Viaduktbögen / Bögenmeile
Ing.-Etzel-Straße
Wissenswert
Schenkt man so manchem besonders vorsichtigen Innsbrucker Glauben, befindet sich das Tor zur Hölle mitten in Innsbruck. Andere hingegen verbinden mit der Bogenmeile einige der besten Erinnerungen an die eigene Jugendzeit. Das Ausgehviertel am Bahnviadukt zwischen Pradl, Dreiheiligen und Saggen spaltet seit Jahrzehnten die Geister und sorgt immer wieder für Diskussionsstoff und Urban Legends. In den Bögen haben sich seit dem großen Umbau in den 1950er Jahren Werkstätten, Geschäfte und vor allem Lokale aller Art angesiedelt. 1985 übersiedelte das Jugendzentrum Z6 auf die Rückseite der Bögen. Der Bogen 13 eröffnete im selben Jahr. Das Lokal lockte erstmals eine alternative Innsbrucker Szene aus der Innenstadt unter den Viadukt. Heute ziehen Pubs, Bars, Clubs, Brauereien, Gasthäuser und Imbissbuden aller Art ein buntes Publikum an, das bis spät in die Morgenstunden meist friedlich feiert. Viele Fassaden wurden in den letzten Jahren mit sehenswerter Streetart versehen und teilweise aufwändig renoviert. Der schlechte Ruf rührt von seltenen Ausnahmen der Friedlichkeit, vor allem aber von der globalen Tradition reiferer Generationen, jugendliches Treiben im Allgemeinen bedrohlich zu finden.
Die Bögen sind das größte Bauwerk der Stadt. Auf 1,8 km zieht sich das Viadukt entlang der Ing.-Etzel-Straße vom Bahnhof bis zur Mühlauer Eisenbahnbrücke, die die Züge über den Inn Richtung Osten entlässt. Der mächtige Bau wurde zwischen 1855 und 1858 errichtet, als Nordtirols erste Bahnlinie entstand. Als Baumaterial diente Höttinger Breccie, die die Basis für unzählige Innsbrucker Monumente in der Altstadt, der Triumphpforte bis zu den Südtirolersiedlungen in den 1930er Jahren bildete, bevor die Steinbrüche auf der Hungerburg ihre Pforten schlossen. Tausende Arbeiter schufteten auf der Riesenbaustelle, die einen steinernen Gürtel zwischen Innsbruck und der damals eigenständigen Gemeinde Pradl zog.
Dass die Trennung nicht von Dauer war, geht auf das Konto des Masterminds des österreichischen Bahnbaus Carl Ritter von Ghega (1802 – 1860). Einigen Wirren der großen Weltpolitik ist es zu verdanken, dass es seiner Mitwirkung kam. Als er als Carlo Ghega als Sohn eines albanisch stämmigen Marineoffiziers in Venetien auf die Welt kam, stand Norditalien unter der Herrschaft Napoleons. Erst am Wiener Kongress 1815 kam die Region als Lombardo-Venetien unter die Kontrolle der k.k. Monarchie. Nach kurzer Zeit beim Militär entschied er sich für ein Studium in Padua. Mit nur 17 Jahren konnte er Mathematik und Ingenieurwesen erfolgreich abschließen. Nach einigen Berufserfahrungen im Straßenbau und bei der Ferdinands-Nordbahn zwischen Wien und Mähren, reiste er Mitte der 1830er nach England und Nordamerika, um sich die neue Technologie im Mutterland der Eisenbahn und dem Wilden Westen persönlich anzusehen. 1848 wurde Ghega Generalinspektor der Staatsbahnen im Ministerium für öffentliche Bauten, im Jahr darauf Vorstand der Eisenbahn-Bausektion und der Generalbaudirektion für Staatseisenbahnbauten. Von Kaiser Franz Josef I. in den Adelsstand erhoben, wurde aus dem albanischstämmigen Italiener Carlo unter Eliminierung des fremdländischen -o Carl Ritter von Ghega, dessen Konterfei von 1968 – 1989 die Zwanzig-Schilling-Banknote der Republik Österreich schmückte. Es waren seine Pläne, die das Riesenreich der Habsburgermonarchie zwischen Lemberg, Bregenz und Triest durchzogen. Einem Teil seines Genies verdankt Innsbruck die Möglichkeit räumlich wachsen zu können. Von Ghega verwarf den älteren Plan Alois von Negrellis, der einen aufgeschütteten Bahndamm zwischen Innsbruck und Pradl vorsah. Diese Lösung wäre zwar günstiger und schneller zu realisieren gewesen, hätte eine Verkehrsverbindung von Innsbruck nach Osten hin aber dauerhaft verhindert.
1958 erfolgte die Verlängerung der Museumstraße zum Rapoldipark über den Durchbruch, der heute die Hauptverkehrsachse zwischen Pradl und der Innenstadt bildet. Seitdem wurden die Viadukte immer wieder renoviert und angepasst. Mehrere Verbindungen durch die insgesamt 175 Bögen des Bahnviadukts verbinden Dreiheiligen und die einzelnen Teile des Saggens. Auf der Höhe des Claudiaplatzes entstand nicht nur ein neuer Regionalbahnhof, sondern eine verkehrsberuhigte innerstädtische Parkanlage. Dass Carl Ritter von Ghega mit seiner vorausschauenden Bauweise nicht nur eine Verkehrslösung, sondern eine Ausgehmeile erschaffen würde, war wohl nicht geplant.
Die Eisenbahn als Entwicklungshelfer Innsbrucks
1830 wurde zwischen Liverpool und Manchester die erste Bahnlinie der Welt eröffnet. Nur wenige Jahrzehnte später war auch das seit geraumer Zeit etwas von den Haupthandelswegen abgelegene und wirtschaftlich rückständige Tirol mit spektakulären Bahnbauten über die Alpen hinaus mit der Welt verbunden. Waren Reisen bisher teure, lange und beschwerliche Trips in Kutschen, auf Pferden oder zu Fuß, bedeutete das immer stärker ausgebaute Bahnnetz nie zuvor dagewesenen Komfort und Geschwindigkeit.
