag. Diese Bilder, die ihm später bei der Visualisierung seiner Pläne helfen sollten, wurden in seiner einzigen Ausstellung 1919 präsentiert.

Baumanns Durchbruch kam in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre. Er konnte die Ausschreibungen für den Umbau des Weinhaus Happ in der Altstadt und der Nordkettenbahn für sich entscheiden. Neben seiner Kreativität und dem Vermögen ganzheitlich zu denken, kamen ihm dabei die Übereinstimmung seines architektonischen Ansatzes mit der Gesetzeslage und den modernen Anforderungen der Ausschreibungen der 1920er Jahre entgegen. Das Bauwesen war Landessache, der Tiroler Heimatschutzverband war gemeinsam mit der Bezirkshauptmannschaft als letztentscheidende Behörde bei Bauprojekten für Bewertung und Genehmigung zuständig. In seiner Zeit in Meran war Baumann schon mit dem Heimatschutzverband in Berührung gekommen. Kunibert Zimmeter hatte diesen Verein noch in den letzten Jahren der Monarchie gemeinsam mit Gotthard Graf Trapp gegründet. In „Unser Tirol. Ein Heimatschutzbuch“ schrieb er:

„Schauen wir auf die Verflachung unseres Privat-Lebens, unserer Vergnügungen, in deren Mittelpunkt bezeichnender Weise das Kino steht, auf die literarischen Eintagsfliegen unserer Zeitungslektüre, auf die heillosen und kostspieligen Auswüchse der Mode auf dem Gebiete der Frauenbekleidung, werfen wir einen Blick in unserer Wohnungen mit den elenden Fabriksmöbeln und all den fürchterlichen Erzeugnissen unserer sogenannten Galanteriewaren-Industrie, Dinge, an deren Herstellung tausende von Menschen arbeiten und dabei wertlosen Krims-Krams schaffen, oder betrachten wir unsere Zinshäuser und Villen mit den Paläste vortäuschenden Zementfassaden, unzähligen überflüssigen Türmen und Giebeln, unsere Hotels mit ihren aufgedonnerten Fassaden, welche Verschleuderung des Volksvermögens, welche Fülle von Geschmacklosigkeit müssen wir da finden.“

Im Wirtschaftsaufschwung der späten 1920er Jahre entstand eine neue Kunden- und Gästeschicht, die neue Anforderungen an Gebäude und somit an das Baugewerbe richtete. In vielen Tiroler Dörfern hatten Hotels die Kirchen als größtes Bauwerk im Ortsbild abgelöst. Die aristokratische Distanz zur Bergwelt war einer bürgerlichen Sportbegeisterung gewichen. Das bedurfte neuer Lösungen in neuen Höhen. Man baute keine Grandhotels mehr auf 1500 m für den Kururlaub, sondern eine komplette Infrastruktur für Skisportler im hochalpinen Gelände wie der Nordkette. Der Tiroler Heimatschutzverband wachte darüber, dass Natur und Ortsbilder von allzu modischen Strömungen, überbordendem Tourismus und hässlichen Industriebauten geschützt wurden. Bauprojekte sollten sich harmonisch, ansehnlich und zweckdienlich in die Umwelt eingliedern. Architekten mussten trotz der gesellschaftlichen und künstlerischen Neuerungen der Zeit den regionaltypischen Charakter mitdenken. Genau hier lagen die Stärken Baumanns Ansatz des ganzheitlichen Bauens im Tiroler Sinne. Alle technischen Funktionen und Details, die Einbettung der Gebäude in die Landschaft unter Berücksichtigung der Topografie und des Sonnenlichtes spielten für ihn, der offiziell den Titel Architekt gar nicht führen durfte, eine Rolle. Er folgte damit den „Regeln, für den, der in den Bergen baut“ des Architekten Adolf Loos von 1913:

Baue nicht malerisch. Überlasse solche Wirkung den Mauern, den Bergen und der Sonne. Der Mensch, der sich malerisch kleidet, ist nicht malerisch, sondern ein Hanswurst. Der Bauer kleidet sich nicht malerisch. Aber er ist es…

Achte auf die Formen, in denen der Bauer baut. Denn sie sind Urväterweisheit, geronnene Substanz. Aber suche den Grund der Form auf. Haben die Fortschritte der Technik es möglich gemacht, die Form zu verbessern, so ist immer diese Verbesserung zu verwenden. De Dreschflegel wird von der Dreschmaschine abgelöst.“

Baumann entwarf von der Außenbeleuchtung bis hin zu den Möbeln auch kleinste Details und fügte sie in sein Gesamtkonzept der Tiroler Moderne ein.

