Schlachthofblock
Erzherzog-Eugen-Straße 25 – 38
Wissenswert
Zwischen Pradl, Saggen und Dreiheiligen steht ein Denkmal des Stadtbaus und der Zwischenkriegszeit, das bis heute den Charme des Wiener Gemeindebaus in Innsbruck erlebbar macht. Der Schlachthofblock wurde zwar immer wieder saniert, dank seinem Status als denkmalgeschütztes Objekt blieb er aber in seinen Grundzügen erhalten. Der Innenhof samt Teppichstangen ist ebenso konsistent wie der schlechte Ruf, den die Siedlung an der Sill, wo früher der namensgebende Schlachthof situiert war, genießt. Klaus Pirchmoser schrieb 1978 folgende, nicht durch political correctness glänzende Zeilen über die Wohnanlage:
„Mutwillige Zerstörungen im Stiegenhaus und im Keller zeigen den Grad der eingeleiteten „filtering down Phase und deuten auch auf eine notwendige soziale Sanierung hin.“
Die ältesten Gebäudeteile, die mittlerweile im Zuge einer Sanierung abgerissen wurden, stammten aus den Vorkriegsjahren. 1911 wurde ein Dienstwohngebäude mit neun Wohnungen für Schlachthofangestellte errichtet, im Jahr darauf errichtete die Städtische Wohnungsfürsorge einen weiteren Block mit 16 Wohnungen. Bereits 1920 folgten erste Beschlüsse im Gemeinderat, die Anlage zu vergrößern. In Wien war in diesem Jahr der Metzleinstaler Hof, der erste Gemeindebau, an die Mieter übergeben worden, um die Wohnungsnot der Nachkriegszeit in den Griff zu bekommen. Wie in der Bundeshauptstadt waren auch in Innsbruck Tausende Menschen ohne eigenes Dach über dem Kopf. Die im Innsbrucker Gemeinderat stark vertretenen Sozialdemokraten forderten auf, dem Wiener Beispiel im sozialen zu folgen. 1921 wurde ein Projekt zur Errichtung von 18 Wohnhäusern vorgestellt, im Jahr darauf brachte Bürgermeister Wilhelm Greil den Dringlichkeitsantrag des gemeinderätlichen Wohnungsfürsorgekommitees im Gemeinderat ein.
Verfolgt man den Pressespiegel rund um den Bau, kommt man nicht umher an die politischen Diskussionen über Großprojekte im Hier und Heute über 100 Jahre später zu denken. Wie sollte die Investition zwischen Stadt, Land und Bund aufgeteilt werden? Unter den Währungsproblemen in der jungen Republik Deutschösterreich stiegen die prognostizierten Baukosten innerhalb eines Jahres von 50 Millionen Kronen auf 1.5 Milliarden Kronen. Die Kosten wurden von den einzelnen Fraktionen auch in der Argumentation für ihre jeweiligen politischen Zwecke und Agenden genutzt. Der Zinssatz für das Darlehen, das die Stadt aufnehmen musste, wurde von einem Stadtrat auf 14% geschätzt, allein die Zinsen würden die Mieteinnahmen der Folgejahre auffressen. Ein anderer Stadtrat warnte vor dem eventuellen Verkauf städtischer Objekte an Ausländer und bezeichnete die Hemmungen des Mieterschutzgesetzes als die Ursache er Stagnation der privaten Bautätigkeit, die durch den gemeinnützigen Ansatz der neuen Wohnanlage noch stärker unter Druck käme. Der Vorschlag zur Gründung einer Bauaktiengesellschaft wurde ebenso eingebracht, wie einer Zollfreiheit bei der Einfuhr des teuren Zements aus dem Ausland, um Baukosten zu sparen. Auch die Verfechter einer Reform der bestehenden Strukturen der städtischen Wohnpolitik anstelle von Neubauten fanden Gehör. Das städtische Wohnungsamt sollte die Nutzung großer Einheiten durch Einzelpersonen einschränken, anstatt Steuergelder für neue Projekte zu verwenden.
Der Bau an der Wohnanlage am Schlachthof, die erst in den folgenden Jahrzehnten den Spitznamen Schlachthofblock bekam, begann 1922. Theodor Prachensky übernahm die Planung im Auftrag der Vaterländischen Baugesellschaft. Drei Jahre später konnten die 19 fünfgeschossigen Gebäude übergeben werden. Prachensky hielt sich an die sozialdemokratische architektonische Vorstellung modernen städtischen Wohnbaus, die sich in vielen europäischen Städten zu etablieren begann. Wie Gotik, Barock und Neoklassizismus in der Vergangenheit war auch die Gestaltung des Gemeindewohnbaus stilistisch internationalen Trends unterworfen. Neben 183 Einheiten mit 55 qm Wohnfläche entstanden 4 Geschäftslokale und ein Kindergarten. Der Block gruppierte sich um einen großzügigen, begrünten Innenhof mit Spielgeräten für Kinder. Prachensky gestaltete die Fassaden zwar glatt und ohne den Pomp des Historismus, ganz auf Schmuck verzichtete er noch nicht. Die mit Blumen reich gefüllte antike Amphore symbolisiert Wohlstand, Fruchtbarkeit und Freude, ein starkes Zeichen für den Aufbruch nach den Krisenjahren. Das Relief sollte den neugewonnen Stolz der Arbeiterklasse widerspiegeln. Die gegenüberliegende Wohnhausanlage in der Erzherzog-Eugen-Straße 42 – 44, die Fritz Grüll für die Wiener Baugenossenschaft 1929 plante, kommt im Gegensatz dazu bereits komplett ohne Ornamente aus und orientierte sich mit den runden Balkonen am Bauhausstil. Auch der Pembaurblock Prachenskys, der nur kurze Zeit später gebaut wurde, unterscheidet sich markant vom ersten Gemeindebau Innsbrucks.
Presseartikel zum Schlachthofblock
Innsbrucker Nachrichten / 11. Februar 1921
…Nun legte der Referent ein großzügiges Projekt zur Erbauung von 18 Wohnhäusern beim städtischen Schlachthof vor. Anschließend an den städtischen Schlachthof ist die Erbauung eines Häuserblockes geplant, der in Form von einfachen Wohnhäusern Raum für 183 neue Wohnungen schaffen soll. Es sind 4 Wohnungen mit 1 Zimmer u. Wohnküche, 148 Wohnungen mit 2 Zimmern und Wohnküche und 36 Wohnungen mit 3 Zimmern und Wohnküche vorgesehen, so daß sich zusammen 581 Wohnräume ergeben würden. Die detaillierten Pläne, die dem Gemeinderat vorlagen, lassen die zweckmäßige und praktische Ausnützung der ganzen Anlage erkennen. Die Gesamtbaukosten für.den ganzen Block von 18 Wohnungsfürsorgehäusern betragen 49,810.000 K, also nahezu 50 Millionen Kronen. Für den verlorenen Bauaufwand soll zu je einem Drittel Stadt, Land, und Staat auskommen. Wenn die Verhandlungen mit der Landes- und Staatsregierung sofort ausgenommen werden, so kann noch in diesem Jahr mit dem Bau von10 Häusern begonnen werden. Der Gemeinderat stimmte in Würdigung der hohen Bedeutung rascher und energischer Verwirklichung dem geplanten Bau zu.