Es war Innsbrucks Bürgermeister Joseph Valentin Maurer (1797 – 1843), der die Bedeutung der Eisenbahn als Chance für den Alpenraum begriff. 1836 trat er für den Bau einer Bahnlinie ein, um das schöne, aber schwer erreichbare Land einem möglichst breiten, zahlungskräftigen Publikum zugänglich zu machen. Der erste praktische Pionier des Eisenbahnverkehrs in Tirol war Alois von Negrelli (1799 – 1858), der auch maßgeblich Anteil am Jahrhundertprojekt Suezkanal hatte. Ende der 1830er, als die ersten Bahnlinien der Donaumonarchie im Osten des Reiches in Betrieb gingen, erstellte er ein „Gutachten über den Zug einer Eisenbahn von Innsbruck über Kufstein bis zur königl. Bairischen Grenze an der Otto-Kapelle bei Kiefersfelden“ vorgelegt. Negrelli hatte in jungen Jahren in der k.k. Baudirektion Innsbruck Dienst getan, kannte die Stadt also sehr gut. Sein Gutachten enthielt bereits Skizzen und eine Aufstellung der Kosten. Als Platz für den Hauptbahnhof hatte er die Triumphpforte und den Hofgarten ins Spiel gebracht. In einem Brief äußerte er sich über die Bahnlinie durch seine ehemalige Heimatstadt mit diesen Worten:
„…Daß es mit der Eisenbahn von Innsbruck nach Kufstein ernst wird, vernehme ich ebenfalls mit innigster Theilnahme, in dem die Laage hierzu sehr geeignet ist und die Gegen dem Inn entlang so reich an Naturprodukten und so bevölkert ist, daß ich an ihr Gedeihen gar nicht zweifeln kann, auch werde ich nicht ermangeln, wenn es an die Abnahme von Actien kommen wird, selbst und durch meine Geschäftsfreunde thätigen Antheil daran zu nehmen. Das neue Leben, welches eine solche Unternehmung in der Gegen erweckt, ahnen Sie gar nicht…“
Friedrich List, bekannt als Vater der deutschen Eisenbahn, brachte den Plan einer Bahnverbindung von den norddeutschen Hansestädten über Tirol an die italienische Adria auf den Tisch. Auf österreichischer Seite erbte Carl Ritter von Ghega (1803 – 1860) die Gesamtverantwortung über das Projekt Eisenbahn innerhalb des Riesenreiches der Habsburger vom früh verstorbenen Negrelli. 1851 bekundeten Österreich und Bayern in einem Vertrag die Absicht, eine Eisenbahnlinie in die Tiroler Landeshauptstadt zu bauen. Im Mai 1855 begann der Bau. Es war die bis dahin größte Baustelle, die Innsbruck gesehen hatte. Nicht nur der Bahnhof wurde errichtet, die Bahnviadukte hinaus aus der Stadt Richtung Nordosten mussten gebaut werden.
Am 24. November 1858 ging die Bahnlinie zwischen Innsbruck und Kufstein und weiter über Rosenheim nach München in Betrieb. Die Linie war ihrer Zeit voraus. Anders als der Rest der Eisenbahn, der erst 1860 privatisiert wurde, eröffnete die Linie bereits als Privatbahn, betrieben von der zuvor gegründeten k.k. privilegierten südlichen Staats-, Lombardisch-, Venetianisch- und Zentral-italienischen Eisenbahngesellschaft. Mit diesem Schachzug konnte der aufwändige Bahnbau aus dem ohnehin stets klammen Staatshaushalt Österreichs ausgeklammert werden. Der erste Schritt war mit dieser Öffnung in die Richtung der östlichen Teile der Monarchie, vor allem nach München getan. Waren und Reisende konnten nun schnell und komfortabel von Bayern in die Alpen und retour transportiert werden. In Südtirol rollten die ersten Züge zwischen Verona und Trient im Frühjahr 1859 über die Schienen.
Der Nord-Süd-Korridor war damit aber noch unvollendet. Erste seriöse Erwägungen zur Brennerbahn wurden 1847 angestellt. Die Auseinandersetzungen südlich des Brenners und die geschäftliche Notwendigkeit der Verbindung der beiden Landesteile riefen 1854 die Permanente Central-Befestigungs-Commission auf den Plan. Durch den Verlust der Lombardei nach dem Krieg mit Frankreich und Sardinien-Piemont 1859 verzögerte sich im politisch instabil gewordenen Norditalien das Projekt. Aus der k.k. privilegierten südlichen Staats-, Lombardisch-, Venetianisch- und Zentral-italienischen Eisenbahngesellschaft musste 1860 die k.k. privilegierte Südbahngesellschaft werden, um mit den Detailplanungen zu starten. Im Folgejahr begann das Mastermind hinter dieser herausragenden infrastrukturellen Leistung der Zeit, Ing. Carl von Etzel (1812 – 1865), das Gelände zu vermessen und konkrete Pläne für die Anlage der Schienen zu erstellen. Der Planer war von den Investoren der privaten Gesellschaft angehalten, möglichst sparsam und ohne große Viadukte und Brücken auszukommen. Entgegen älterer Überlegungen Carl Ritter von Ghegas die Steigung hinauf auf die Passhöhe in 1370 m Seehöhe durch einen Start der Strecke in Hall abzufedern, erarbeitete Etzel den Plan, der Innsbruck miteinschloss, gemeinsam mit seinem Bauleiter Achilles Thommen und erkor die Sillschlucht als beste Route aus. Damit sparte er nicht nur sieben Kilometer Streckenlänge und viel Geld, sondern sicherte Innsbruck auch den wichtigen Status als Verkehrsknotenpunkt. Das alpine Gelände, Muren, Schneestürme und Hochwasser waren große Herausforderungen im Bau. Flussläufe mussten verlegt, Felsen gesprengt, Erdbauten gegraben und Mauern errichtet werden, um der alpinen Streckenführung Herr zu werden. Die ärgsten Probleme bereitete aber der 1866 ausgebrochene Krieg in Italien. Besonders patriotische deutschsprachige Arbeiter weigerten sich, mit dem „Feind“ zu arbeiten. 14.000 italienischsprachige Arbeiter mussten entlassen werden, bevor die Arbeiten weitergehen konnten. Trotzdem konnte die höchst gelegene reguläre Eisenbahnstrecke der W mit ihren 22 aus dem Fels gesprengten Tunneln in bemerkenswert kurzer Bauzeit fertiggestellt werden. Wie viele Männer bei der Arbeit an der Brennerbahn Gesundheit und Leben ließen, ist nicht bekannt.
Die Eröffnung ging bemerkenswert unspektakulär über die Bühne. Viele Menschen waren sich nicht sicher, ob ihnen die technische Neuerung gefällt oder nicht. Wirtschaftszweige wie das Rodfuhrwesen und die Poststationen entlang der Brennerstrecke waren dem Untergang geweiht, wie das Sterben der Flößerei nach der Eröffnung der Bahnlinie ins Unterland gezeigt hatte. Schon während der Bauarbeiten war es zu Protesten der Bauern, die ob des drohenden Imports landwirtschaftlicher Güter um ihren Gewinn fürchteten, gekommen. Auf eine Feier wurde, wie bereits zuvor der Bau der Bahnstrecke, von der Weltpolitik beeinflusst. Wegen der Hinrichtung des ehemaligen Kaisers Maximilians von Mexiko, dem Bruder Franz Josef I., vor einem revolutionären Kriegsgericht, war Österreich in Staatstrauer. Man verzichtete man auf einen großen, dem Projekt eigentlich würdigen Staatsakt. Anstelle einer priesterlichen Weihe und festlicher Taufe spendete die Südbahngesellschaft 6000 Gulden an den Armenfonds. Auch in den Innsbrucker Nachrichten findet sich kein Wort über die Revolution im Verkehrswesen, sieht man von der Meldung des letzten Eilwagens über den Brenner und der Veröffentlichung des Fahrplans der Südbahn ab.