Ab 1927 war Baumann selbstständig in seinem Atelier in der Schöpfstraße in Wilten tätig. Immer wieder kam er dabei in Berührung mit seinem Schwager und Mitarbeiter des Bauamtes Theodor Prachensky. Gemeinsam projektierten die beiden ab 1929 das Gebäude für die neue Hauptschule Hötting am Fürstenweg. Buben und Mädchen waren zwar noch immer traditionell baulich getrennt einzuplanen, ansonsten entsprach der Bau aber in Form und Ausstattung ganz dem Stil der Neuen Sachlichkeit und dem Prinzip Licht, Luft und Sonne.

Zur Blütezeit stellte er in seinem Büro 14 Mitarbeiter an. Dank seines modernen Ansatzes, der Funktion, Ästhetik und sparsames Bauen vereinte, überstand er die Wirtschaftskrise gut. Erst die 1000-Mark-Sperre, die Hitler 1934 über Österreich verhängte, um die Republik finanziell in Bredouille zu bringen, brachte sein Architekturbüro wie die gesamte Wirtschaft in Probleme. Nicht nur die Arbeitslosenquote im Tourismus verdreifachte sich innerhalb kürzester Zeit, auch die Baubranche geriet in Schwierigkeiten. 1935 wurde Baumann zum Leiter der Zentralvereinigung für Architekten, nachdem er mit einer Ausnahmegenehmigung ausgestattet diesen Berufstitel endlich tragen durfte. Im gleichen Jahr plante er die Hörtnaglsiedlung im Westen der Stadt.

Nach dem Anschluss 1938 trat er zügig der NSDAP bei. Einerseits war er wohl wie sein Kollege Lois Welzenbacher den Ideen des Nationalsozialismus nicht abgeneigt, andererseits konnte er so als Obmann der Reichskammer für bildende Künste in Tirol seine Karriere vorantreiben. In dieser Position stellte er sich mehrmals mutig gegen den zerstörerischen Furor, mit dem die Machthaber das Stadtbild Innsbrucks verändern wollten, der seiner Vorstellung von Stadtplanung nicht entsprach. Der Innsbrucker Bürgermeister Egon Denz wollte die Triumphpforte und die Annasäule entfernen, um dem Verkehr in der Maria-Theresienstraße mehr Platz zu geben. Die Innenstadt war noch immer Durchzugsgebiet, um vom Brenner im Süden, um auf die Bundesstraße nach Osten und Westen am heutigen Innrain zu gelangen. Anstelle der Annasäule sollte nach Wusch von Gauleiter Franz Hofer eine Statue Adolf Hitlers errichtet werden. Hofer wollte auch die Kirchtürme der Stiftskirche sprengen lassen. Die Stellungnahme Baumanns zu diesen Plänen fiel negativ aus. Als der Sachverhalt es bis auf den Schreibtisch Albert Speers schaffte, pflichtet dieser ihm bei. Von diesem Zeitpunkt an erhielt Baumann von Gauleiter Hofer keine öffentlichen Projekte mehr zugesprochen.

Nach Befragungen im Rahmen der Entnazifizierung begann Baumann im Stadtbauamt zu arbeiten, wohl auch auf Empfehlung seines Schwagers Prachensky. Baumann wurde zwar voll entlastet, unter anderem durch eine Aussage des Abtes von Wilten, dessen Kirchtürme er gerettet hatte, sein Ruf als Architekt war aber nicht mehr zu kitten. Zudem hatte ein Bombentreffer hatte 1944 sein Atelier in der Schöpfstraße zerstört. In seiner Nachkriegskarriere war er für Sanierungen an vom Krieg in Mitleidenschaft gezogenen Gebäuden zuständig. So wurde unter ihm der Boznerplatz mit dem Rudolfsbrunnen wiederaufgebaut sowie Burggraben und die neuen Stadtsäle (Anm.: heute Haus der Musik) gestaltet.

Franz Baumann verstarb 1974. Seine Bilder, Skizzen und Zeichnungen sind heiß begehrt und werden hoch gehandelt. Wer Großprojekte neueren Datums wie die Stadtbibliothek, die PEMA-Türme und viele der Wohnanlagen in Innsbruck aufmerksam betrachtet, wird die Ansätze der Tiroler Moderne auch heute noch wiederentdecken.

