Thyrsus, Haymon und die Bajuwaren

Thyrsus, Haymon und die Bajuwaren

Nach dem Verschwinden des weströmischen Reiches und der dazugehörenden Verwaltung übernahmen verschiedene germanische Stämme die Kontrolle über das Gebiet des heutigen Innsbrucks. Bei der Landnahme wurde zwar das Castell Veldidena zerstört, der Übergang zur bajuwarischen Herrschaft war für die breonisch-romanisierte Bevölkerung aber weniger plötzlich und kriegerisch als viel mehr fließend. Es waren keine barbarischen Zerstörer, sondern Gruppen, die seit Jahrhunderten mit der römischen Welt in der einen oder anderen Form im Austausch standen. Kampfhandlungen waren wohl die Ausnahme. Die Kulturen vermischten sich nach und nach in einer Zeit, in der das Herrschaftsgefüge eher von loser Natur war. Die Alltagssprache der Menschen war eine Form des Germanischen, schon früh hatte sich als Schriftsprache aber auch bei den „Barbaren“ nördlich der Alpen Latein durchgesetzt.

Das wichtigste Überbleibsel der Römer war aber das Christentum. Spätestens ab dem 8. Jahrhundert waren die Bajuwaren christianisiert. Zur Zeit Karls des Großen (ca. 748 – 814) wurden die Herzöge von Bayern und mit ihnen das Inntal zu einem Teil des Heiligen Römischen Reiches, das sich über weite Teile Zentraleuropas und Norditaliens erstreckte. Die Machthaber stützten sich in der Verwaltung auf die kirchlichen Strukturen der Römer zur Verwaltung des Gebiets, waren Kleriker doch vielfach die einzigen Schriftgelehrten. Anstatt Römischer Kaiser herrschte eine geharnischte Aristokratie als Lehensmänner des vom Papst gesalbten Frankenkönigs Karl im Namen Gottes über die Untertanen, die in er Landwirtschaft malochten. Der christliche Kirchenvater Paulus hatte in seinem Römerbrief die theologische Basis für dieses System gelegt:

Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, ist sie von Gott angeordnet. Darum: Wer sich der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt Gottes Anordnung; die ihr aber widerstreben, werden ihr Urteil empfangen. Denn die Gewalt haben, muss man nicht fürchten wegen guter, sondern wegen böser Werke. Willst du dich aber nicht fürchten vor der Obrigkeit, so tue Gutes, dann wirst du Lob von ihr erhalten. Denn sie ist Gottes Dienerin, dir zugut. Tust du aber Böses, so fürchte dich; denn sie trägt das Schwert nicht umsonst. Sie ist Gottes Dienerin und vollzieht die Strafe an dem, der Böses tut. Darum ist es notwendig, sich unterzuordnen, nicht allein um der Strafe, sondern auch um des Gewissens willen. Deshalb zahlt ihr ja auch Steuer; denn sie sind Gottes Diener, auf diesen Dienst beständig bedacht.

Kulturell zeigte sich das Christentum auch im alpinen Raum anpassungsfähig an Traditionen und Bräuche. Die Märtyrer und Heiligen des Christentums ersetzten die heidnische Vielgötterei. Alte Feste wie die Wintersonnwende, Erntedank oder der Frühlingsbeginn wurden in den christlichen Kalender integriert und von Weihnachten, Allerheiligen und Ostern ersetzt. Beliebte Legenden um wunderkräftige Pflanzen, unheilbringende Berggipfel, zauberkundige Wesen wie die Saligen Fräulein, verwunschene Könige und andere Sagengestalten konnten problemlos parallel zum Christentum verehrt werden.