(Der letzte Eilwagen). Gestern Abends halb 8 Uhr fuhr der letzte Eilwagen nach Südtirol von hier ab. Der älteste Postillon in Innsbruck lenkte die Rosse, sein Hut war mit Trauer umflort, und der Wagen zur letzten Fahrt mit Zweigen von Trauerweiden geschmückt. Zwei Schützen, die nach Matrei fuhren, waren die einzigen Passagiere, welche dem Eilwagen die letzte Ehre erwiesen. Schon 1797 in den letzten Tagen war es auf der schönen, sonst so belebten und nun verödeten Straße auffallend tod.
Bis zur Eröffnung der Bahnlinie über den Brenner am 24. August 1867 war Innsbruck ein Kopfbahnhof mit regionaler Bedeutung. Mit der neuen, spektakulären Brennerbahn über die Alpen waren der nördliche und südliche Landesteil sowie Deutschland und Italien verbunden. Die Alpen hatten ihren trennenden Charakter und ihren Schrecken für den Transit verloren, zumindest ein klein wenig. Das zweite Hindernis, das zur Landeseinheit überwunden werden musste, war der Arlberg. Erste Pläne einer Bahnlinie, die die Region um den Bodensee mit dem Rest der Donaumonarchie verbinden würde, gab es bereits 1847, immer wieder wurde das Projekt aber zurückgestellt. 1871 kam es wegen durch Exportverbote von Lebensmitteln auf Grund des deutsch-französischen Krieges zu einer Hungersnot in Vorarlberg, weil Nahrungsmittel nicht schnell genug vom Osten des Riesenreiches in den äußersten Westen geliefert werden konnten. Die Wirtschaftskrise von 1873 verzögerte den Bau trotzdem erneut. Erst sieben Jahre später fiel der Beschluss im Parlament, die Bahnlinie zu realisieren. Im selben Jahr begannen östlich und westlich des Arlbergmassivs die komplizierten Bauarbeiten. 38 Wildbäche und 54 Lawinengefahrstellen mussten mit 3100 Bauwerken bei prekären Wetterverhältnissen im alpinen Gelände verbaut werden. Die bemerkenswerteste Leistung war der zehn Kilometer lange Tunnel, der zwei Gleise führt.
Am 30. Juni 1883 fuhr der letzte Transport der Post mit dem Pferdewagen in feierlichem Trauerflor von Innsbruck nach Landeck. Tags darauf erledigte die Eisenbahn diesen Dienst. Mit der Eröffnung der Eisenbahn von Innsbruck nach Landeck und der endgültigen Fertigstellung der Arlbergbahn bis Bludenz 1884 inklusive dem Tunneldurchschlag durch den Arlberg war Innsbruck endgültig wieder zum Verkehrsknotenpunkt zwischen Deutschland und Italien, Frankreich, der Schweiz und Wien geworden. 1904 wurde die Stubaitalbahn, 1912 die Mittenwaldbahn eröffnet. Beide Projekte plante Josef Riehl (1842 – 1917) als privater Bahnunternehmer. Der gebürtige Bozner Riehl hatte erste Erfahrungen bei der Brennerbahn unter Etzel gesammelt, bevor er 1870 unter eigener Firma als Vorreiter den inneralpinen Raum mit vielen Projekten erschloss.
Die Eisenbahn war das am direktesten spürbare Merkmal des Fortschritts für einen großen Teil der Bevölkerung. Die Bahnviadukte, die aus Höttinger Breccie aus dem nahen Steinbruch errichtet wurden, setzten der Stadt im Osten Richtung Pradl ein physisches und sichtbares Ende. Aber nicht nur aus einer rein technischen Perspektive veränderte die Bahn das Land. Sie brachte einen immensen gesellschaftlichen Wandel. Die Bahnhöfe entlang der Linie belebten die Orte immens. Der Bahnhofsvorplatz in Innsbruck wurde zu einem der neuen Zentren der Stadt. Arbeitskräfte, Studenten, Soldaten und Touristen strömten in großer Zahl in die Stadt und brachten neue Lebensentwürfe und Ideen mit. Nicht allen war diese Entwicklung allerdings recht. Die Schifffahrt am Inn, bis dahin ein wichtiger Verkehrsweg, kam beinahe umgehend zum Erliegen. Der ohnehin nach 1848 schwer gerupfte Kleinadel und besonders strenge Kleriker befürchteten den Kollaps der heimischen Landwirtschaft und den endgültigen Sittenverfall durch die Fremden in der Stadt.
Bis 1870 stieg die Einwohnerzahl Innsbrucks vor allem wegen der Wirtschaftsimpulse, die die Bahn brachte von 12.000 auf 17.000 Menschen. Lokale Produzenten profitieren von der Möglichkeit der kostengünstigen und schnellen Warenein- und Ausfuhren. Der Arbeitsmarkt veränderte sich. Vor der Eröffnung der Bahnlinien waren 9 von 10 Tirolern in der Landwirtschaft tätig. Mit der Eröffnung der Brennerbahn sank dieser Wert auf unter 70%.
Für den Tourismus war die Bahn Gold wert. Es war nun möglich, die abgelegene und exotische Bergwelt der Alpen Tirols zu erreichen. Kurorte wie Igls und ganze Täler wie das Stubaital, aber auch der Innsbrucker Stadtverkehr profitierten von der Entwicklung der Bahn. 1891 machte eine Lokalbahn zwischen dem Hauptbahnhof Innsbruck und Hall den Anfang, um Ausflügler zwischen den beiden Städten hin- und herzuführen. Zwei Jahre nach der Errichtung kam es zur Bildung der AG Lokalbahn Innsbruck – Hall i.T., die bis 1943 den Nahverkehr inklusive aller Straßenbahnen und Busse betrieb und in der Innsbrucker Verkehrsbetriebe AG, der heutigen IVB aufging. 1900 folgte die Kleinbahn Innsbruck – Igls, die als 6er noch immer malerisch durch die Wälder am Patschberg tuckert. Vier Jahre später verband die Stubaitalbahn als erste österreichische Bahn mit Wechselstrom das Seitental mit der Hauptstadt. Am 24.12.1904 wurden 780.000 Kronen, umgerechnet etwa 6 Millionen Euro, als Kapitalstock für die Straßenbahnlinie 1 gezeichnet. Im Sommer des Folgejahres verband die Linie die neuen Stadtteile Pradl und Wilten mit dem Saggen und der Innenstadt. Drei Jahre später eröffnete mit der Line 3 die nächste innerstädtische Verbindung des öffentlichen Verkehrs, die erst 1942 nach dem Anschluss von Amras an Innsbruck bis ins abgelegene Dorf führte.
Das neue Verkehrsmittel trug zur gesellschaftlichen Demokratisierung und Verbürgerlichung bei. Nicht nur für wohlhabende Touristen, auch für Untertanen, die nicht der Upper Class angehörten, wurden mit der Bahn Ausflüge in die Umgebung möglich. Neue Lebensmittel veränderten den Speiseplan der Menschen. Erste Kaufhäuser entstanden mit dem Erscheinen von Konsumartikeln, die vorher nicht verfügbar waren. Das Erscheinungsbild der Innsbrucker wandelte sich mit neuer, modischer Kleidung, die für viele zum ersten Mal erschwinglich wurde. Der Warentransport auf dem Inn erhielt den endgültigen Todesstoß. In den 1870er Jahren wurde der letzte Floßabladeplatz der Stadt an der Stelle, an der sich heute der Waltherpark in St. Nikolaus befindet, geschlossen.