Innsbrucker Nachrichten / 22.April 1922
…Nach der Eröffnung brachte der Vorsitzende Bürgermeister Greil einen Dringlichkeitsantrag zur Kenntnis des Gemeinderates, den die Mitglieder des gemeinderätlichen Wohnungsfürsorgekommitees eingebracht haben, um den Ausbau des Wohnhäuserblocks beim städtischen Schlachthof, der der insgesamt 163 Wohnungen ergeben wurde, zu betreiben. Der schon 1920 beschlossene Bau der Wohnhäuser beim Schlachthof ist bisher nicht weitergekommen, aber macht die vorgeschrittene Jahreszeit ebenso wie die steigende Wohnungsnot den sofortigen Beginn des Ausbaues zur unbedingten Notwendigkeit. Der Antrag fordert die ungesäumte Vorlage der längst fertigen Baupläne, Ausschreibung der Bauarbeiten, Finanzierung des Ausbaues, bezw. Verkauf entbehrlicher Objekte zugunsten dieses Projektes und unverzüglichen Beginn des Baues.
Allgemeiner Tiroler Anzeiger / 3. Februar 1937
Jugendliche Einbrecherbande
Die Innsbrucker Kriminalpolizei hat wie berichtet, zwei Burschen im Alter von 15 und 16 Jahren verhaftet, die im Schlachthofblock wohnten und seit länger als einem halben Jahr von dort aus ihre Raubzüge unternahmen. Sie bildeten einen wahren Schrecken für die Geschäftsleute der ganzen Gegend und hatten dabei noch die Frechheit, sich anderen Burschen gegenüber ihrer Verbrechen zu rühmen. Bisher konnten ihnen folgende Einbrüche nachgewiesen werden: Filiale der Therese Mölk, Viaduktbogen 5 größere Mengen Lebensmittel, Sardinen, Salami usw.); Lebensmittelhandlung Ischia u. Co., Erzherzog-Eugen-Stratze (Wermutwein und größere Mengen Sardinen): Trafik Plattner, Erzherzog-Eugen-Straße (Zigaretten. Schokolade und Geld); Magazin’des Stadtbauamtes im Viadukt bogen (mehrere Säcke Steinkohlen): Metzgermeister Tschon, Schlachthofblock (Wurstwaren): Gemischtwarenhandlung Rufinatscher im Schlachthofblock (größere Menge Lebensmittel); zwei Magazinseinbrüche bei der Firma Mölk (einige Lebensmittel, sie konnten nicht mehr mitnehmen, weil sie beide Male verscheucht wurden); Auslageneinbruch am Hindenburgplatz (mehrere Flaschen Liköre, Zuckerwaren und Schokolade); Auslageneinbruch bei „Frifa“, Wilhelm- Greil-Straße (mehrere Handtaschen, Brieftaschen und Geldtaschen): Auslageneinbruch in der Maria-Theresien[1]Straße bei der Firma Dannhauser (Hemden, Pullover, Krawatten usw.); Auslageneinbruch im Spielwarengeschäft Hammerle, Maria-Theresien-Straße (Spielwaren): Auslageneinbruch in der Trafik Sailer in der Pfarrgaffe (hier wurden sie verscheucht); ferner Gelegenheitsdiebstähle in den Gemischtwarenhandlungen Stauder und Sterzinger in der Pradler Straße (Lebensmittel), Gemischtwarenhandlung Mayer in der Weyerburggasse (Zigaretten), Kohlenhandlung Kritzinger in der Defreggerstraße (Kohlen). Ein Teil der entwendeten Gegenstände wurde von der Polizei sichergestellt, die Lebensmittel, Rauchwaren und Kohlen haben die Buben verraucht oder verkauft.
Theodor Prachensky: Beamter zwischen Kaiser und Republik
Ab der zweiten Hälfte der 1920er Jahre wurden große Wohnbauprojekte umgesetzt, um die größte Not der vielen Innsbrucker, die in Baracken oder bei Verwandten auf engstem Raum wohnten, zu lindern. Ganze Stadtviertel entstanden neu mit Kindergärten und Schulen. Sport- und Freizeitstätten wie das Tivoli oder das Städtische Hallenbad entstanden. Einer der Baumeister, der Innsbruck in dieser Zeit nachhaltig veränderte war Theodor Prachensky (1888 – 1970).
Als Mitarbeiter des Bauamtes Innsbruck zwischen 1913 und 1953 war er für Wohnbau- und Infrastrukturprojekte verantwortlich. Die von ihm umgesetzten Projekte sind nicht so spektakulär wie die Bergstationen seines Schwagers Baumann. Prachenskys Bauten, die die Zeit überdauerten, wirken vielfach nüchtern und rein funktionell. Sieht man sich aber seine Zeichnungen im Archiv für Baukunst der Universität Innsbruck an, erkennt man, dass Prachensky mehr Künstler als Techniker war, wie auch seine Malereien beweisen. Viele seiner spektakulären Entwürfe wie das Sozialdemokratische Volkshaus in der Salurnerstraße, sein Kaiserschützendenkmal oder die Friedens- und Heldenkirche wurden nicht umgesetzt. Innsbruck beherbergt mit den großen Wohnanlagen der 1920er und 30er Jahre, der Krieger-Gedächtniskapelle am Pradler Friedhof und dem alten Arbeitsamt (Anm.: heute eine Außenstelle Universität Innsbruck hinter dem aktuellen AMS-Gebäude in Wilten) viele Gebäude Prachenskys, die die Zeitgeschichte der Zwischenkriegszeit und die wechselhaften politischen und staatlichen Einflüsse, unter denen er selbst als Person stand, dokumentieren.
Seine Biografie liest sich wie ein Abriss der österreichischen Geschichte des frühen 20. Jahrhunderts. Prachensky war als Architekt und Beamter unter fünf unterschiedlichen Staatsmodellen tätig. Der K.u.K. Monarchie folgte die Erste Republik, die vom autoritären Ständestaat abgelöst wurde. 1938 kam es zum Anschluss an Nazideutschland. 1945 wurde mit Kriegsende die Zweite Republik ausgerufen.
