Romantik, Sommer ohne Sonne und Entschuldigungskarten

Quaternionenadler Innsbruck
Romantik, sonnenlose Sommer und Entschuldigungskarten

Dank der Universität, ihrer Professoren und den jungen Menschen, die sie anzog und produzierte, schnupperte auch Innsbruck im 18. Jahrhundert in der Ära Maria Theresias die Morgenluft der Aufklärung, wenn auch schaumgebremst von der jesuitischen Fakultätsleitung. 1741 gründete sich mit der Societas Academica Litteraria im Taxispalais ein Gelehrtenzirkel. 1777 begründete sich die Freimaurerloge Zu den drei Bergen, vier Jahre später die Tirolische Gesellschaft für Künste und Wissenschaft. Der Geist der Vernunft in der Zeit Maria Theresias und Kaiser Josefs hielt auch in Innsbrucks Elite Einzug. Angestachelt von der Französischen Revolution bekannten sich einige Studenten gar zu den Jakobinern. Unter Kaiser Franz wurden all diese Vereinigungen nach der Kriegserklärung an Frankreich 1794 verboten und streng überwacht. Aufklärerische Ideen waren bereits vor der Französischen Revolution in großen Teilen der Bevölkerung verpönt. Spätestens nach der Enthauptung von Marie Antoinette, der Schwester des Kaisers, und dem Kriegsausbruch zwischen der Republik Frankreich und den Monarchien Europas, galten sie als gefährlich. Wer wollte schon als Jakobiner gelten, wenn es darum ging, die Heimat zu verteidigen?

Nach den Napoleonischen Kriegen begann Innsbruck nur langsam sich zu erholen, sowohl wirtschaftlich wie auch gedanklich. Der wohl bekannteste Schriftsteller der österreichischen Romantik Adalbert Stifter (1805 -1868) beschrieb das Innsbruck der 1830er in seinem Reisebericht Tirol und Vorarlberg folgendermaßen:

„Die Wirtshäuser waren schlecht, die Pflaster erbärmlich, lange Dachrinnen überragten die engen Straßen, die von beiden Seiten von dumpfen Gewölben eingefasst waren… die schönen Ufer des Inns waren ungepflastert, dafür aber mit Kehrichthaufen bedeckt und von Kloaken durchzogen.“

Die kleine Stadt am Rande des Kaiserreiches hatte etwas mehr als 12.000 Einwohner, „ohne die Soldaten, Studenten und Fremden zu rechnen“. Universität, Gymnasium, Lesekasino, Musikverein, Theater und Museum zeugten von sich entwickelnder, moderner urbaner Kultur. Es gab ein Deutsches Kaffeehaus, eine Restauration im Hofgarten und mehrere traditionelle Gasthöfe wie das Weisse Kreuz, den Österreichischen Hof, die Traube, das Katzung, das Munding, die jeweils Goldenen Adler, Stern und Hirsch. Nach 1830 wurden die offenen Abwasserkanäle verriegelt und hygienischer gestaltet, Straßen ausgebessert, Brücken saniert. Auch die überfällige und vor den Kriegswirren begonnene Begradigung und Zähmung von Inn und Sill wurden angegangen. Die größte Neuerung für die Bevölkerung trug sich 1830 zu, als Öllampen die Stadt auch in der Nacht erhellten. Es war wohl nur ein schummriges Dämmerlicht, das aus den über 150 auf Säulen und Armleuchtern angebrachten Lampen entstand, für Zeitgenossen war es aber eine wahrhaftige Revolution.