Die Bundesbahndirektion der K.u.K. General-Direction der österreichischen Staatsbahnen in Innsbruck war eine von nur drei Direktionen in Cisleithanien. Neue soziale Schichten entstanden durch die Bahn als Arbeitgeber. Es bedurfte Menschen aller Bevölkerungsschichten, um den Bahnbetrieb am Laufen zu halten. Arbeiter und Handwerker konnten bei der Bahn, ähnlich wie in der staatlichen Verwaltung oder dem Militär, sozial aufsteigen. Neue Berufe wie Bahnwärter, Schaffner, Heizer oder Lokführer entstanden. Bei der Bahn zu arbeiten, brachte ein gewisses Prestige mit sich. Nicht nur war man ein Teil der modernsten Branche der Zeit, die Titel und Uniformen machten aus Angestellten und Arbeitern Respektpersonen.
Die Bahn war auch von großer Bedeutung für das Militär. Schon 1866 bei der Schlacht von Königgrätz zwischen Österreich und Preußen war zu sehen, wie wichtig der Truppentransport in Zukunft sein würde. Österreich war bis 1918 ein Riesenreich, das sich von Vorarlberg und Tirol im Südwesten bis nach Galizien, einem Gebiet im heutigen Polen und der Ukraine im Osten erstreckte. Um die unruhige Südgrenze zum neuen Nachbarn, dem Königreich Italien zu verstärken, bedurfte es der Brennerbahn. Auch im Ersten Weltkrieg waren Tiroler Soldaten in den ersten Kriegsjahren bis zur Kriegserklärung Italiens an Österreich in Galizien im Einsatz. Als es zur Öffnung der Frontlinie in Südtirol kam, war die Bahn wichtig, um Truppen schnell vom Osten des Reiches an die Südfront bewegen zu können.
An Carl von Etzel, der die Eröffnung der Brennerbahn nicht mehr erlebte, erinnert heute die Ing.-Etzel-Straße im Saggen entlang der Bahnviadukte. An Josef Riehl erinnert die Dr. -Ing.-Riehl-Straße in Wilten in der Nähe des Westbahnhofs. Auch Achilles Thommen ist eine Straße gewidmet. Als Spaziergänger oder Radfahrer kann man die Karwendelbrücke in der Höttinger Au einen Stock unter der Karwendelbahn überqueren und das Stahlfachwerk bewundern. Einen guten Eindruck vom Goldenen Zeitalter der Eisenbahn erhält man bei einem Besuch des ÖBB-Verwaltungsgebäudes im Saggen oder beim denkmalgeschützten Westbahnhof in Wilten. In den Viaduktbögen im Saggen kann man in einer der vielen Kneipen überdacht von der Geschichte das Nachtleben Innsbrucks genießen.
Der Rote Bischof und der Innsbrucker Sittenverfall
In den 1950er Jahren begann sich Innsbruck von den Krisen- und Kriegsjahren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu erholen. Am 15. Mai 1955 deklarierte Bundeskanzler Leopold Figl mit den berühmten Worten „Österreich ist frei“ und der Unterzeichnung des Staatsvertrages offiziell die politische Wende. In vielen Haushalten etablierte sich in den Jahren, die als Wirtschaftswunder in die Geschichte eingingen, moderater Wohlstand. Diese Zeit brachte nicht nur materielle, sondern auch gesellschaftliche Veränderung mit sich. Die Wünsche der Menschen wurden mit dem steigenden Wohlstand und dem Lifestyle, der in Werbung und Medien transportiert wurde, ausgefallener. Das Phänomen einer neuen Jugendkultur begann sich zart inmitten der grauen Gesellschaft im kleinen Österreich der Nachkriegszeit breit zu machen. Die Begriffe Teenager und Schlüsselkind hielten in den 1950er Jahren im Sprachgebrauch der Österreicher Einzug.
Über Filme kam die große Welt nach Innsbruck. Kinovorführungen und Lichtspieltheater gab es zwar schon um die Jahrhundertwende in Innsbruck, in der Nachkriegszeit passte sich das Programm aber erstmals an ein jugendliches Publikum an. Ein Fernsehgerät hatte kaum jemand im Wohnzimmer und das Programm war mager. Die Kammer-Lichtspiele in der Wilhelm-Greilstraße, das Laurinkino in der Gumppstraße, die Zentral-Lichtspiele in der Maria-Theresienstraße, die Löwen-Lichtspiele in der Höttingergasse und das Leokino des Katholischen Arbeitervereins in der Anichstraße warben mit skandalträchtigen Filmen um die Gunst des Publikums.
1956 erschien die Zeitschrift BRAVO. Zum ersten Mal gab es ein Medium, das sich an den Interessen Jugendlicher orientierte. Auf der ersten Ausgabe war Marylin Monroe zu sehen, darunter die Frage: Haben auch Marylins Kurven geheiratet? Die großen Stars der ersten Jahre waren James Dean und Peter Kraus, bevor in den 60er Jahren die Beatles übernahmen. Nach dem Summer of Love klärte Dr. Sommer über Liebe und Sex auf. Die erste Foto-Love-Story mit nacktem Busen folgte erst 1982.
Nach und nach eröffneten in Innsbruck Bars, Discos, Nachtlokale, Kneipen und Veranstaltungsräumlichkeiten. Veranstaltungen wie der 5 Uhr Tanztee im Sporthotel Igls lockten paarungswillige junge Menschen an. Etablissements wie der Falknerkeller in der Gilmstraße, der Uptown Jazzsalon in Hötting, der Clima Club im Saggen, der Scotch Club in der Angerzellgasse und die Tangente in der Bruneckerstraße hatten mit der traditionellen Tiroler Bier- und Weinstube nichts gemeinsam. Die Auftritte der Rolling Stones und Deep Purples in der Olympiahalle 1973 waren der vorläufige Höhepunkt des Innsbrucker Frühlingserwachens. Innsbruck wurde damit zwar nicht zu London oder San Francisco, zumindest einen Hauch Rock´n´Roll hatte man aber eingeatmet.
Der allergrößte Teil des sozialen Lebens der Stadtjugend spielte sich aber nicht in verruchten Spelunken, sondern in geordneten Bahnen in den katholischen Jugendorganisationen ab. Das, was als 68er Bewegung im kulturellen Gedächtnis bis heute verankert ist, fand im Heiligen Land kaum statt. Weder Arbeiter noch Studenten gingen in Scharen auf die Barrikaden. Zwar gab es in den 1970er Jahren einzelne Gruppen wie die Kommunistische Gruppe Innsbruck oder das Komitee für Solidarität mit Vietnam, zu einer Massenbewegung kam es nicht. Beethovens Weisheit, dass „solange der Österreicher noch braun´s Bier und Würstel hat, revoltiert er nicht,“ traf zu.