1908 schloss Prachensky die baugewerbliche Abteilung der Gewerbeschule Innsbruck, heute die HTL, ab. Von 1909 arbeitete er teilweise gemeinsam mit Franz Baumann, dessen Schwester Maria er 1913 heiraten sollte, beim renommierten Architekturbüro Musch & Lun in Meran, damals ebenfalls noch Teil der K.u.K. Monarchie. Privat war das Jahr 1913 für ihn wegweisend: Theodor und Maria heirateten, starteten das private Bauprojekt des Eigenheims Haus Prachensky am Berg Isel Weg 20 und der frischgebackene Familienvater trat seinen Dienst beim Stadtmagistrat Innsbruck unter Oberbaurat Jakob Albert an. Anstatt sich nach dem Krieg in der schwierigen wirtschaftlichen Lage in der Privatwirtschaft durchschlagen zu müssen, stand Prachensky im öffentlichen Dienst. Die wichtigen, vom sozialdemokratischen Gedanken beeinflussten Projekte konnten erst nach den ersten und schwierigsten, von der Inflation und der Versorgungsknappheit charakterisierten Nachkriegsjahren begonnen werden. Den Anfang machte der Schlachthausblock im Saggen zwischen 1922 und 1925. Es folgten mehrere Infrastrukturprojekte wie der Mandelsbergerblock, der Pembaurblock und der Kindergarten und die Hauptschule in der Pembaurstraße, die vor allem für die sozial Schwächeren und die vom Krieg und der Nachkriegszeit betroffenen Arbeiterschicht gedacht waren. Auch das 1931 entworfene Arbeitsamt war eine wichtige Neuerung im Sozialwesen. Seit der Republikgründung 1918 half das Arbeitsamt bei der Vermittlung von Arbeitssuchenden und Arbeitgebern und der Eindämmung der Arbeitslosigkeit.
In den Jahren der Wirtschaftskrise in den 1930ern nahm seine Bedeutung nochmal zu. Eine weitere Zäsur in Prachenskys Werdegang stellten die nächsten Wechsel der Regierungsform Österreichs dar. Trotz dem Rechtsruck unter Dollfuß samt Verbot der Sozialdemokratischen Partei 1933 und dem Anschluss von 1938 konnte er als leitender Beamter im öffentlichen Dienst bleiben. Prachensky setzte gemeinsam mit Jakob Albert ab 1939 die als Südtiroler Siedlungen bekannt gewordenen Wohnblöcke unter den Nationalsozialisten um. Er selbst war, anders als mehrere Mitglieder seiner Familie, niemals Mitglied oder Unterstützer der NSDAP.
Großen Einfluss auf sein Wirken als Architekt und Stadtplaner gemäß der internationalen sozialdemokratisch orientierten Architektur hatte wohl sein Vater Josef Prachensky, der als einer der Gründer der Sozialdemokratie in Tirol in die Landesgeschichte einging.
Neben der politischen Gesinnung des Vaters hatten auch die verschwundene Habsburgermonarchie und die Eindrücke des Militärdienstes im Ersten Weltkrieg Einfluss auf Prachensky. Obwohl er laut Eigenaussage Kriegsgegner war, meldete er sich 1915 als Einjährig-Freiwilliger bei den Tiroler Kaiserjägern zum Kriegsdienst. Vielleicht waren es die Erwartungen, die während des Krieges an ihn als Beamten herangetragen wurden, vielleicht die allgemeine Begeisterung, die ihn zu diesem Schritt bewogen, die Aussagen und die Tat sind widersprüchlich. Die Kriegergedächtnis-Kapelle am Pradler Friedhof und das gemeinsam mit Clemens Holzmeister entworfene Kaiserschützenkapelle am Tummelplatz sowie seine nicht umgesetzten Entwürfe für ein Kaiserjäger Denkmal und die Friedens- und Heldenkirche Innsbruck, sind wohl Produkte der Lebenserfahrung Prachenskys.
Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb er acht weitere Jahre als Oberbaurat der Stadt Innsbruck tätig. Neben seiner Tätigkeit als Bauplaner und Architekt war Prachensky begeisterter Maler. Er starb mit 82 Jahren in Innsbruck. Seine Söhne, Enkel und Urenkel führten sein kreatives Erbe als Architekten, Designer, Fotografen und Maler in verschiedenen Disziplinen fort. 2017 wurden Teile des generationenübergreifenden Werks der Künstlerfamilie Prachensky in der ehemaligen Bierbrauerei Adambräu mit einer Ausstellung gezeigt.
Eine Republik entsteht
Kaum eine Epoche ist schwerer zu fassen als die Zwischenkriegszeit. Die Roaring Twenties, Jazz und Automobile kommen einem ebenso in den Sinn wie Inflation und Wirtschaftskrise. In Großstädten wie Berlin gebärdeten sich junge Damen als Flappers mit Bubikopf, Zigarette und kurzen Röcken zu den neuen Klängen lasziv, Innsbrucks Bevölkerung gehörte als Teil der jungen Republik Österreich zum größten Teil zur Fraktion Armut, Wirtschaftskrise und politischer Polarisierung.
Die Republik Deutschösterreich war zwar ausgerufen, wie es in Österreich weitergehen sollte, war unklar. Das neue Österreich erschien zu klein und nicht lebensfähig. Monarchie und Adel wurden verboten. Der Beamtenstaat des k.u.k. Reiches setzte sich nahtlos unter neuer Fahne und Namen durch. Die Bundesländer als Nachfolger der alten Kronländer erhielten in der Verfassung im Rahmen des Föderalismus viel Spielraum in Gesetzgebung und Verwaltung. Die Begeisterung für den neuen Staat hielt sich aber in der Bevölkerung in Grenzen. Nicht nur, dass die Versorgungslage nach dem Wegfall des allergrößten Teils des ehemaligen Riesenreiches der Habsburger miserabel war, die Menschen misstrauten dem Grundgedanken der Republik. Die Monarchie war nicht perfekt gewesen, mit dem Gedanken von Demokratie konnten aber nur die allerwenigsten etwas anfangen. Anstatt Untertan des Kaisers war man nun zwar Bürger, allerdings nur Bürger eines Zwergstaates mit überdimensionierter und in den Bundesländern wenig geliebter Hauptstadt anstatt eines großen Reiches. In den ehemaligen Kronländern, die zum großen Teil christlich-sozial regiert wurden, sprach man gerne vom Wiener Wasserkopf, der sich mit den Erträgen der fleißigen Landbevölkerung durchfüttern ließ.
Auch andere Bundesländer spielten mit dem Gedanken, sich von der Republik abzukoppeln, nachdem der von allen Parteien unterstützte Plan sich Deutschland anzuschließen von den Siegermächten des Ersten Weltkriegs untersagt worden war. Die Tiroler Pläne allerdings waren besonders spektakulär. Von einem neutralen Alpenstaat mit anderen Bundesländern, einem Freistaat bestehend aus Tirol und Bayern oder von Kufstein bis Salurn, einem Anschluss an die Schweiz bis hin zu einem katholischen Kirchenstaat unter päpstlicher Führung gab es viele Überlegungen. Besonders populär war die naheliegendste Lösung. In Tirol war es nicht neu, sich als Deutscher zu fühlen. Warum sich also nicht auch politisch an den großen Bruder im Norden anhängen? Besonders unter städtischen Eliten und Studenten war dieser Wunsch sehr ausgeprägt. Der Anschluss an Deutschland erhielt in Tirol bei einer Abstimmung in Tirol einen Zuspruch von 98%, kam aber nie zustande.