Siegmund der Münzreiche

Auf Friedl mit der leeren Tasche folgte Siegmund der Münzreiche als Tiroler Landesfürst. Siegmund von Tirol (1427 – 1496) startete denkbar schlecht in sein Amt als Landesfürst. Als sein Vater Friedrich starb, war Siegmund erst 12 Jahre alt. Deshalb nahm ihn sein Onkel Friedrich III., der Kaiser des Heiligen Römischen Reichs und Vater Maximilians I., in unfreiwillige Obhut und Vormundschaft. Man könnte sagen, Siegmund startete seine Karriere als Geisel des Kaisers, seines eigenen Vetters. Tirol war mittlerweile eine reiche Grafschaft, die direkte Kontrolle darüber wollte der Kaiser nur ungern aufgeben. Erst als die Tiroler Landstände gegen diese Bevormundung protestierten, konnte Siegmund sein Amt antreten. Der Tiroler Landtag hatte die Regierungsgeschäfte in Ermangelung eines Landesfürsten übernommen und damit politisches Gewicht bewiesen. Mit 18 Jahren zog Siegmund in Innsbruck ein, um die Amtsgeschäfte zu übernehmen. Vier Jahre später heiratete er Eleonore von Schottland (1433 – 1480), die optisch wenig attraktive 16 Jahre alte Tochter Königs Jakob aus dem Hause Stewart. Die Ehe sollte ohne Kinder bleiben.

Siegmund erließ die Schwazer Bergordnung, die zum Vorbild für alle Bergwerke der Habsburger werden sollte. Den Bergbeamten wurden, ähnlich den Universitäten, mehr Rechte innerhalb ihres Wirkungsbereiches gegeben. Für die Bergarbeiter gab es Sonderregelungen innerhalb der Gesellschaft, waren sie doch heiß begehrte Arbeitskräfte. Man kann von einer frühen sozial- und arbeitsrechtlichen Vereinbarung sprechen. Die Bergleute arbeiteten hart, verdienten aber verhältnismäßig gut. Dasselbe galt für die Münzprägeanstalt und die Salinen in Hall. Auch in Innsbruck und Umgebung zog das städtische Leben neues Handwerk an. In Mühlau etablierte sich mit der Plattnerei hochwertiges Metallgewerbe. 1484 ließ Siegmund die Münzprägeanstalt von Meran in Südtirol nach Hall verlegen, was ihm den Beinamen Siegmund der Münzreiche einbrachte. Nicht nur für Hall, auch für Innsbruck bedeutete das eine immense Aufwertung.

Innsbruck blühte unter Hofstaat und Säckel Siegmunds auf. Die Stadt war während seiner opulenten Regentschaft zu einem Anziehungspunkt für Handwerker, Goldschmiede und Künstler geworden. Der Stadtturm beim Alten Rathaus als Ausdruck des städtischen Wohlstands und erste Teile der Hofburg wurden unter Siegmund erbaut. Ein Glasmaler siedete sich in Innsbruck an. Die Hofbibliothek wuchs im Gleichschritt mit Siegmunds und Eleonores humanistisch gelehrten Gästen. Beide galten als kunstsinnig und literarisch interessiert. Bücher waren in der Zeit vor der Erfindung des Buchdrucks ein teures Hobby. Auch fahrendes Volk und Schausteller waren am Hof gerne gesehen, um die einheimischen und internationalen Gäste zu unterhalten.

Siegmunds opulenter Lebenswandel kostete ihn nicht nur viel Geld, sondern auch politische Reputation und am Ende seiner Laufbahn wohl auch den Fürstenthron. In zweiter Ehe hatte er Katharina von Sachsen (1468 – 1524), eine Dame aus kurfürstlichem hocharistokratischem Haus, geheiratet. Es war wohl auch dem Einfluss und der Hofhaltung Siegmunds und seiner beiden Ehefrauen zu verdanken, dass die Ausgaben des Münzreichen auf lange Sicht die Einnahmen aus Steuern, Salinen und den Bergwerken überstiegen. Bei der landesfürstlichen Hochzeit 1484 umfasste allein der Zug der Braut 54 Wagen. Die Gäste mussten in Innsbruck einquartiert und verköstigt werden. Auch mit der 40 Jahre jüngeren Frau war dem mittlerweile senilen Siegmund männlicher Erbe vergönnt, was besonders bitter für ihn gewesen sein muss, betrachtet man die ihm nachgesagten 30 außerehelich gezeugten Kinder.

Gleichzeitig wurden die Zeiten rauer für die, die mit dem neuen Lebensrhythmus der Stadt nicht mithalten konnten. Man kann von circa 2000 Stadtbürgern zu dieser Zeit ausgehen. Der Hofstaat Sigmunds bestand aus 500 Personen, der Hofstaat seiner Frau war dabei nicht miteingerechnet. Diese „Fremden“ erregten in Innsbruck Aufsehen. Die Kluft zwischen den sozialen Schichten wuchs. Der Hexenprozess von 1485 fanden in einem Klima aus Neid, Missgunst und Skepsis gegenüber den neuen Sitten statt, die in Innsbruck Einzug hielten.