Trotzdem war die Gesellschaft still und heimlich im Wandel. Ein Blick in die Jahreshitparaden gibt einen Hinweise darauf. Waren es 1964 noch Kaplan Alfred Flury und Freddy mit „Lass die kleinen Dinge“ und „Gib mir dein Wort“ sowie die Beatles mit ihrer deutschen Version von „Komm, gib mir deine Hand“, die die Top 10 dominierten, änderte sich der Musikgeschmack in den Jahren bis in die 1970er. Zwar fanden sich auch dann immer noch Peter Alexander und Mireille Mathieu in den Charts. Ab 1967 waren es aber internationale Bands mit fremdsprachigen Texten wie The Rolling Stones, Tom Jones, The Monkees, Scott McKenzie, Adriano Celentano oder Simon und Garfunkel, die mit teils gesellschaftskritischen Texten die Top Positionen in großer Dichte einnahmen.
Die Speerspitze der konservativen Konterrevolution war der Innsbrucker Bischof Paulus Rusch. Zigaretten, Alkohol, allzu freizügige Mode, Auslandsurlaube, arbeitende Frauen, Nachtlokale, vorehelicher Geschlechtsverkehr, die 40-Stundenwoche, sonntägliche Sportveranstaltungen, Tanzabende, gemischte Geschlechter in Schule und Freizeit – das alles war dem strengen Kirchenmann und Anhänger des Herz-Jesu-Kultes streng zuwider.
Peter Paul Rusch war 1903 in München zur Welt gekommen und in Vorarlberg als jüngstes von drei Kindern in einem gutbürgerlichen Haushalt aufgewachsen. Beide Elternteile und seine ältere Schwester starben an Tuberkulose, bevor er die Volljährigkeit erreicht hatte. Rusch musste im jugendlichen Alter von 17 in der kargen Nachkriegszeit früh für sich selbst sorgen. Die Inflation hatte das väterliche Erbe, das ihm ein Studium hätte finanzieren können, im Nu aufgefressen. Rusch arbeitete sechs Jahre lange bei der Bank für Tirol und Vorarlberg, um sich sein Theologiestudium finanzieren zu können. 1927 trat er ins Collegium Canisianum ein, sechs Jahre später wurde er zum Priester des Jesuitenordens geweiht. Seine steile Karriere führte den intelligenten jungen Mann als Kaplan zuerst nach Lech und Hohenems und als Leiter des Teilpriesterseminars zurück nach Innsbruck. Hier wurde er 1938 Titularbischof von Lykopolis, Innsbruck wurde erst 1964 zum eigenen Bistum, und Apostolischer Administrator für Tirol und Vorarlberg. Als jüngster Bischof Europas musste er die Schikanen der nationalsozialistischen Machthaber gegenüber der Kirche überstehen. Obwohl seine kritische Einstellung zum Nationalsozialismus bekannt war, wurde Rusch selbst nie inhaftiert. Zu groß war die Furcht der Machthaber davor, aus dem beliebten jungen Bischof einen Märtyrer zu machen.
Nach dem Krieg stand der sozial und politisch engagierte Bischof an vorderster Front beim Wiederaufbau. Die Kirche sollte wieder mehr Einfluss auf den Alltag der Menschen nehmen. Sein Vater hatte sich vom Zimmermann zum Architekten hochgearbeitet und ihm wohl ein Faible für das Bauwesen mitgegeben. Dazu kamen seine eigenen Erfahrungen bei der BTV. Dank seiner Ausbildung als Bänker erkannte Rusch die Möglichkeiten für die Kirche sich als Helfer in der Not zu engagieren und zu profilieren. Nicht nur die im Krieg in Mitleidenschaft gezogenen Kirchen wurden wiederaufgebaut. Die Katholische Jugend engagierte sich unter Ruschs Führung unentgeltlich bei der Errichtung der Heiligjahrsiedlung in der Höttinger Au. Die Diözese kaufte dafür einen Baugrund vom Ursulinenorden. Die Kredite für die Siedler wurden zinsfrei von der Kirche vorgestreckt. Sein rustikales Voranschreiten in der Wohnungsfrage sollte ihm Jahrzehnte später den Titel „Roter Bischof“ bescheren. In den bescheidenen Häuschen mit Selbstversorgergarten ganz nach der Vorstellung des dogmatischen und genügsamen „Arbeiterbischofs“ fanden 41 bevorzugt kinderreiche Familien eine neue Heimat.
Durch die Linderung der Wohnungsnot sollten die größten Bedrohungen im Kalten Krieg, Kommunismus und Sozialismus, von seiner Gemeinde fernhalten. Der vom Kommunismus vorgeschriebene Atheismus wie auch der konsumorientierte Kapitalismus, der nach dem Krieg aus den USA schwappend in Westeuropa Einzug gehalten hatte, waren ihm ein Gräuel. 1953 erschien Ruschs Buch „Junger Arbeiter, wohin?“. Was nach revolutionärer, linker Lektüre aus dem Kreml klingt, zeigte die Grundsätze der Christlichen Soziallehre, die sowohl Kapitalismus wie auch Sozialismus geißelte. Familien sollten bescheiden leben, um mit den moderaten finanziellen Mitteln eines alleinerziehenden Vaters in christlicher Harmonie zu leben. Unternehmer, Angestellte und Arbeiter sollten eine friedliche Einheit bilden. Kooperation statt Klassenkampf, die Basis der heutigen Sozialpartnerschaft. Jedem sein Platz in christlichem Sinne, eine Art modernes Feudalsystem, das bereits im Ständestaat Dollfuß´ zur Anwendung geplant war. Seine politischen Ansichten teilte er mit Landeshauptmann Eduard Wallnöfer und Bürgermeister Alois Lugger, die gemeinsam mit dem Bischof die Heilige Dreifaltigkeit des konservativen Tirols der Zeit des Wirtschaftswunders bildeten. Dazu kombinierte Rusch einen latenten, in Tirol auch nach 1945 weit verbreiteten katholischen Antisemitismus, der dank Verirrungen wie der Verehrung des Anderle von Rinn lange als Tradition halten konnte.
Ein besonderes Anliegen war dem streitbaren Jesuiten Erziehung und Bildung. Rusch war trotz eines Sprachfehlers ein charismatischer Typ, der bei seinen jungen Kollegen und Jugendlichen überaus beliebt war. 1936 war er in Vorarlberg zum Landesfeldmeister der Pfadfinder gewählt worden. Nur eine fundierte Erziehung unter den Fittichen der Kirche nach christlichem Modell konnte seiner Meinung nach das Seelenheil der Jugend retten. Um jungen Menschen eine Perspektive zu geben und sie in geordnete Bahnen mit Heim und Familie zu lenken, wurde das Jugendbausparen gestärkt. In den Pfarren wurden Kindergärten, Jugendheime und Bildungseinrichtungen wie das Haus der Begegnung am Rennweg errichtet, um von Anfang an die Erziehung in kirchlicher Hand zu haben.