Anstatt ein Teil Deutschlands zu werden, unterstand man den ungeliebten Wallschen. Knapp zwei Jahre lang besetzten italienische Truppen nach Kriegsende Innsbruck. Bei den Friedensverhandlungen in Paris war wurde der Brenner zur neuen Grenze erklärt. Das historische Tirol war zweigeteilt. Am Brenner stand Militär, um eine Grenze zu sichern, die es vorher nie gab und als unnatürlich und ungerecht empfunden wurde. 1924 beschloss der Innsbrucker Gemeinderat, Plätze und Straßen rund um den Hauptbahnhof nach Südtiroler Städten zu benennen. Der Bozner Platz sowie die Brixner- und die Salurnerstraße tragen ihre Namen bis heute. Viele Menschen zu beiden Seiten des Brenners fühlten sich verraten. Man hatte den Krieg zwar bei Weitem nicht gewonnen, als Verlierer gegenüber Italien sah man sich aber nicht. Der Hass auf Italiener erreichte in der Zwischenkriegszeit seinen Höhepunkt, auch wenn die Besatzungstruppen sich betont milde gab. Eine Passage aus dem Erzählband „Die Front über den Gipfeln“ des nationalsozialistischen Autors Karl Springenschmid aus den 1930ern spiegelt die allgemeine Stimmung wider:
„`Walsch (Anm.:Italienisch) werden, das wär das Ärgste!` sagt die Junge.
Da nickt der alte Tappeiner bloß und schimpft: `Weiß wohl selber und wir wissen es alle: Walsch werden, das wär das Ärgste.“
Ungemach drohte auch in der Innenpolitik. Die Revolution in Russland und der darauffolgende Bürgerkrieg mit Millionen von Todesopfern, Enteignung und kompletter Systemumkehr warf ihren langen Schatten bis nach Österreich. Die Aussicht auf sowjetische Zustände machte den Menschen Angst. Österreich war tief gespalten. Hauptstadt und Bundesländer, Stadt und Land, Bürger, Arbeiter und Bauern – im Vakuum der ersten Nachkriegsjahre wollte jede Gruppe die Zukunft nach ihren Vorstellungen gestalten. Die Kluft bestand nicht nur auf politischer Ebene. Moral, Familie, Freizeitgestaltung, Erziehung, Glaube, Rechtsverständnis – jeder Lebensbereich war betroffen. Wer sollte regieren? Wie sollten Vermögen, Rechte und Pflichten verteilt werden. Ein kommunistischer Umsturz war besonders in Tirol keine reale Gefahr, ließ sich aber medial gut als Bedrohung instrumentalisieren, um die Sozialdemokratie in Verruf zu bringen. 1919 hatte sich in Innsbruck zwar ein Arbeiter-, Bauer- und Soldatenrat nach sowjetischem Vorbild ausgerufen, sein Einfluss blieb aber gering und wurde von keiner Partei unterstützt. Die ab 1920 offiziell gebildeten Soldatenräte waren christlich-sozial dominiert. Das bäuerliche und bürgerliche Lager rechts der Mitte militarisierte sich in Folge mit der Tiroler Heimatwehr professioneller und in größerer Zahl als linke Gruppen. Die Sozialdemokratie wurde von den Kirchkanzeln herab und in konservativen Medien trotzdem als Judenpartei und heimatlose Vaterlandsverräter bezeichnet. Allzu gerne gab man ihnen die Schuld am verlorenen Krieg und den Folgen gab. Der Tiroler Anzeiger brachte die Volksängste auf den Punkt: “Wehe dem christlichen Volke, wenn bei den Wahlen die Juden=Sozi siegen!“.
Während in den ländlichen Bezirken die Tiroler Volkspartei als Zusammenschluss aus Bauernbund, Volksverein und Katholischer Arbeiterschaft dominierte, konnte die Sozialdemokratie unter der Führung von Martin Rapoldi trotz des starken Gegenwindes in Innsbruck bei den ersten Wahlen 1919 stets zwischen 30 und 50% der Stimmen erringen. Dass es mit dem Bürgermeistersessel für die Genossen nicht klappte, lag an den Mehrheiten im Gemeinderat durch Bündnisse der anderen Parteien. Liberale und Tiroler Volkspartei stand der Sozialdemokratie gegenüber mindestens so ablehnend gegenüber wie der Bundeshauptstadt Wien und den italienischen Besatzern.
Die hohe Politik war aber nur der Rahmen des eigentlichen Elends. Die als Spanische Grippe in die Geschichte eingegangene Epidemie forderte in den Jahren nach dem Krieg auch in Innsbruck ihren Tribut. Genaue Zahlen wurden nicht erfasst, weltweit schätzt man die Zahl der Todesopfer auf 27 – 50 Millionen. Viele Innsbrucker waren von den Schlachtfeldern nicht nach Hause zurückgekehrt und fehlten als Väter, Ehemänner und Arbeitskräfte. Viele von denen, die es zurückgeschafft hatten, waren verwundet und von den Kriegsgräueln gezeichnet. Noch im Februar 1920 veranstaltete der „Tiroler Ausschuss der Sibirier“ im Gasthof Breinößl „…zu Gunsten des Fondes zur Heimbeförderung unserer Kriegsgefangenen…“ einen Benefizabend. Noch lange nach dem Krieg bedurfte das Land Tirol Hilfe von auswärts, um die Bevölkerung zu ernähren. Unter der Überschrift „Erhebliche Ausdehnung der amerikanischen Kinderhilfsaktion in Tirol“ stand am 9. April 1921 in den Innsbrucker Nachrichten zu lesen: „Den Bedürfnissen des Landes Tirol Rechnung tragend, haben die amerikanischen Vertreter für Oesterreich in hochherzigster Weise die tägliche Mahlzeitenanzahl auf 18.000 Portionen erhöht.“
Dazu kam die Arbeitslosigkeit. Vor allem Beamte und Mitarbeiter im öffentlichen Dienst, hatten ihre Arbeit verloren, nachdem der Völkerbund seine Anleihe an herbe Sparmaßnahmen geknüpft hatte. Der Tourismus als Wirtschaftsfaktor war ob der Probleme in den umliegenden, vom Krieg ebenfalls gebeutelten Ländern inexistent. Viele Menschen verloren ihre Bleibe. 1922 waren in Innsbruck 3000 Familien auf Wohnungssuche trotz eines städtischen Notwohnungsprogrammes, das bereits mehrere Jahre in Kraft war. In alle verfügbaren Objekte wurden Wohnungen gebaut. Am 11. Februar 1921 fand sich in einer langen Liste in den Innsbrucker Nachrichten über die einzelnen Projekte, die betrieben wurden unter anderem dieser Posten:
„Das städtische Krankenhaus hat die Seuchenbaracke in Pradl aufgelassen und der Stadtgemeinde zur Herstellung von Notwohnungen zur Verfügung gestellt. Zur Errichtung von 7 Notwohnungen wurde der erforderliche Kredit von 295 K (Anm.: Kronen) bewilligt.“
In den ersten Jahren passierte nur sehr wenig. Erst mit der Währungssanierung und der Einführung des Schillings 1925 als neuer Währung unter Kanzler Ignaz Seipel begann Innsbruck sich langsam zu erholen und konnte die Modernisierung der Stadt einleiten. Große Projekte wie das Tivoli, das Städtische Hallenbad, die Höhenstraße auf die Hungerburg, die Bergbahnen auf den Berg Isel und die Nordkette, neue Schulen und Wohnblöcke konnten erst nach der Überwindung der ersten Nachkriegsprobleme entstehen. Die Handschrift der neuen, großen Massenparteien in der Gestaltung dieser Projekte ist dabei nicht zu übersehen.
