Das 19. Jahrhundert veränderte Innsbruck in vielerlei Hinsicht. Politik, Verwaltung, Gesellschaft, Macht- und Vermögensverhältnisse änderten sich zwischen der ersten Hälfte, die noch stark von den Kriegsjahren bis 1815 geprägt waren, und der zweiten Hälfte, die als bürgerliches Zeitalter in die Geschichte Europas einging. Neue Berufs- und Lebenswelten entstanden. Mit Fleiß, Geschick, Klugheit und Glück konnte man es dank dem staatlichen Schul- und Bildungswesen weiter bringen als je zuvor. Liberale Vordenker, die im System Metternichs unter dem Verdacht der Radikalität standen und deren Schriften oft genug der Zensur anheimfielen, konnten sich nach 1848 nach und nach zumindest etwas freier äußern. Die 1860er Jahre brachten einen formalen Parlamentarismus, neue Gemeindestatuten, den Ausgleich mit Ungarn innerhalb der neuen k.u.k. Monarchie und das Ausscheiden Österreichs aus dem Deutschen Bund. Der ehemals in den deutschen Staaten als Avantgarde einiger Liberaler und „Radikaler“ geltende Nationalismus wurde zur Politik der Mitte.
In Innsbruck kann das Leben Adolf Pichlers stellvertretend für diese Entwicklungen gelesen werden. Mit 12 Jahren kam der Sohn eines Zollbeamten von Erl bei Kufstein nach Innsbruck, um am Gymnasium seine akademische Karriere zu starten. Unter den Fittichen der Jesuiten, denen er später mit wenig Begeisterung begegnen sollte, startete er im Geiste des klassischen Humanismus seine akademische Karriere. Pichler lernte in dieser Zeit vor allem die antiken Schriftsteller und ihre Philosophien kennen. Bereits als Teenager gründete er mit jugendlichem Eifer den Verein „Eiche und Buche“ und gab eine literarische Wochenschrift heraus. Während seinen Philosophie-, Jus- und Medizinstudien in Innsbruck und Wien lernte las er die Werke damals moderner, teils aber unter Zensur stehender Denker wie Feuerbach, Hegel und Fichte. Er bediente sich aus der geheimen Bibliothek, liebevoll Giftbude tituliert, von Johann Schuler, dem Redakteur des Tiroler Boten. Er lernte die liberalen deutschen Vorkämpfer Anastasius Grün und Heinrich Heine kennen. Sie vertraten den Gedanken einer geeinten deutschen Nation anstelle der Kleinstaatlichkeit des Deutschen Bundes. Unter der Beimengung des englischen Literaturexzentrikers Lord Byron und des mittelalterlichen Minnesängers Walther von der Vogelweide entstand sein Blick auf die Welt, der sich innerhalb der liberalen Schicht Innsbrucks gegen Ende des 19. Jahrhunderts durchsetzen sollte. Tirol sollte ein Teil der deutschen Kulturnation sein. 1845 geriet Pichler endgültig ins Visier der geheimen Staatspolizei Metternichs. Gemeinsam mit anderen „Radikalen“, allen voran Hermann von Gilm, gab er den Lyrikband Frühlingslieder aus Tirol heraus, der trotz aller Harmlosigkeit nicht erschienen durfte. Pichler war durch die Sammlung der Gedichte als eine Art geistiger Vater zum Gründer der Jungtiroler geworden, ohne selbst inhaltlich bemerkenswert beizutragen. Der junge Mann wurde nicht nur ein Teil der subversiven, national-liberalen Tiroler Literaturszene, sondern tauschte sich in Briefen und Zeitungsartikeln auch mit ausländischen Autoren und Intellektuellen aus. Sein Kollegen- und Freundeskreis reichte von den Tirolern Adolf Flir, Johann Senn und Beda Weber über Grillparzer und Stifter bis hin zu Alexander von Humboldt.