In den 1960er und 70er Jahren gab es in Innsbruck zwei kirchliche Jugendbewegungen. Für die Erziehung der Eliten im Sinne des Jesuitenordens sorgte in Innsbruck seit 1578 die Marianische Kongregation. Diese Jugendorganisation, bis heute als MK bekannt, nahm sich den Gymnasialschülern an. Die MK war streng hierarchisch strukturiert, um den jungen Soldaten Christi von Anfang an Gehorsam beizubringen. 1959 übernahm Pater Sigmund Kripp die MK. Die Jugendlichen errichteten unter seiner Führung mit finanzieller Unterstützung durch Kirche, Staat, Eltern und mit viel Eigenleistung Projekte wie die Mittergrathütte samt eigener Materialseilbahn im Kühtai und das MK Jugendheim Kennedyhaus in der Sillgasse. Bei der Grundsteinlegung dieses Jugendzentrums, das mit knapp 1500 Mitgliedern zum größten seiner Art in Europa werden sollte, waren Bundeskanzler Klaus und Mitglieder der amerikanischen Botschaft anwesend, war der Bau doch dem ersten katholischen, erst kürzlich ermordeten Präsidenten der USA gewidmet.
Die andere kirchliche Jugendorganisation Innsbrucks war das Z6. Stadtjugendseelsorger Kaplan Meinrad Schumacher kümmerte sich im Rahmen der Aktion 4-5-6 um alle Jugendlichen, die in der MK oder der Katholischen Hochschülerschaft keinen Platz hatten. Arbeiterkinder und Lehrlinge trafen sich in verschiedenen Jugendheimen wie Pradl oder der Reichenau, bevor 1971 das neue, ebenfalls von den Mitgliedern selbst errichtete Zentrum in der namensgebenden Zollerstraße 6 eröffnet wurde. Die Leitung übernahm Josef Windischer. Das Z6 hatte schon mehr mit dem zu tun, was auf der Leinwand von Dennis Hopper und Peter Fonda auf ihren Motorrädern in Easy Rider vorgezeigt wurde. Hier ging es rauer zu als in der MK. Rockerbanden wie die Santanas, Kleinkriminelle und Drogenabhängige verbrachten ihre Freizeit ebenfalls im Z6. Während Schumacher mit den „braven“ Jugendlichen oben sein Programm abspulte, bevölkerte Windischer mit den Outsiders das Untergeschoß, um auch den verirrten Schäfchen so gut als möglich beizustehen.
Ende der 1960er Jahre beschlossen sowohl die MK wie auch das Z6 sich auch für Nichtmitglieder zu öffnen. Mädchen und Bubengruppen wurden teilweise zusammengelegt und auch Nicht-Mitglieder wurden eingelassen. Die beiden Jugendzentren hatten zwar unterschiedliche Zielgruppen, das Konzept aber war gleich. Theologisches Wissen und christliche Moral wurden in spielerischem, altersgerechtem Umfeld vermittelt. Sektionen wie Schach, Fußball, Hockey, Basketball, Musik, Kinofilme und ein Partykeller holten die Bedürfnisse der Jugendlichen nach Spiel, Sport und ersten sexuellen Erfahrungen ab. Die Jugendzentren boten einen Raum, in dem sich Jugendliche beider Geschlechter begegnen konnten. Besonders die MK blieb aber eine Institution, die nichts mit dem wilden Leben der 68er, wie es in Filmen gerne transportiert wird, zu tun hatte. So fanden zum Beispiel Tanzkurse nicht im Advent, Fasching oder an Samstagen statt, für unter 17jährige waren sie überhaupt verbotene Früchte.
Trotzdem gingen die Jugendzentren zu weit für Bischof Rusch. Die kritischen Beiträge in der MK-Zeitung Wir diskutieren fanden immer seltener sein Gefallen. Nach jahrelangen Streitigkeiten zwischen Bischof und Jugendzentrum kam es 1973 zum Showdown. Als Pater Kripp sein Buch Abschied von morgen veröffentlichte, in dem er von seinem pädagogischen Konzept und der Arbeit in der MK berichtete, kam es zu einem nicht öffentlichen Verfahren innerhalb der Diözese und des Jesuitenordens gegen den Leiter des Jugendzentrums. Trotz massiver Proteste von Eltern und Mitgliedern wurde Kripp entfernt. Weder die innerkirchliche Intervention durch den bedeutenden Theologen Karl Rahner noch eine vom Künstler Paul Flora ins Leben gerufene Unterschriftenaktion oder regionale und überregionale Empörung in der Presse konnte den allzu liberalen Pater vor dem Zorn Ruschs retten, der sich für die Amtsenthebung sogar den päpstlichen Segen aus Rom zusichern ließ. Im Juli 1974 war es vorübergehend auch mit dem Z6 vorbei. Rusch ließ kurzerhand die Schlüssel des Jugendzentrums austauschen, eine Methode, die er auch bei der Katholischen Hochschülerschaft angewendet hatte, als diese sich zu nahe an eine linke Aktionsgruppe annäherte. Die Tiroler Tageszeitung vermerkte am 1. August 1974 in einem kleinen Artikel dazu:
„In den letzten Wochen war es zwischen den Erziehern und dem Bischof zu tiefgreifenden Auseinandersetzungen über Grundsatzprobleme gekommen. Nach den Worten des Bischofs hätten die im „Z 6“ vertretenen Auffassungen „mit der kirchlichen Lehre nicht mehr übereingestimmt“. So seien den Jugendlichen von der Leitung des Zentrums absolute Gewissensfreiheit ohne gleichzeitige Anerkennung objektiver Normen zugebilligt und auch geschlechtliche Beziehungen vor der Ehe erlaubt worden.“
Sein Festhalten an konservativen Werten und seine Sturheit waren es, die Ruschs Ansehen in seinen letzten 20 Lebensjahren beschädigten. Als er 1964 zum ersten Bischof der neu gegründeten Diözese Innsbruck geweiht wurde, änderten sich die Zeiten. Der progressive mit praktischer Lebenserfahrung von einst wurde vom modernen Leben einer neuen Generation und den Bedürfnissen der sich etablierenden Konsumgesellschaft überholt. Die ständige Kritik des Bischofs am Lebensstil seiner Schäfchen und das sture Festhalten an seinen allzu konservativen Werten gepaart mit teils skurrilen Aussagen machten aus dem Mitbegründer der Entwicklungshilfe Bruder in Not, dem jungen, anpackenden Bischof des Wiederaufbaus, ab den späten 1960er Jahren einen Grund für den Kirchenaustritt. Sein Konzept von Umkehr und Buße trieb skurrile Blüten. So forderte er von den Tirolern Schuld und Sühne für ihre Verfehlungen während der NS-Zeit, bezeichnete aber gleichzeitig die Entnazifizierungsgesetze als zu weitgreifend und streng. Auf die neuen sexuellen Gepflogenheiten und die Abtreibungsgesetze unter Bundeskanzler Kreisky erwiderte er, dass Mädchen und junge Frauen, die verfrüht geschlechtlichen Umgang haben, bis zu zwölfmal häufiger von Krebserkrankungen der Mutterorgane betroffen seien. Hamburg bezeichnete Rusch als Sündenbabel und er vermutete, dass die schlichten Gemüter der Tiroler Bevölkerung Phänomenen wie Tourismus und Nachtlokalen nicht gewachsen seien und sie zu unmoralischem Verhalten verführten. Er fürchtete, dass Technologie und Fortschritt den Menschen allzu unabhängig von Gott machen. Er war streng gegen die neue Sitte des Doppelverdienstes. Der Mensch sollte mit einem spirituellen Einfamilienhaus mit Gemüsegarten zufrieden sein und nicht nach mehr streben, Frauen sollten sich auf ihre traditionelle Rolle als Hausfrau und Mutter kümmern.