Die erste Republik war eine schwere Geburt aus den Überbleibseln der einstigen Monarchie und sie sollte nicht lange halten. Trotz der Nachkriegsprobleme passierte in der Ersten Republik aber auch viel Positives. Aus Untertanen wurden Bürger. Was in der Zeit Maria Theresias begann, wurde nun unter neuen Vorzeichen weitergeführt. Der Wechsel vom Untertanen zum Bürger zeichnete sich nicht nur durch ein neues Wahlrecht, sondern vor allem durch die verstärkte Obsorge des Staates aus. Staatliche Regelungen, Schulen, Kindergärten, Arbeitsämter, Krankenhäuser und städtische Wohnanlagen traten an die Stelle des Wohlwollens des Grundherren, Landesfürsten, wohlhabender Bürger, der Monarchie und der Kirche.
Bis heute basiert vieles im österreichischen Staatswesen sowie im Innsbrucker Stadtbild und der Infrastruktur auf dem, was nach dem Zusammenbruch der Monarchie entstanden war. In Innsbruck gibt es keine bewussten Erinnerungsorte an die Entstehung der Ersten Republik in Österreich. Die denkmalgeschützten Wohnanlagen wie der Schlachthofblock, der Pembaurblock oder der Mandelsbergerblock oder die Pembaurschule sind Stein gewordene Zeitzeugen.
Die Rapoldis: Kommunalpolitik und Widerstand
Das Ehepaar Martin (1880 – 1926) und Maria Rapoldi (1884 – 1975) zählten vom Ende der Monarchie bis in die Nachkriegszeit zu den beeindruckendsten Persönlichkeiten der Innsbrucker Stadtpolitik. Martin Rapoldi war über Kärnten, Wien und Böhmen nach Innsbruck gekommen. Während seiner Tischlerlehre kam er erstmals mit sozialkritischen Ideen in Berührung. Gemeinsam mit anderen Lehrlingen gründete er in Klagenfurt mit jugendlichem Eifer eine Art anarchistischer Gewerkschaft. In der Hauptstadt der Donaumonarchie und in Zatek in der heutigen Tschechei, engagierte er sich in Gewerkschaft und der kurz zuvor offiziell gegründeten Sozialdemokratischen Partei. 1904 übersiedelte er nach Innsbruck, wo der Mitzwanziger bald als ambitionierter Organisator und mitreißender Redner auffiel. Im Jahr darauf heiratete er seine Frau Maria, die ebenfalls politisch aktiv war. Dank seiner sprachlichen Begabung übernahm er in den folgenden Jahren die Volkszeitung, das Pressorgan der Tiroler Sozialdemokratie. Trotz anfänglicher Euphorie für den Kriegseintritt auch auf Seiten der Sozialdemokratie setzte sich der als antiklerikaler Pfaffenfresser bekannte Rapoldi bald für den Frieden und die Einführung des allgemeinen Wahlrechts auch auf Kommunalebene ein. Ganz auf Parteilinie war er nach 1918 Anhänger eines Zusammenschlusses mit dem Deutschen Reich.
In den frühen Jahren der Ersten Republik legte er eine kurze, aber steile Karriere hin. Er wurde zum Landtagsabgeordneten in Tirol und Mitglied des ersten Nationalrates in Wien erkoren. In Innsbruck schaffte er es die Sozialdemokraten zur stärksten Partei im Gemeinderat zu machen. Auf Grund der antisozialistischen Haltung der anderen Fraktionen im Gemeinderat konnte er aber den Bürgermeisterposten nie besetzen. Ein besonderes Anliegen waren ihm der Wohnungsbau und die städtische Energieversorgung. Während Rapoldis Zeit im Gemeinderat entstanden in Dreiheiligen und Pradl die Großprojekte Schlachthofblock, Pembaurblock sowie der Schule und Kindergarten in der heutigen Pembaurstraße. Er war maßgeblich am Aufbau der Innsbrucker Lichtwerke, den heutigen Innsbrucker Kommunalbetrieben, beteiligt. Mit Kriegsende begannen die Verhandlungen zwischen der Stadt Innsbruck und dem Kloster St. Georgenberg über den Kauf des Achensees für den Bau eines Kraftwerks. Sowohl bei der Errichtung der Achenseebahn, des Achenseekraftwerkes und der Gründung der Tiroler Wasserkraft TIWAG war Martin Rapoldi die treibende Kraft. 1926 verstarb der umtriebige Rote Tischlergeselle mit nur 46 Jahren an den Folgen einer Nierenentzündung.
Nicht weniger eindrucksvoll ist die Vita seiner Frau Maria. Im elterlichen Haushalt in Wörgl kam sie früh mit sozialdemokratischen Ideen in Kontakt. Die gelernte Buchhalterin übersiedelte nach Innsbruck. Wahrscheinlich bei ihrer Arbeit für die Krankenkasse lernte sie ihren zukünftigen Ehemann kennen. Trotz ihrer beiden kleinen Töchter engagierte sich Maria bereits 1912 auf der Landesfrauenkonferenz der Sozialdemokratinnen. Nach dem Tod ihres Mannes blieb sie weiterhin in der Sozialdemokratie aktiv. Als Mitarbeiterin der Volkszeitung kam sie in den Jahren des Austrofaschismus immer wieder ins Visier der Vaterländischen Front. Nachdem die Volkszeitung im Rahmen der Zensur durch das Regime verboten wurde, musste sie sich als erwerbslose Witwe durchschlagen. Sie eröffnete ein Stempelgeschäft in der Altstadt. Gleichzeitig war sie im Untergrund an der Roten Hilfe, der Unterstützung von Familien inhaftierter Mitglieder des Republikanischen Schutzbundes. Während der Zeit des Nationalsozialismus wurde sie für kurze Zeit inhaftiert. Nach dem Krieg trat sie auch in offizieller Funktion aus dem Schatten ihres jung verstorbenen Gatten Martin. Von 1946 – 1959 war sie Mitglied des Innsbrucker Gemeinderats. Sie setzte sich für soziale Agenden wie Altersheime, Kinderheime, die Verbesserung der Lebensmittel- und Krankenversorgung in der Nachkriegszeit ein. Als Mitglied des Tiroler Hilfswerks, des Stadtschulrats des Kuratoriums des Waisenheimes Sieberer und des Verwaltungsausschusses des Innsbrucker Realgymnasiums für Mädchen
Martin und Maria Rapoldi sind in einem Ehrengrab am Innsbrucker Westfriedhof. Der 1927 eröffnete Park in Pradl trägt ebenfalls den Namen der beiden erinnerungswürdigen Stadtpolitiker. In Kranebitten errichtete die Sozialdemokratische Partei nach Martins frühem Tod ein Denkmal für ihn, das 1934 von Mitgliedern der Heimatwehr zerstört wurde.