Siegmund war nicht der erfolgreichste Herrscher Tirols, blieb dank seiner Verdienste um den kulturellen Aufschwung in Innsbruck aber bis heute in guter Erinnerung. Sein Hof war am Ende seiner Regierungszeit übermäßig aufgebläht und teuer. Ein verlorener Krieg mit den Schweizer Eidgenossen verpflichtete ihn zu Zahlungen, auch ein Krieg mit Venedig endete schlecht. Siegmund musste habsburgische Besitzungen im Elsass und dem heutigen Breisgau an Karl den Kühnen von Burgund, den zukünftigen Schwiegervater Maximilians I. verpfänden. Die österreichischen Vorlande verkaufte er zu einem Spottpreis an das Herzogtum Bayern, die Tiroler Silberbergwerke verpfändete er an Jakob Fugger. Die bayerischen Wittelsbacher wollten über einen Erbvertrag mit dem altersbedingt geistig umnachteten Sigmund auch Tirol wieder unter ihre Kontrolle bringen. Erst kaiserlicher Druck und das eilige Einschreiten der Tiroler Landstände und Maximilians ermöglichten den Verbleib des Landes beim Haus Habsburg. 

Rudolf von Habsburg: Politik und Sitten der Zeit

Der intelligente, liberal eingestellte und sensible Kronprinz Rudolf (1858 – 1889) galt als der Liebling der Völker des Habsburgerreichs. Sein Leben kann in vielerlei Hinsicht als exemplarisch für die Zeit zwischen 1848 und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs gelesen werden. Der Kampf zwischen neuen politischen Ideen und Althergebrachtem, die Begeisterung für Wissenschaft, Kunst und Kultur sowie Sitten und Moral, der auch in Innsbruck Gesellschaft und Alltag prägte, spiegeln sich in der Figur des Sohnes Kaiser Franz Josefs I. wider. Der allergrößte Teil der Innsbrucker hatte nicht die materiellen Möglichkeiten oder den Status eines Habsburgers, die Moden und Strömungen, unter denen sie lebten, waren aber dieselben.

Das Innsbrucker Großbürgertum eiferte diesem Ideal nach, so wie Rudolf sich stets als Teil dieses Großbürgertums sah. Er galt als belesen und gebildet und interessierte sich ganz im Zeitgeist für ein breites Spektrum an Themen. Er sprach neben Griechisch und Latein auch Französisch, Ungarisch, Tschechisch und Kroatisch. Als Privatier widmete er sich dem Verfassen von Presseartikeln, der Wissenschaft und dem Reisen durch die Länder der Monarchie. Er veranlasste die Herausgabe des Kronprinzenwerks, einer naturwissenschaftlichen Enzyklopädie. 1893 erschien Band 13, der das Kronland Tirol behandelte.

Auch politisch war er Neuem gegenüber aufgeschlossen. Rudolf verfasste liberale Artikel im "Neuen Wiener Tagblatt" unter einem Pseudonym. Er wollte unter anderem Grund- und Bodenreformen vorantreiben durch stärkere Besteuerung der Großgrundbesitzer und den einzelnen Nationalitäten des Habsburgerreichs mehr Rechte zugestehen. Besonders im konservativen, ländlichen Tirol und unter Militärs war er sehr unbeliebt. Bei den liberal gesinnten Innsbruckern hingegen galt er als Hoffnung für eine Erneuerung der Monarchie im Sinne eines modernen, föderalen Staates. Der Rudolfsbrunnen in Innsbruck am Boznerplatz erinnert zwar nicht an den Kronprinzen, bei seiner Einweihung war er aber zugegen.

Rudolfs Privatleben war trotz, oder gerade wegen seines aristokratischen Hintergrundes, turbulent, allerdings nicht untypisch für diese Zeit, in der Eltern und Lehrer weniger nahbare Erziehungspersonen als vielmehr distanzierte Respektpersonen darstellten. Kinder wurden streng erzogen. Weder Lehrer noch Eltern schreckten vor körperlicher Züchtigung zurück, auch wenn es Grenzen, Gesetze und Regeln für den Einsatz von häuslicher Gewalt gab. Militarismus und Fokus auf die zukünftige Erwerbsarbeit verhinderten Kindheit und Jugend, wie wir sie heute kennen. Junge Männer aus der Oberschicht lebten ihre soldatischen Tagträume als bewaffnete und uniformierte Mitglieder von Studentenverbindungen aus. Auch Rudolfs frühe Jahre, als er auf Wunsch Kaiser Franz Josef eine soldatische Erziehung unter General Gondrecourt durchlaufen musste, waren wenig luxuriös. Erst nach Einschreiten seiner Mutter Elisabeth wurden Schikanen wie Wasserkuren, Exerzieren in Regen und Schnee und das Aufwecken mit Pistolenschüssen aus dem täglichen Programm des sechsjährigen Kronprinzen genommen.