1973 wurde Bischof Rusch nach 35 Jahren an der Spitze der Kirchengemeinde Tirols und Innsbrucks zum Ehrenbürger der Stadt Innsbruck ernannt. 1981 trat er von seinem Amt zurück. 1986 fand Innsbrucks erster Bischof seine letzte Ruhe im Dom St. Jakob. Das Bischof-Paulus-Studentenheim bei der unter ihm errichteten Kirche Petrus Canisius in der Höttinger Au erinnert an ihn.
Das Jugendzentrum Z6 übersiedelte nach seiner Schließung 1974 in die Andreas-Hofer-Straße 11, bevor es seine bis heute bestehende Heimstätte in der Dreiheiligenstraße fand, mitten im Arbeiterviertel der Frühen Neuzeit gegenüber der Pestkirche. Jussuf Windischer blieb nach seiner Mitarbeit in Sozialprojekten in Brasilien in Innsbruck. Der Vater von vier Kindern arbeitete weiterhin mit sozialen Randgruppen, war Dozent an der Sozialakademie, Gefängnisseelsorger und Leiter des Caritas Integrationshauses in Innsbruck.
Auch die MK besteht bis heute, auch wenn es das Kennedyhaus, das direkt nach dem Abschied Kripps von den Mitgliedern in Sigmund-Kripp-Haus umbenannt wurde, nicht mehr gibt. Kripp wurde 2005 von seinem ehemaligen Sodalen und späteren Vizebürgermeister wie vor ihm Bischof Rusch zum Ehrenbürger der Stadt Innsbruck ernannt.
Die guten und die schlechten Innsbrucker
Die Bögen, das ist in Innsbruck da, wo die guten Innsbrucker nicht hingehen. Außer sie sind angesoffen, weil sie mit den weniger guten Innsbruckern davor irgendwo anders waren, wo die weniger guten sie zum Alkohol überredet haben, den die guten ja gar nicht trinken wollten, wie sie ihrem Lebensabschnittspartner, Gatten, Erziehungsberechtigten oder Unterhaltspflichtigen beim Heimkommen am nächsten Tag, reumütig für die Schwäche und aufgebracht über das erlittene Unheil durch die weniger guten Innsbrucker, erzählen werden. Aber Wurscht, die guten Innsbrucker gehen da nicht hin, weil in den Bögen trifft sich alles, was sich sonst nirgends trifft: Männer mit Hemd, Frauen mit Kleid, Frauen mit Hosen, Männer mit Kilt, Männer mit langen Haaren, Frauen mit gefärbten Haaren, Rocker, Hackler, Studenten, Jungbauern, Sportler, Musiker, Punks – kurzum, damit wir da fertig werden – alles. Zum Angst bekommen ist das. Und da wird nicht nur getrunken, da wird auch gedealt, hergeschlagen und mit dem Messer abgestochen. Ich habe es zwar nicht gesehen wie da hergeschlagen wird, zumindest nicht mehr als in anderen Lokalen, wo angesoffene Leute zusammenkommen, abgestochen sowieso nicht, aber es steht in der Zeitung und damit wird es wohl so sein.
Manchmal, früher war es öfter, weil ich bin ja schon alt, wenn ich mit so einem guten Innsbrucker in Bierlaune zu sprechen komme, und das Gespräch geht irgendwann im Lauf des Abends Richtung Bögen und wie schlimm die sind, dann erkläre ich gern, dass die Bögen, wenn man der Theorie von Einstein mit der Raumzeit folgt, die ich zwar nicht verstehe, aber trotzdem gerne anbringe, um den guten Innsbruckern, die sie ebenfalls nicht verstehen, zu imponieren, weder gut noch schlecht, sondern maximal relativ sind. Das versteht dann niemand und ich muss es erklären. Die Bögen sind nämlich relativ, weil sie weder zeitlich noch räumlich einen Anfang oder ein Ende haben, und zwar im Kleinen nicht und im Großen auch nicht.
Im kleinen Zeitlichen nicht, weil die Bögen ja nie so richtig zusperren. Wenn die letzte Bar zumacht, dann macht die erste schon wieder auf. Der Brennpunkt verkauft seinen Kaffee an die Hipster nämlich mehr in der Früh wie am Abend. Und im großen Zeitlichen auch nicht, weil die Sachen, die dort passieren, sich wie in einer endlosen Zeitschleife wiederholen, nur dass alles schlechter wird, natürlich. Weil als ich jünger war, da war natürlich alles besser als jetzt wo mein Sohn mit dem Ausgehen anfängt, die Musik sowieso und so teuer war es auch nicht und wir haben uns auch nicht so blöd angezogen und nicht so blöd miteinander geredet, wie die Jungen heute. Und wenn ich ihm von früher erzähle und wie super da alles war, besonders in den Bögen, dann hört er mir natürlich ehrfürchtig zu so wie ich meinem Papa immer zugehört habe, wenn er mir erzählt hat, wie früher alles besser war.
Und nicht nur die Bögen sind in dieser Zeitschleife, auch das, was wegen den Bögen danach passiert ändert sich nicht, so alt kann man gar nicht werden. Meine Mama, als ich noch jünger gewesen bin und daheim gewohnt habe, also halt bei meinen Eltern, daheim wohnt man ja sowieso, hat sich immer beschwert, wenn ich erst in der Früh und angetrunken heimgekommen bin. „Warst du schon wieder in den Bögen herumsaufen, ha?“. Als ich dann ausgezogen bin und eine Freundin gehabt hab, die überhaupt keinen Alkohol getrunken hat und deswegen auch nie in die Bögen mitgegangen ist, da bin ich dann zwar auch nicht mehr so oft dort gewesen, aber immer, wenn es passiert ist, dann hat sie sich auch beschwert. Jetzt habe ich eine Freundin, die früher auch immer in den Bögen war und wenn ich jetzt dort hin gehe, dann geht sie mit und wenn man jetzt meint, dass sich dann wohl kaum jemand beschweren kann, dann täuscht man sich, weil die Beschwerde ist halt dann deswegen, weil sie wegen mir Kopfweh und einen Kater hat am nächsten Tag, weil sie ja mitgehen musste. Es nützt also nichts, wenn man erwachsen wird, wenn man in die Bögen geht, egal ob allein oder nicht, wird man geschimpft.