Die bayerische Besatzung war verschwunden, die Ideen der Denker der Aufklärung und der Französischen Revolution hatten sich aber in einigen Köpfen des städtischen Milieus verfangen. Natürlich waren es keine atheistischen, sozialistischen oder gar umstürzlerischen Gedanken, die sich breit machten. Es ging vor allem um wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Teilhabe des Bürgertums. Das Vereinswesen, zuvor verboten, feierte eine Renaissance. Wer es sich leisten konnte und auf sich hielt, trat einem Verein bei. „In Innsbruck besteht ein Musikverein, ein landwirthschaftlicher und ein montanistisch-geognostischer,“ stand etwa im Reiseführer Beda Webers zu lesen. Es galt das tugendhafte Miteinander zum Wohl der weniger Begüterten und die Erziehung der Massen mit dem Treiben in den Vereinen zu forcieren. Wissenschaft, Literatur, Theater und Musik, aber auch Initiativen wie der Innsbrucker Verschönerungsverein, aber auch praktische Institutionen wie die Freiwillige Feuerwehr etablierten sich als Säulen einer bis dato nicht gekannten Zivilgesellschaft. Einer der ersten Vereine, die sich bildeten, war der Musikverein Innsbruck, aus dem das Tiroler Landeskonservatorium hervorging. Männer und Frauen waren ganz im Zeitgeist nicht Mitglieder in den gleichen Vereinen. Frauen engagierten sich vor allem in der Wohlfahrt wie dem Frauenverein zur Beförderung der Kleinkinder-Bewahranstalten und weiblichen Industrie-Schule. Teilnahme am politischen Diskurs von weiblicher Seite war nicht erwünscht.

Neben der christlichen Nächstenliebe waren wohl auch Geltungsdrang und Prestige große Anreize für die Mitglieder, sich in den Vereinen zu engagieren. Man traf sich, um zu sehen und gesehen zu werden. Gute Taten, das Zeigen von Bildung und tugendhafte Lebensführung waren damals wie heute die beste PR für die eigene Person.

Das Vereinsleben diente auch als Unterhaltung an langen Abenden ohne elektrisches Licht, Fernsehen und Internet. In den Gaststätten und Kaffeehäusern trafen sich Studenten, Beamte, Mitglieder des niederen Adels und Akademiker, um ihr Gedankengut auszutauschen. Dabei handelte es sich nicht nur um hochgeistig Abstraktes, sondern auch um profane Realpolitik wie die Aussetzung der Binnenzölle, die das Leben der Menschen unnötig teuer machten. Kulturell entdeckte die bürgerliche Bildungselite in Romantik und Biedermeier die kulturelle Flucht in eine heile Vergangenheit für sich. Nach den Jahrzehnten politischer Verwirrung, Krieg und Not wollte man, ähnlich wie nach 1945, Ablenkung von der jüngsten Vergangenheit. Die Antike und ihre Denker feierten in Innsbruck wie in ganz Europa eine zweite Renaissance. Stilbildend waren Denker der Romantik des 18. und frühen 19. Jahrhunderts wie Winckelmann, Lessing oder Hegel. Den Griechen wurde „edle Einfalt und stille Größe“ attestiert. Goethe wollte das „Land der Griechen mit der Seele suchen“ und machte sich auf nach Italien, um dort seine Sehnsucht nach der guten, vorchristlichen Zeit zu suchen, in dem die Menschen des Goldenen Zeitalters ein ungezwungenes Verhältnis mit ihren Göttern pflegten. Römische Tugenden der Stoa wurden als Leitbilder in die Moderne transportiert und bildeten die Basis für bürgerliche Genügsamkeit und den Patriotismus, der groß in Mode kam. Philologen durchkämmten die Texte antiker Schriftsteller und Philosophen und transportierten ein gefälliges „Best of“ ins 19. Jahrhundert. Säulen, Sphinxe, Büsten und Statuen mit klassischen Proportionen schmückten Paläste, Verwaltungsgebäude und Museen wie das Ferdinandeum. Studenten und Intellektuelle wie der Brite Lord Byron wurden so sehr vom Panhellenismus und der Idee des Nationalismus ergriffen, dass sie im griechischen Unabhängigkeitskampf gegen das osmanische Reich ihr Leben aufs Spiel setzten. In Innsbruck wurde nach dem Ende des Heiligen Römischen Reiches der Pangermanismus zur politischen Mode des liberalen Bürgertums.