Zwei der bis heute in Innsbruck populärsten unter ihnen spielen die Hauptrolle im Gründungsmythos des Stiftes Wilten. Ein außerordentlich kräftiger Ritter, bekannt als Riese Haymon begab sich irgendwann zwischen Spätantike und frühem Mittelalter nach Tirol. In Tirol traf er auf den alteingesessenen Riesen Thyrsus von Seefeld. Während der germanische Ritter Haymon mit Schwert und Schild bewaffnet war, hatte Thyrsus, der zwar einen romanisierten Namen trug, eigentlich aber ein wilder Alpenbewohner war, nur einen Baumstamm zur Verfügung. Es kam wie es kommen musste, das moderne Schwert schlug die hölzerne Keule und Haymon tötete Thyrsus. In Reue über seine Tat trat er zum Christentum über und ließ sich vom Bischof von Chur taufen. Anstatt wie geplant eine Burg im Inntal zu bauen, errichtete er aufbauend auf den Ruinen der römischen Festung Veldidena ein Kloster. In der nahen Sillschlucht aber hauste ein furchterregender Drache, der nicht nur jede Nacht den Neubau des nun christlichen Helden verwüstete, sondern auch eine sinnvolle Besiedlung des Landstrichs unmöglich machte. Haymon tötete das Untier, schnitt ihm die Zunge ab und vermachte sie seiner eigenen Stiftung. Nach seiner Karriere als Drachentöter übergab Haymon das Kloster den Benediktinermönchen vom Tegernsee und trat als Laienbruder selbst der Bruderschaft bei. Die Menschen der Region waren dem Riesen für die Befreiung vom Drachen so dankbar, dass sie sich gerne in die abgabenpflichtige Obhut des Stiftes Wilten begaben, um das einst wilde Land als Bauern fruchtbar zu bestellen.

Haymon steht in dieser Parabel für die anfangs gewaltbereiten, später aber edlen und wohltätigen germanischen Besiedler, Thyrsus für die mutigen und wilden, am Ende aber doch unterlegenen Bewohner der Region zwischen Seefelder Plateau und Brenner. Der Drache symbolisiert das böse, zerstörerische und unchristliche Heidentum, das vom konvertierten Germanen ausgemerzt wird. Die Klosterbrüder, reich beschenkt vom tapferen Ritter, sind die ordnende Hand, ohne die nichts funktionieren würde.

Die Haymonsage und ihre Moral zeigten sich im Laufe der Jahrhundert je nach Zeitgeist ebenso flexibel wie das Christentum bei seiner Einführung in der Spätantike. Einmal war Haymon ein Adliger vom Rhein, der nach dem Tod Karls des Großen nach Tirol kam, ein anderes Mal unterwegs zwischen Ravenna und Deutschland als Gefolgsmann des ostgotischen Königs Theoderich, besser bekannt als Dietrich von Bern. Vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert standen die Konvertierung Haymons, der Schutz der bäuerlichen Untertanen durch das christliche Rittertum und die Klostergründung im Mittelpunkt, um das segensreiche Feudalwesen zu untermauern. In einem Artikel in den Innsbrucker Nachrichten vom 2. Oktober hingegen ließ der Autor Dr. Franz Wöß das katholische Element des Klosterbaus fast komplett beiseite und betonte das heldenhafte Deutsche, bevor er sich der heiltätigen Wirkung des Thyrsusöls widmete, das die Seefelder Bauern seit dem Mittelalter aus den ölhaltigen Schiefersteinen gewannen. In dieser Version der Sage zog sich Haymon nach seinen Heldentaten in die Wildnis in Seefeld als Einsiedler zurück anstatt als Kleriker sein Leben im Stift Wilten zu beenden. Nach dem Zweiten Weltkrieg wiederum wollte man sich vom Germanentum so weit als möglich distanzieren. Die 1956 an der Fassade des „Gasthauses Zum Riesen Haymon“ entstandene Wandmalerei zeigt den unterlegenen Thyrsus, mit österreichischem Wappenschild, ganz im Sinne des Opfermythos der Nachkriegszeit.

Vom heilkräftigen Dirschenöl

Wie die Sage vermeldet, zog mit Dietrich von Bern, der auf der alten Römerstraße vom Süden nach Tirol kam, auch der Riese Haymon, ein Edler aus rheinischem Geschlechte, der „was sehr fromm“. Er erschlug im Streit einen andern Riesen, den Wildenmann, der die Felder verwüstete und die Bauern baten ihn, er möge sie auch weiterhin als ihr Herr beschützen. Haymons junge Herrschaft wollte aber ein einheimischer Riese aus der Seefelder Gegend, Thyrsus, nicht dulden.