1848, Pichler hatte gerade sein Medizinstudium in Wien abgeschlossen, beteiligte er sich an den Kämpfen an den Tiroler Landesgrenzen in den Italienischen Unabhängigkeitskriegen. Pichler stellte ein eigenes Corps, die Akademische Legion auf. Obwohl die Studenten und Professoren gemeinsam mit den habsburgischen Truppen den Grenzschutz wahrnahmen, beäugte die Obrigkeit das Treiben Pichlers und seiner Truppe argwöhnisch. Der Umgang mit subversiven Elementen und seine politisch motivierten Artikel, Gedichte und Stücke verhinderten in der Donaumonarchie nach den Wirren von 1848 die akademische Karriere Pichlers. An der Universität abgelehnt musste er sich mit einem Posten am Gymnasium in Innsbruck zufriedengeben. Nebenbei verfolgte er seinen Weg als Literaturhistoriker weiter. Er schrieb über die Geschichte der Tiroler Literatur, ließ sich von seinen Schülern Theaterstücke aus deren jeweiliger Heimatregionen zusammentragen, um diese Tirolensien zu sammeln. Pichler war im Geiste von 1848 ein eifriger Archivar Tiroler Traditionen und Überlieferungen, um die Vergangenheit und Althergebrachtes zu einem nationalen, germanisch gefärbten Narrativ zu bündeln. Seine eigenen, von nationalem Pathos triefenden literarischen Gehversuche bestehend waren nur von überschaubarem Erfolg gekrönt. Pichlers Dramen schafften es mit Ausnahme des Stückes Rodrigo, ein im Innsbrucker Stadttheater aufgeführter Historienschinken nicht an die breite Öffentlichkeit. Die Handlung spielt zur Zeit des Untergangs des Westgotenreichs in Spanien im 8. Jahrhundert und ist eine Anspielung auf die politische Situation in Österreich der Zeit nach dem Ausscheiden der Monarchie aus dem Deutschen Bund. Rodrigo verschwindet der nach einer Niederlage in der Entscheidungsschlacht am spanischen Rio Guadalete, dem Äquivalent zu Königgrätz, aus der Geschichte.
Wohl ein wenig desillusioniert nach der in Österreich wenig revolutionären Märzrevolution und dem Ausscheiden Österreichs aus dem deutschen Bund 1866, wandte sich der vom offen Aufsässigen zum still Widerspenstigen gewandelte Intellektuelle der Geologie zu. Auf langen Wanderungen durch die Alpen sammelte er Erkenntnisse über die geliebte Heimat und konnte so zumindest ein wenig in die Fußstapfen Alexanders von Humboldt treten. 1867 wurde er zum Universitätsprofessor für Geologie in Innsbruck berufen und konnte so seine akademische Karriere im Alter von knapp 50 Jahren doch noch krönen, ohne selbst je ein naturwissenschaftliches Studium absolviert zu haben. Den Posten als Rektor lehnte der unangepasste Pichler ab, zu hoch wäre wohl der Preis dafür gewesen. Liest man heute die Artikel und Gedichte Pichlers, fühlt man sich in Ausdruck und Thematik rund um Deutschtum, Wahrheit, Kampfeslust und Heldenverehrung stark an die Diktion der völkischen Presse der frühen Nationalsozialisten erinnert. Als Intellektueller, Kritiker und Kommentator des Zeitgeschehens beeinflusste Pichler den Zeitgeist der Innsbrucker Politik merklich. Viel ist in seinen Schriften die Rede von den Nibelungen, Walhalla, Wotan, Aufopferung und Erlösung. Bis an sein Lebensende verfasste er Gedichte, Theaterstücke und schmalzige Hymnen wie seinen späten Dietrich von Bern aus dem Jahr 1898.
Kennt den Dietrich Ihr den Berner?
Den man einst in Fesseln schloss –
Flammen atmet er im Zorne –
dass wie Wachs das Eisen floss,
folgt dem Beispiel Eures Helden –
duldet nie ein fremdes Joch –
duldet nie als Herrn den Sklaven –
der am Boden vor Euch kroch.
Sein Hausblatt war der zwischen 1899 und 1906 erscheinenden, bissige politische, antiklerikale Scherer. Das Logo des selbsternannten Satireblattes war ein lächelnder älterer Tiroler, der dem Betrachter einen toten Maulwurf, dem Symbol für den oft als Schädling bezeichneten Klerus entgegenstreckt. Auch in überregionalen Magazinen und Zeitungen wie Presse, Wiener Zeitung, Augsburger Allgemeine, Gartenlaube, Odin und Germania schrieb der stramm deutschnationale Pichler gegen Klerus und Obrigkeit an. Der volkstümlich schwelende Antisemitismus hingegen war ihm fremd und zuwider. Anders als später den Faschisten und Nationalsozialisten sprach sich Pichler auch gegen jegliche Form des Imperialismus aus, sei es britischer, französischer oder deutscher. Alle Völker und Nationen sollten sich selbst verwalten, Kultur und Traditionen sollten geachtet werden.