Kanzler Clemens von Metternichs (1773 – 1859) Polizeistaat hielt diese gesellschaftlichen Regungen lange Zeit unter Kontrolle. Zeitungen, Flugblätter, Bücher und Vereine standen unter Generalverdacht. Schriften mussten sich an die Vorgaben der strengen Zensur anpassen oder im Untergrund verbreitet werden. Autoren wie Hermann von Gilm (1812 – 1864) und Johann Senn (1792 – 1857), an beide erinnern heute Straßen in Innsbruck, verbreiteten in Tirol anonym politisch motivierte Literatur. Der Innsbrucker Musikverein lehrte im Rahmen seiner Ausbildung auch die Deklamation, das Vortragen von Texten, Musik und Reden, die Inhalte wurden von der Obrigkeit streng überwacht. Alle Arten von Vereinen wie die Innsbrucker Liedertafel und Studentenverbindungen, sogar die Mitglieder des Ferdinandeums wurden ausspioniert. Die sich in den Arbeitervierteln formierenden sozialen Bewegungen wurden von der Geheimpolizei Metternichs ganz besonders ins Visier genommen. Auch die Schützen standen, trotz ihrer demonstrativen Kaisertreue, auf der Liste der zu observierenden Institutionen. Als zu aufsässig galten sie, nicht nur gegenüber fremden Mächten, sondern auch gegenüber der Wiener Zentralstaatlichkeit. Der Mix aus großdeutsch-nationalem Gedankengut und tirolischem Patriotismus vorgetragen mit dem Pathos der Romantik mutet heute eigenartig harmlos an, war aber dem metternich´schen Staatsapparat weder geheuer noch genehm.

Politischer Aktivismus war aber ein Randphänomen, das nur eine kleine Elite beschäftigte. Nachdem die Bergwerke und Salinen im 17. Jahrhundert ihre Rentabilität verloren hatten und auch der Transit ob der neuen Handelsrouten über den Atlantik an wirtschaftlicher Bedeutung einbüßte, war Tirol zu einem armen Landstrich geworden. Die Napoleonischen Kriege hatten über 20 Jahre lang gewütet. Das Jahr 1809 ging als Tiroler Heldenzeitalter in die Geschichtsschreibung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ein, die Folgen des Heldenhaften wurden kaum beleuchtet. Das Kaisertum Österreich zählte zwar zu den Siegermächten nach dem Wiener Kongress, die wirtschaftliche Lage war aber erbärmlich. Wie nach den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts waren auch in den Koalitionskriegen viele Männer nicht mehr nach Hause zurückgekehrt. Die Universität, die junge Aristokraten in den Wirtschaftskreislauf der Stadt zog, wurde erst 1826 wieder eröffnet. Anders als Industriestandorte in Böhmen, Mähren, Preußen oder England war die schwer erreichbare Stadt in den Alpen erst am Anfang der Entwicklung hin zu einem modernen Arbeitsmarkt. Auch der Tourismus steckte noch in den Kinderschuhen und war keine Cash Cow. Es ist kein Wunder, dass kaum Gebäude im Biedermeier-Stil in Innsbruck erhalten sind. Und dann war da noch ein Vulkan am anderen Ende der Welt, der die Geschicke der Stadt Innsbruck über Gebühr beeinflusste. 1815 war in Indonesien der Tambora ausgebrochen und hatte eine riesige Staub-, Schwefel- und Aschewolke um die Welt geschickt. 1816 ging als Jahr ohne Sommer in die Geschichte ein. In ganz Europa kam es zu Wetterkapriolen, Überschwemmungen und Missernten. Die Alpen, ein ohnehin schwieriger Teil der Erde, um Landwirtschaft zu betreiben, waren davon nicht ausgenommen.