Wo heute das Dörfchen Zirl an der Oberinntalstraße liegt, kam es zum Kampf zwischen den beiden Riesen. Sie trafen einander in der Reschenfuhrung, wie sie das schöne Gemälde der Wiltener Stiftskirche in Innsbruck zeigt. Haymon, der christliche Ritter mit Schwert und Schild, Thyrsus, der heidnische Unmensch, mit einem ungeheuren, scharf gezahnten Zirbelnussholz. Haymon siegte. Thyrsus, der zu Tode getroffen, in die Berge vor Seefeld flüchtete, wo er sterbend sein Blut in das Gestein fließen ließ, damit seine Bauern daraus Heilkraft schöpfen könnten:

„Geh’ hin, unflüssiges Blut,
Das sei für Tier und Menschen gut!“

Mit diesem letzten Worte verehrte Thyrsus den Seefeldern und Reither Bauern ein wertvolles Gut, das „Thyrsusblut“ oder Dirschenöl, das spätere Ichthyol.

Haymon bereute seine Untat und erbaute zur Sühne das heilige stille Wirken an der Stelle seines Kampfes: das Stift Wilten. Dann lebte er als Büßer weiter in einer Höhle am Bergkegel. Beim Tode seines Walles entblößte er einmal, wie auch der versöhnte Ort prophezeite, das wertvolle Öl.

Die Bauern der Seefelder Gegend verwendeten dieses Thyrsusmittel durch obiges Deifikationswort als ein „Einheimisches“. Die häufigen Schiefergeschiebe mit ihren ölhaltigen Dirschenflüssigkeitsgefäßen auf einen Herd gebracht und dort durch Ausdünstung- und Schwitzprozess Ichthyol gewonnen, wie auch heute wieder – der Seefelder Oelfischer durch Jahrhunderte das heilkräftige Oel geliefert hatte, verwendeten man als Heilöl, zu Heizungssalben, wie den Maximilianischen Zimmern zu Brixen oder auch im Wiener Krankenhaus verbrachte Salben und Rollen. Doch das seiner feinen Erdöl und harzigen Rückstände entölte Ichthyol entfesselt das innerste Urwesen.

Dass aus Dirschenöl das Blut des erschlagenen Riesen Thyrsus sei, das noch wohl nun die Seefelder Bauern geglaubt haben, die das Mittel mühsam aus dem Stein gewannen, hoch über dem Inntal, wie es der Kampf der kulturbringenden, bergfahrigen Germanenstämme mit der Urbevölkerung versinnbildlicht, ist kaum der Wirklichkeit nachzufühlen. Ichthyol – nach der griechischen Schrift über das Fischöl – erteilt keinen giftigen oder süßsäuerlichen Reiz, der bei den Stinkölen häufig auftritt.

Ebenso wie bei der Darstellung, daß dieses wertvolle Heilöl von einem christlichen Riesen sei, das ihm der Riesen Thyrsus hinterließ, herrscht auch bei der Namensnennung Ichthyol die Vorstellung, daß organisches Leben die Grundlage dieses Lebenssaftes, die Fische und andere Wasserwesen, entließen im Schieferkitt für den Menschen zur Verwendung. Nun finden sich solche Fischreste allerdings meist nicht im eigentlichen Ichthyolschiefer, sondern nur im Gestein; man kann den Namen Ichthyol daher nicht als so berechtigt ansehen, weil dieser Gesteinsschiefer und Erdöl zweifellos besonders schwefelreich sind. Der Seefelder Schiefer enthält bis zu 10 % Rohöl und trotz viel Harz und Fett wenig Schwefel. Der Schwefel soll die Heilwirkung abgeschlossen haben.

Der deutsche Arzneialmanach empfiehlt Ichthyol gegen entzündliche Vorgänge an Haut und Glied. Ebenso gehört es zu einem edlen Bestand der Urotropintherapie, aber auch in der Tierheilkunde findet Ichthyol viel Verwendung.

 

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