Als der ehemals als „Radikaler“ angesehene Public Intellectual 1900 seine Augen für immer schloss, war aus ihm ein geachteter Bürger geworden. Seine politischen Ansichten waren dieselben geblieben, entsprachen mittlerweile aber dem Mainstream und wurden nicht mehr zensuriert, sondern ganz besonders im Innsbrucker Gemeinderat unter Wilhelm Greil hochgeschätzt. Die liberale Presse überschlug sich in Lobeshymnen und Wehklagen. Karl Habermann, Herausgeber des Scherer, verbrannte bei einem Fackelzug zu Ehren des hochverehrten Adolf Pichlers einen gegen seine Zeitung gerichteten offenen Brief des Fürstbischofs von Brixen, wofür er sich vor Gericht verantworten musste im Hirtenbriefproceß verantworten musste. In einer eigenen Heftnummer voll mit Gedichten und Artikel literarischer Weggefährten und Bewunderer konnte man im Scherer einen letzten, von Pichler selbst verfassten Abschied, in dem er seine Schreibfeder mit dem Schwerte König Arthurs verglich, lesen. In einem Nachruf ehrte man den „Alten“ mit den Worten:
„Tirol, das schwarze Pfaffenland, es ward durch Pichler zum neuen Flammenherde geistiger Empörung, von dem sich tausende von Volksgenossen in allen deutschen Gauen die Brandfackel holen, um auch in ihrem Heim die heilige Flamme zu entzünden.“
Auch in anderen einschlägigen Magazinen wie Odin – ein Kampfblatt für die alldeutsche Bewegung auf unbedingt völkischem Standpunkte und der Ostdeutschen Rundschau, dem „nationalen Kampfblatt der Deutschen in Österreich“ ließ man den Tiroler Heros hochleben. Schriftsteller wie Franz Kranewitter (1860 – 1938), Rudolf Greinz (1866 - 1942), Heinrich von Schullern (1865 – 1955) und Arthur von Wallpach (1866 – 1946) trugen die literarische Flamme Pichlers als Jung-Tirol weiter, zuerst im Scherer und später in Der Föhn. Sie alle einte die Erfahrung des Ausscheidens Österreichs aus dem Deutschen Bund, der Machtverlust der K.u.K. Monarchie sowie der Verlust der südlichen Landesteile des historischen Tirols. Ihre Form des teils antiklerikalen, teils kriegsverherrlichenden Liberalismus bei gleichzeitiger Lobpreisung der Heimatverbundenheit und des Tiroler Volksgeistes erfreuten sich sowohl nach dem ersten Weltkrieg wie auch während des Nationalsozialismus großer Beliebtheit. Stücke wie der Andreas Hofer Kranewitters und die Gedichtbände Wallpachs mit klingenden Namen wie Tiroler Blut oder Wir brechen durch den Tod! – Gedichte aus dem Felde ermöglichten es fast jeder politischen Richtung ihr Programm darin auf die eine oder andere Weise wiederzufinden. Bereits ein Jahr nach Adolf Pichlers Tod wurde ein Komitee ins Leben gerufen, um ihm ein Denkmal zu errichten. Den Vorstand übernahm Bürgermeister Greil, der seinen Spiritus Rector nur zu gerne im öffentlichen Raum platzieren ließ. Seit 1930 ist der Adolf-Pichler-Platz, auf dem die Bronzestatue steht, nach ihm benannt. Auch seinen nachfolgenden Jung-Tirolern Greinz, Schullern, Kranewitter und Renk wurden in Amras und Pradl Straßen gewidmet. Pichlers Wohnhaus in der Müllerstraße schmückt eine Erinnerungstafel mit Tiroler Adler, Lorbeerkranz und Eichellaub: „DEM DEUTSCHEN DICHTER ADOLF PICHLER – DAS LAND TIROL“.