Die wirtschaftlichen Verwerfungen und Preissteigerungen führten zu Not und Elend vor allem in den ärmeren Teilen der Bevölkerung. Die Armenfürsorge war im 19. Jahrhundert eine Aufgabe der Gemeinden, für gewöhnlich mit der Unterstützung wohlhabender Bürger als Mäzen mit dem Gedanken der christlichen Nächstenliebe. Staat, Gemeinde, Kirche und die neu entstehende Zivilgesellschaft in Form von Vereinen begannen sich um das Wohl der ärmsten Bevölkerungsteile zu kümmern. Es gab Benefizkonzerte, Sammlungen und Spendenaufrufe.  Die Maßnahmen enthielten oft eine aufgeklärte Komponente, auch wenn die Mittel zum Zweck heute eigenartig und fremd erscheinen. In Innsbruck trat zum Beispiel eine Bettelordnung in Kraft, die besitzlosen Menschen ein Eheverbot auferlegte. Knapp 1000 Bürger waren als Almosenbezieher und Bettler klassifiziert.

Als die Not immer größer wurde und die Stadtkassen leerer, kam es in Innsbruck zu einer Innovation, die für über 100 Jahre Bestand haben sollte: Die Neujahrs-Entschuldigungskarte. Auch damals war es Brauch, am ersten Tag des Jahres seine Verwandten zu besuchen, um sich gegenseitig ein Gutes Neues Jahr zu wünschen. Ebenfalls war es Brauch, dass notleidende Familien und Bettler an die Türen der wohlhabenden Bürger klopften, um zu Neujahr um Almosen zu bitten. Mit der Einführung der Neujahrs-Entschuldigungskarte schlug man gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe. Die Käufer der Karte konnten institutionalisiert und in geregelten Bahnen ihre ärmeren Mitglieder, ähnlich wie es heutzutage mit dem Kauf der Straßenzeitung Zwanziger möglich ist, unterstützen. Gleichzeitig diente die Neujahrs-Entschuldigungskarte dazu, sich durch ihren Versand vor den wenig geliebten Pflichtbesuchen bei der Verwandtschaft zu drücken. Wer die Karte an seine Haustüre hängte, signalisierte den Bedürftigen auch, dass weiteres Fragen um Almosen nicht von Nöten sei, da man seinen Beitrag bereits abgedungen hatte. Zu guter Letzt wurden die edlen Spender auch noch in den Medien wohlwollend erwähnt, damit jeder sehen konnte, wie sehr sie sich im Namen der Nächstenliebe um ihre weniger begüterten Mitmenschen kümmern.

Die Neujahrs-Entschuldigungskarten waren ein voller Erfolg. Bei ihrer Premiere zum Jahreswechsel von 1819 auf 1820 wurden bereits 600 Stück verkauft. Viele Gemeinden übernahmen das Innsbrucker Rezept. In der Zeitschrift „Der Kaiserlich-königlich priviligierte Bothe von und für Tirol und Vorarlberg“ wurden am 12. Februar die Erlöse für Bruneck, Bozen, Trient, Rovereto, Schwaz, Imst, Bregenz und Innsbruck veröffentlicht. Auch sonstige Institutionen wie Feuerwehren und Vereine übernahmen die gut funktionierende Sitte, um Spenden für ihr Anliegen zu schaffen. Der Bau der Neuen Höttinger Pfarrkirche wurde neben Spenden zu einem guten Teil aus den Erlösen eigens aufgelegter Entschuldigungskarten finanziert. Die mannigfaltige Gestaltung reichte von christlichen Motiven über Portraits bekannter Persönlichkeiten, Amtsgebäude, Neubauten, Sehenswürdigkeiten und Kuriositäten. Im Stadtarchiv Innsbruck können viele der Designs noch ausgehoben werden.

Sehenswürdigkeiten dazu…