Lebensreform und Sozialdemokratie
„Licht Luft und Sonne“ war das Motto der Lebensreform, einer Sammelbewegung alternativer Lebensmodelle, die im späten 19. Jahrhundert in Deutschland im Gleichschritt mit der Entwicklung der Sozialdemokratie ihren Anfang nahm. Beide Strömungen waren Reaktionen auf die Lebensbedingungen in den rasant wachsenden Städten. Die Urbanisierung wurde zunehmend als Belastung empfunden. Der Verkehr auf den Straßen, die Abgase der Fabriken, die beengten Wohnverhältnisse in den Mietkasernen und die bis dahin unbekannte Hast, die neue Krankheitsbilder wie Neurasthenie salonfähig machte, riefen Gegenbewegungen hervor. Innsbruck war zwar nicht mit Paris oder London vergleichbar was Stadtgröße und Intensität der Industrialisierung betrifft, die Fallhöhe für viele Bewohner der ehemals ländlichen Viertel war aber enorm. Die infrastrukturellen Probleme waren ebenfalls ähnlich.
Seit 1869 erschien die Deutsche Vierteljahrschrift für öffentliche Gesundheigspflege, die sich mit der Verbesserung von Ernährung, Hygiene und Wohnraum auseinandersetzte. 1881 wurde die Österreichische Gesellschaft für Gesundheitspflege gegründet. Private Vereine veranstalteten Aufklärungsveranstaltungen zum sauberen und gesunden Leben. Man betrieb politisches Lobbying zur Errichtung von Parks im öffentlichen Raum und der Verbesserung der Infrastruktur wie Bädern, Krankenhäusern, Kanalisation und Wasserleitungen. Assanation und Sozialhygiene waren Schlagwörter einer bürgerlichen Elite, die um ihre Mitmenschen und die Volksgesundheit besorgt war. Wie alle elitären Bewegungen nahm auch die Lebensreform teils absurde Blüten an, zumindest aus damaliger Sicht. Bewegungen wie der Vegetarismus, FKK, Gartenstädte, verschiedene esoterische Strömungen und andere alternative Lebensformen, die sich bis heute in der einen oder anderen Form erhalten konnten, entstanden in dieser Zeit.
Der exzentrisch anmutende Lebensstil, der wohlhabenden Bürgern in ihren Villen im Saggen, Wilten und Pradl möglich war, blieb Arbeitern meist verwehrt. Viele Mietzinsburgen waren triste und überfüllte Biotope ohne Infrastruktur wie Sportanlagen oder Parks. Es waren die frühen Sozialdemokraten, die sich politisch den Lebensrealitäten der Arbeiter stellten. Moderne Wohnsiedlungen sollte funktional, komfortabel, leistbar und mit Grünflächen verbunden sein. Diese Ansichten hatten sich auch in öffentlichen Stellen durchgesetzt. Albert Gruber, Professor an der Innsbrucker Gewerbeschule, schrieb 1907:
„Ich habe zwar oft den Ausspruch gehört, wir in Innsbruck benötigen keine Anlagen, uns gibt das alles die Natur, Das ist aber nicht wahr. Was gibt es schöneres, als wenn die Berufsmenschen von der Stelle ihrer Tätigkeit in ihr Heim durch eine Reihe von Pflanzenanlagen gehen können. Es wird dadurch der Weg von und in den Beruf zu einem Erholungsspaziergang. Die Gründe, weshalb Baum- und Gartenpflanzungen im Bereiche der städtischen Bebauung vorteilhaft wirken, sind übrigens mannigfaltige. Ich will nicht auf die Wechselbeziehung zwischen Menschen und Pflanze hinweisen, die hinlänglich bekannt sein dürfte. In anderer Weise wirken die Pflanzen zur Verbesserung der Atmungsluft durch Verminderung des Staubes.“
Noch vor dem Ersten Weltkrieg kam es zu Veränderungen im politischen Alltag. Die Sozialdemokratie als politische Bewegung als politische Partei gab es seit 1889 offiziell, gestalterische Möglichkeiten hatte sie unter der Habsburgermonarchie aber nur sehr eingeschränkt. Bedeutsam war die Arbeiterbewegung vor allem als gesellschaftliches Gegengewicht zu den in Tirol alles dominierenden katholischen Strukturen. 1865 entstand in Innsbruck der erste Tiroler Arbeiterbildungsverein. Arbeiter sollten sich ihrer Stellung innerhalb der Gesellschaft bewusst werden vor der anstehenden Weltrevolution. Dafür war es unumgänglich, ein Mindestmaß an Bildung zu besitzen und Lesen und Schreiben zu beherrschen. 10 Jahre später gründete Franz Reisch den Allgemeinen Arbeiter-Verein in Innsbruck. Weitere zwei Jahre später wurde reichsweit die Allgemeine Arbeiter-, Kranken-, und Invaliden-Casse“ an den Start geschickt. Trotz staatlicher Repression kam es immer wieder zu beträchtlichen Versammlungen der Radicalen. Seit 1893 erschien in Innsbruck die sozialdemokratische Volkszeitung als Gegenstimme zu den katholischen Blättern.
1899 wurde in der heutigen Maximilianstraße die Erste Tiroler Arbeiter-Bäckerei, kurz ETAB, eröffnet. Die Genossenschaft machte es sich zum Ziel, unter guten Arbeits- und Hygienebedingungen hochwertiges Brot zu fairen Preisen herzustellen. Nach mehreren Standortwechseln landete die ETAB in der Hallerstraße, wo sie bis 1999 täglich frische Backwaren produzierte.
Die ersten freien Wahlen innerhalb der k.u.k. Monarchie zum Reichsrat für alle männlichen Bürger im Jahr 1907 veränderten nicht nur die politischen, sondern auch die sozialen Kraftverhältnisse. Der Pofel hatte nun politisches Mitspracherecht. Wichtige Gesetze wie Arbeitszeitbeschränkungen und Verbesserung in den Arbeitsbedingungen konnten nun mit mehr Nachdruck verlangt werden. Das Kronland Tirol hatte gemeinsam mit Oberösterreich die längsten Arbeitszeiten in der gesamten Donaumonarchie. Die Gewerkschaftsmitglieder stiegen zahlenmäßig zwar auch an, außerhalb der kleinstädtischen Zentren war Tirol aber zu sehr bäuerlich geprägt, um nennenswerten Druck erzeugen zu können.