Wie viele seiner Zeitgenossen fand sich auch Rudolf als Mitglied der Oberschicht in einer unglücklichen, da arrangierten Ehe wieder. Das 19. Jahrhundert war nicht das Zeitalter der Liebesheiraten, auch wenn Romantik und Biedermeierzeit gerne dahingehend gerühmt werden. Aristokraten und Mitglieder des hohen Bürgertums heirateten aus Standesdünkel und mit dem Ziel, die Dynastie zu erhalten. In der Oberschicht waren Ehefrauen nichts weiter als Schmuck ihres Gatten und Oberhaupt des Haushaltes. Erst wenn der oft ältere Ehemann verstorben war, konnten auch Witwen ihr Leben abseits dieser Rolle genießen. Dienstboten, Hausmädchen, Knechten und Mägden war die Hochzeit lange untersagt. Die Gefahr, dass sie als Vermögenslose ihre Kinder nicht ernähren konnten und damit zur Last für die Allgemeinheit wurden, war den Gemeinden zu groß. Diese Doppelmoral von Aristokratie und Großbürgertum gegenüber dem Pofl führte dazu, dass illegale Abtreibungen, volle Waisenhäuser und Kinder, die bei Verwandten am Land anstatt bei ihren Eltern aufwuchsen, vor allem in den Städten gelebter Alltag waren.

Zeit seines Lebens war auch Rudolf dem schönen Geschlecht außerhalb der Ehe nicht abgeneigt. In seinen letzten Lebensmonaten unterhielt Rudolf eine Affäre mit der als besonders schön geltenden Mary Vetsera, einem erst 17 Jahre alten Mädchen aus reichem ungarischem Adel. Er war zu dieser Zeit von Depressionen, Gonorrhö, Alkohol- und Morphiumsucht bereits schwer gezeichnet. Am 30. Januar 1889 traf sich Rudolf mit Vetsera, nachdem er die Nacht zuvor mit seiner Langzeitgeliebten, der Prostituierten Maria „Mizzi“ Kaspar, verbracht hatte. Unter nie vollständig geklärten Umständen tötete er zuerst die junge Frau und dann sich selbst mit einem Schuss in den Kopf. Von der Familie Habsburg wurde der Selbstmord nie anerkannt. Zita (1892 – 1989), die Witwe des letzten Kaisers Karl, sprach noch in den 1980ern von einem Mordanschlag. Wie Rudolf hielten es auch viele seiner Untertanen. Zwar konnte sich kaum jemand rühmen, eine ungarische Adelige als Gespielin für sich zu beanspruchen, eine Liebhaberin, so waren die Sitten nicht so, wie es Pfarrer täglich von der Kanzel predigten. Ehemänner tobten sich sexuell bei Affären mit Dienstmädchen, Geliebten und Prostituierten aus.

Die Diskussion um die Beisetzung des Thronfolgers und seiner Geliebten zeigte die christliche  Zweigesichtigkeit Doppelmoral der Gesellschaft des Habsburgerreiches. Dem wirtschaftlichen Liberalismus der Eliten stand das konservative und streng katholische gesellschaftliche Leitbild gegenüber. Aufklärung und bürgerliche Freiheiten trafen auf Frömmigkeit und eine neue Konfessionalisierung durch die Staatskirchen. Neubauten von Kirchen gingen mit dem Bevölkerungswachstum durch die Decke, wie die Neue Höttinger Pfarrkirche oder die Pfarrkirche St. Nikolaus in Innsbruck zeigen. Die Tiroler Glasmalerei- und Mosaikanstalt konnte sich über volle Auftragsbücher freuen. Es ist kein Zufall, dass der Kaisertitel seine größte Beliebtheit unter den europäischen Herrschern zwischen der Französischen Revolution und dem Ersten Weltkrieg hatte. Selbstmord galt als schwere Sünde und verhinderte eigentlich ein christliches Begräbnis. Vetsera wurde am Friedhof in Heiligenkreuz bei Mayerling in einem kleinen Grab an der Friedhofsmauer unauffällig beigesetzt, während Rudolf nach kaiserlicher Intervention beim Papst ein Staatsbegräbnis erhielt und seine letzte Ruhe in der Kapuzinergruft in Wien erhielt.