Und das Räumliche, das ist auch relativ, denn die Bögen haben zwei Anfänge und zwei Enden, und man eigentlich nicht sagen, wo sie beginnen und aufhören, weil das ja davon abhängt, wo man reingeht und dann wieder rausgeht wenn man fertig hat. Für mich beginnen die Bögen vorne, also beim Sillpark, wo früher das Viaduktstüberl war, ein Lokal, das immer dreckige Scheiben mit Unterberg-Reklame gehabt hat und wo es dir hat passieren können, dass sich jemand schon ganz früh am Abend wild aufgeführt hat, weil man da, wo die Bögen anfangen auch früh schon mit dem Alkoholtrinken angefangen hat. Jetzt ist in diesem Bogen übrigens ein Essenslokal, wo Familien reingehen sollen.
Für jemand anderen beginnen die Bögen sicher hinten beim Sillzwickl wo der Outsider Motorcycle Club sein Vereinslokal hat, obwohl ich das komisch finde, aber diese falsche Meinung muss man als weltoffener Mensch respektieren. Ich war da einmal bei einer 150er Geburtstagsfeier. Wie ich 30 geworden bin, habe ich mit vier Freunden, die auch 30 geworden sind, eine Party gemacht. Das war übrigens auch komisch, vor allem wie die Freundin von einem von meinen Freunden mit einem der Motorradkellner geschmust hat, das war dann das Ende eben am Ende von den Bögen.
Aber besser zurück zum Anfang. Mit den Bögen ist es nämlich so. Es sind, wenn man den letzten Bogen hinterm Outsider, der eigentlich ein Durchgang ist, mitzählt, 175. Diese 175 Bögen verteilen sich auf 1,7 Kilometer. Ich weiß das, weil ich es mit meiner Sportuhr extra ausgemessen habe. Zwischen dem Outsider und dem nächsten Lokal, dem Cafe zum Mo im 103er Bogen, sind eigentlich auf den ersten 650 m, oder eben den letzten, wie man es halt sieht, nur Auto- und Mopedwerkstätten und das Veloflott für Fahrräder, also Mobilität, und mich interessiert halt mehr das Alkoholische an den Bögen. Und da ist der interessante Teil der erste, denn auf diesem Kilometer sind die Bars und Gasthäuser.
Die erste ist das Little Rock, das ein bisschen ausschaut wie ein Saloon und wo wir früher, wo alles besser war, immer gesagt haben, dass wir da nicht reingehen, weil es eh ganz ähnlich ist wie das Down Under, nur dass das Down Under viel cooler ist. Blöd halt, dass es das Down Under nicht mehr gibt. Wo ich da vor der Tür gestanden bin und gemerkt hab, dass das zugesperrt hat, das war so wie für einen Katholiken, wenn der Papst stirbt, und der Katholik merkt es nicht und wie er dann irgendwann in Rom steht heißt es: „Der Papst ist gestorben.“ So habe ich da wohl auch ausgeschaut in dem Moment wo ich das erfahren habe, mit einem ganz verwunderten und traurigen Gesicht, weil im Down Under habe ich schon viel Bier oben bei den Tischen und an der Bar getrunken. Und wenn es so einen Ort wie das Down Under nicht mehr gibt, merkt man – Holla, ich bin auch nicht mehr jung. Das ist wie wenn dein Kindergarten abgerissen wird und es schon so lange her ist, dass du da drinnen warst, dass du dich gar nicht mehr daran erinnern kannst. Unterschied zwischen dem Down Under und dem Kindergarten, dass es im Kindergarten keinen Tequila gegeben hat. Und die Musik war dort auch immer gut, also im Down Under, nicht im Kindergarten. Genau so laut nämlich, dass man sich noch unterhalten hat können. Deswegen ist man immer eher ins Down Under, wo man noch hat reden können und noch nicht ganz betrunken war, und erst später ins PMK, wo immer Konzerte sind und die Musik lauter ist. Außerdem waren im Down Under die Leute immer gemütlicher als im PMK, da waren immer alle gestresst.
Wenn man jetzt meint, das PMK war das Gegenteil vom Down Under, dann ist das falsch. Das Gegenteil vom PMK ist nämlich wieder auf der anderen Seite der Bögen, wo jetzt die neue Bahnstation ist. Die Bögen haben nämlich, wie es sich gehört, einen eigenen Bahnhof. Das Gegenteil vom PMK mit den ganzen Alternativen und Linken ist nämlich sowohl geographisch wie auch ideell das Andreasstüberl, wo der Wirt, der Ander, wie ein Häuptling seinen Indianern, von denen die meisten schon zu viele Sommer und Winter in den Bögen verbracht haben, zu Schlagermusik Bier und Ramazzotti ausschenkt.
Neben dem Andreasstüberl ist das Shakespeare´s, da kann es dir auch passieren, dass du Schlagermusik hörst, weil dort oft Karaoke gesungen wird und wenn der DJ gut aufgelegt ist, dann singt der vielleicht auch einen Schlager, obwohl er selber eher Metal-Fan ist.
Wenn man dann alles zusammennimmt zwischen dem Little Rock und dem Cafe zum Mo, dann ist zwar alles relativ, wie es der Einstein sagt, aber ein Zentrum gibt es trotzdem. Weil da kann man noch so sehr Physiker sein, in der echten Welt, die sowohl der gute wie auch der weniger gute Innsbrucker begreifen, da braucht es ein Zentrum. Und in den Bögen, da ist dieses Zentrum das Plateau. Natürlich ist auch das Plateau wie alles schlechter geworden, weil da ja nix mehr los ist, was natürlich daran liegen kann, dass ich es nicht mehr bis Drei Uhr aushalte, davor war da ja da nie was los, aber ich denke schon, dass es früher besser war. Eigentlich ist es ja auch egal, weil das Plateau, das ist wirklich die Definition von Raumzeit, zumindest soweit ich es verstehe. Wie sonst soll es sein, dass es da keine Zeit gibt, der kleine Raum immer viel größer ausschaut und einem auch alles relativ Wurscht ist, wenn man da drinnen ist. Man geht zum Beispiel irgendwann nach Mitternacht rein und um Halb wieder raus. Halb ist die Zeit, wo es draußen schon hell ist und die Vögel zwitschern und die guten Innsbrucker, die nicht in der Raumzeit gefangen waren, zur Arbeit gehen und im Plateau ist es immer noch dunkel, weil da ist es ja erst kurz nach Mitternacht.
Als ich jung war, da habe ich Geld gebraucht und deswegen sogar zwei Wochen lang in den Weihnachtsferien im Plateau die Abrechnung gemacht und den Boden geschrubbt und die Klos geputzt. Wie ich also in der Früh reingehe, da sitzen noch die Kellner drinnen und trinken und rauchen und ich war nüchtern und wollte putzen, aber das ging nicht, weil in der Raumzeit im Plateau, da haben die Betrunkenen Vorrang. Vor der Tür kann es ruhig schon da sein, aber in diesem kleinen Raum, da ist es immer Halb.
Und wenn die guten Innsbrucker immer auf das Plateau und das Andreasstüberl und das PMK und die anderen Bögen schimpfen, dann muss ich sagen, dass ich es toll finde, dass wir in der Stadt etwas haben, wo sich alle treffen und alle gleich sind und sogar der Raum und die Zeit nicht mehr ganz so exakt sind und es auch einmal OK ist, wenn es Halb wird. So!