Auf Gemeindeebene blieb das Zensuswahlrecht, das großdeutsch-liberalen und konservativ-klerikalen Politikern jahrzehntelang einen Freifahrtschein an die Macht ausgestellt hatte, bis nach dem Krieg bestehen. Die Erfüllung der daraus folgenden Forderungen musste auch nach den ersten Gemeinderatswahlen nach 1918 noch warten. Die Kassen der Nachkriegszeit waren nur dürftig gefüllt. Die großen Innsbrucker Infrastruktur- und Wohnbauprojekte wie das Tivoli, das Städtische Hallenbad, der Pembaur-, der Mandelsberger- oder der Schlachthofblock wurden erst in der Ersten Republik umgesetzt.
Ein bekannter Innsbrucker Vertreter der Lebensreform und der Sozialdemokratie war Josef Prachensky (1861 – 1931), der Vater des Architekten und Stadtplaners Theodor Prachensky. Er war im deutschsprachigen Böhmen, damals Teil der K.u.K. Monarchie aufgewachsen. Als gelernter Buchdrucker hatte er auf seiner Wanderschaft in Wien während des Buchdruckerstreiks die Arbeiterbewegung für sich entdeckt. Nach seiner Hochzeit mit einer Tirolerin ließ er sich in Innsbruck nieder, wo er als Redakteur für die sozialdemokratische Volkszeitung für Tirol und Vorarlberg arbeitete. Josef Prachensky unterstützte den Arbeiter-Consum-Verein, die Tiroler Arbeiterbäckerei und gründete den Gastrobetrieb „Alkoholfrei“ in der Museumstraße, der ganz im Sinne der Lebensreformbewegung und des Sozialismus die Verbesserung der allgemeinen Gesundheit zum Ziel hatte. Bereits Friedrich Engels (1820 – 1895), der Mitverfasser des Kommunistischen Manifestes, hatte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Schnaps und Branntwein als ein Übel der Arbeiterklasse erkannt hatte. Das Ziel, Menschen vom Alkohol wegzubekommen teilte der Sozialismus wie so vieles mit kirchlichen Vereinen. Die Weltrevolution war mit Suchtkranken ebenso wenig durchführbar wie ein tugendhaftes, gottgefälliges Leben. Prachensky war an der Gründung der Sozialdemokratischen Partei Tirols 1890 und nach dem Ersten Weltkrieg an der Gründung des Tiroler Republikanischen Schutzbundes RESCH beteiligt, dem linken Gegenstück zu den rechten Heimwehrverbänden. Ein besonderes politisches Anliegen war ihm die Einschränkung der Kirche auf den Schulunterricht, der im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts auch im eigentlich liberalen Innsbruck, das sich an die nationale Schulordnung halten musste, noch sehr groß war.
Lebensreform und der wachsende Einfluss der Sozialdemokratie beeinflussten auch Kunst und Architektur. Man wollte sich von dem, was Max Weber als protestantische Ethik beschrieb, der Industrie, den Stechuhren, ganz allgemein dem rasenden technischen Fortschritt mit allen Auswirkungen auf den Menschen und das Sozialgefüge, abgrenzen. Der Mensch als Individuum, nicht seine Wirtschaftsleistung, sollte wieder im Mittelpunkt stehen. Die Kultur der alten Gesellschaft, in der Adel und Klerus über dem Rest der Gesellschaft standen, sollte überwunden werden. Der Jugendstil in seiner Verspieltheit war die künstlerische Antwort eines exzentrischen und alternativen Teils des Bürgertums auf dieses Zurück zum Ursprung der Jahrhundertwende. Im Wohnbau der Ersten Republik gewann der Architekturstil der Neuen Sachlichkeit die Oberhand.
Wilhelm Greil: DER Bürgermeister Innsbrucks
Einer der wichtigsten Akteure der Stadtgeschichte war Wilhelm Greil (1850 – 1923). Von 1896 bis 1923 bekleidete der Unternehmer das Amt des Bürgermeisters, nachdem er vorher bereits als Vizebürgermeister die Geschicke der Stadt mitgestaltet hatte. Es war die Zeit des Wachstums, der Eingemeindung ganzer Stadtviertel, technischer Innovationen und neuer Medien. Die vier Jahrzehnte zwischen der Wirtschaftskrise 1873 und dem Ersten Weltkrieg von einem nie dagewesenen Wirtschaftswachstum und einer rasenden Modernisierung gekennzeichnet. Die Wirtschaft der Stadt boomte. Betriebe in den neuen Stadtteilen Pradl und Wilten entstanden und lockten Arbeitskräfte an. Auch der Tourismus brachte frisches Kapital in die Stadt. Die Ansammlung an Menschen auf engstem Raum unter teils prekären Hygieneverhältnissen brachte gleichzeitig aber auch Probleme mit sich. Besonders die Randbezirke der Stadt und die umliegenden Dörfer wurden regelmäßig von Typhus heimgesucht.
Die Innsbrucker Stadtpolitik, in der Greil sich bewegte, war vom Kampf liberaler und konservativer Kräfte geprägt. Greil gehörte der "Deutschen Volkspartei" an, einer liberalen und national-großdeutschen Partei. Was heute als Widerspruch erscheint, liberal und national, war im 19. Jahrhundert ein politisch übliches und gut funktionierendes Gedankenpaar. Der Pangermanismus war keine politische Besonderheit einer rechtsradikalen Minderheit, sondern besonders in deutschsprachigen Städten des Reiches eine Strömung der Mitte, die bis nach dem Zweiten Weltkrieg durch fast alle Parteien hindurch in unterschiedlicher Ausprägung Bedeutung hatte. Innsbrucker, die auf sich hielten, bezeichneten sich nicht als Österreicher, sondern als Deutsche. Wer Ausgaben der liberalen Innsbrucker Nachrichten der Zeit rund um die Jahrhundertwende unter die Lupe nimmt, findet unzählige Artikel, in denen das Gemeinsame zwischen dem Deutschen Reich und den deutschsprachigen Ländern zum Thema des Tages gemacht wurde, während man sich von anderen Volksgruppen innerhalb des multinationalen Habsburgerreiches distanzierte. Greil war ein geschickter Politiker, der sich innerhalb der vorgegebenen Machtstrukturen seiner Zeit bewegte. Er wusste sich um die traditionellen Kräfte, die Monarchie und den Klerus geschickt zu manövrieren und sich mit ihnen zu arrangieren.
Steuern, Gesellschaftspolitik, Bildungswesen, Wohnbau und die Gestaltung des öffentlichen Raumes wurden mit Leidenschaft und Eifer diskutiert. Bedingt durch eine Wahlordnung, die auf das Stimmrecht über Vermögensklassen aufgebaut war, konnten nur etwa 10% der gesamten Innsbrucker Bevölkerung zur Wahlurne schreiten. Frauen waren prinzipiell ausgeschlossen. Dabei galt das relative Wahlrecht innerhalb der drei Wahlkörper, was so viel heißt wie: The winner takes it all. Massenparteien wie die Sozialdemokraten konnten sich bis zur Wahlrechtsreform der Ersten Republik nicht durchsetzen. Konservative hatten es in Innsbruck auf Grund der Bevölkerungszusammensetzung, besonders bis zur Eingemeindung von Wilten und Pradl, ebenfalls schwer. Bürgermeister Greil konnte auf 100% Rückhalt im Gemeinderat bauen, was die Entscheidungsfindung und Lenkung natürlich erheblich vereinfachte. Bei aller Effizienz, die Innsbrucker Bürgermeister bei oberflächlicher Betrachtung an den Tag legten, sollte man nicht vergessen, dass das nur möglich war, weil sie als Teil einer Elite aus Unternehmern, Handelstreibenden und Freiberuflern ohne nennenswerte Opposition und Rücksichtnahme auf andere Bevölkerungsgruppen wie Arbeitern, Handwerkern und Angestellten in einer Art gewählten Diktatur durchregierten. Das Reichsgemeindegesetz von 1862 verlieh Städten wie Innsbruck und damit den Bürgermeistern größere Befugnisse. Es verwundert kaum, dass die Amtskette, die Greil zu seinem 60. Geburtstag von seinen Kollegen im Gemeinderat verliehen bekam, den Ordensketten des alten Adels erstaunlich ähnelte.
Unter Greils Ägide und dem allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung erweiterte sich Innsbruck im Eiltempo. Er kaufte ganz im Stil eines Kaufmanns vorausschauend Grund an, um der Stadt Neuerungen zu ermöglichen. Der Politiker Greil konnte sich bei den großen Bauprojekten der Zeit auf die Beamten und Stadtplaner Eduard Klingler, Jakob Albert und Theodor Prachensky stützen. Auch privaten Investitionen in die Wirtschaft der Stadt stand er ausgesprochen offen gegenüber. Infrastrukturprojekte wie das neue Rathaus in der Maria-Theresienstraße 1897, die Hungerburgbahn 1906 und die Karwendelbahn wurden während seiner Regierungszeit umgesetzt. Weitere gut sichtbare Meilensteine waren die Erneuerung des Marktplatzes und der Bau der Markthalle.
Neben den prestigeträchtigen Großprojekten entstanden in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts aber viele unauffällige Revolutionen. Vieles, was in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorangetrieben wurde, gehört heute zum Alltag. Für die Menschen dieser Zeit waren diese Dinge aber eine echte Sensation und lebensverändernd. Bereits Greils Vorgänger Bürgermeister Heinrich Falk (1840 – 1917) hatte erheblich zur Modernisierung der Stadt und zur Besiedelung des Saggen beigetragen. Seit 1859 war die Beleuchtung der Stadt mit Gasrohrleitungen stetig vorangeschritten. Mit dem Wachstum der Stadt und der Modernisierung wurden die Senkgruben, die in Hinterhöfen der Häuser als Abort dienten und nach Entleerung an umliegende Landwirte als Dünger verkauft wurden, zu einer Unzumutbarkeit für immer mehr Menschen. 1880 wurde das Raggeln, so der Name im Volksmund für die Entleerung der Aborte, in den Verantwortungsbereich der Stadt übertragen. Zwei pneumatische Maschinen sollten den Vorgang zumindest etwas hygienischer gestalten. Zwischen 1887 und 1891 wurde Innsbruck mit einer modernen Hochdruckwasserleitung ausgestattet, über die auch Wohnungen in höher gelegenen Stockwerken mit frischem Wasser versorgt werden konnten. Wer auf sich hielt und es sich leisten konnte, hatte damit erstmals die Gelegenheit eine Spültoilette im Eigenheim zu installieren.
Greil setzte diesen Feldzug der Modernisierung fort. Nach jahrzehntelangen Diskussionen wurde 1903 mit dem Bau einer modernen Schwemmkanalisation begonnen. Ausgehend von der Innenstadt wurden immer mehr Stadtteile an diesen heute alltäglichen Luxus angeschlossen. 1908 waren nur die Koatlackler Mariahilf und St. Nikolaus nicht an das Kanalsystem angeschlossen. Auch der neue Schlachthof im Saggen erhöhte Hygiene und Sauberkeit in der Stadt. Schlecht kontrollierte Hofschlachtungen gehörten mit wenigen Ausnahmen der Vergangenheit an. Das Vieh kam im Zug am Sillspitz an und wurde in der modernen Anlage fachgerecht geschlachtet. Greil überführte auch das Gaswerk in Pradl und das Elektrizitätswerk in Mühlau in städtischen Besitz. Die Straßenbeleuchtung wurde im 20. Jahrhundert von den Gaslaternen auf elektrisches Licht umgestellt. 1888 übersiedelte das Krankenhaus von der Maria-Theresienstraße an seinen heutigen Standort.
Bürgermeister und Gemeinderat konnten sich bei dieser Innsbrucker Renaissance neben der wachsenden Wirtschaftskraft in der Vorkriegszeit auch auf Mäzen aus dem Bürgertum stützen. Waren technische Neuerungen und Infrastruktur Sache der Liberalen, verblieb die Fürsorge der Ärmsten weiterhin bei klerikal gesinnten Kräften, wenn auch nicht mehr bei der Kirche selbst. Freiherr Johann von Sieberer stiftete das Greisenasyl und das Waisenhaus im Saggen. Leonhard Lang stiftete das Gebäude, das vorher als Hotel genutzt wurde, in das das Rathaus von der Altstadt 1897 übersiedelte, gegen das Versprechen der Stadt ein Lehrlingsheim zu bauen.
Im Gegensatz zur boomenden Vorkriegsära war die Zeit nach 1914 vom Krisenmanagement geprägt. In seinen letzten Amtsjahren begleitete Greil Innsbruck am Übergang von der Habsburgermonarchie zur Republik durch Jahre, die vor allem durch Hunger, Elend, Mittelknappheit und Unsicherheit geprägt waren. Er war 68 Jahre alt, als italienische Truppen nach dem Ersten Weltkrieg die Stadt besetzten und Tirol am Brenner geteilt wurde, was für ihn als Vertreter des Deutschnationalismus besonders bitter war. 1919 konnte die Sozialdemokraten in Innsbruck zwar zum ersten Mal den Wahlsieg davontragen, dank der Mehrheiten im Gemeinderat blieb Greil aber Bürgermeister. 1928 verstarb er als Ehrenbürger der Stadt Innsbruck im Alter von 78 Jahren. Die Wilhelm-Greil-Straße war noch zu seinen Lebzeiten nach ihm benannt worden.