Lebensreform und Sozialdemokratie

Fassade Winklerhaus
Lebensreform und Sozialdemokratie

„Licht Luft und Sonne“ war das Motto der Lebensreform, einer Sammelbewegung alternativer Lebensmodelle, die im späten 19. Jahrhundert in Deutschland im Gleichschritt mit der Entwicklung der Sozialdemokratie ihren Anfang nahm. Beide Strömungen waren Reaktionen auf die Lebensbedingungen in den rasant wachsenden Städten. Die Urbanisierung wurde zunehmend als Belastung empfunden. Der Verkehr auf den Straßen, die Abgase der Fabriken, die beengten Wohnverhältnisse in den Mietkasernen und die bis dahin unbekannte Hast, die neue Krankheitsbilder wie Neurasthenie salonfähig machte, riefen Gegenbewegungen hervor. Innsbruck war zwar nicht mit Paris oder London vergleichbar was Stadtgröße und Intensität der Industrialisierung betrifft, die Fallhöhe für viele Bewohner der ehemals ländlichen Viertel war aber enorm. Die infrastrukturellen Probleme waren ebenfalls ähnlich.

Seit 1869 erschien die Deutsche Vierteljahrschrift für öffentliche Gesundheigspflege, die sich mit der Verbesserung von Ernährung, Hygiene und Wohnraum auseinandersetzte. 1881 wurde die Österreichische Gesellschaft für Gesundheitspflege gegründet. Private Vereine veranstalteten Aufklärungsveranstaltungen zum sauberen und gesunden Leben. Man betrieb politisches Lobbying zur Errichtung von Parks im öffentlichen Raum und der Verbesserung der Infrastruktur wie Bädern, Krankenhäusern, Kanalisation und Wasserleitungen. Assanation und Sozialhygiene waren Schlagwörter einer bürgerlichen Elite, die um ihre Mitmenschen und die Volksgesundheit besorgt war. Wie alle elitären Bewegungen nahm auch die Lebensreform teils absurde Blüten an, zumindest aus damaliger Sicht. Bewegungen wie der Vegetarismus, FKK, Gartenstädte, verschiedene esoterische Strömungen und andere alternative Lebensformen, die sich bis heute in der einen oder anderen Form erhalten konnten, entstanden in dieser Zeit. 

Der exzentrisch anmutende Lebensstil, der wohlhabenden Bürgern in ihren Villen im Saggen, Wilten und Pradl möglich war, blieb Arbeitern meist verwehrt. Viele Mietzinsburgen waren triste und überfüllte Biotope ohne Infrastruktur wie Sportanlagen oder Parks. Es waren die frühen Sozialdemokraten, die sich politisch den Lebensrealitäten der Arbeiter stellten. Moderne Wohnsiedlungen sollte funktional, komfortabel, leistbar und mit Grünflächen verbunden sein. Diese Ansichten hatten sich auch in öffentlichen Stellen durchgesetzt. Albert Gruber, Professor an der Innsbrucker Gewerbeschule, schrieb 1907:

Ich habe zwar oft den Ausspruch gehört, wir in Innsbruck benötigen keine Anlagen, uns gibt das alles die Natur, Das ist aber nicht wahr. Was gibt es schöneres, als wenn die Berufsmenschen von der Stelle ihrer Tätigkeit in ihr Heim durch eine Reihe von Pflanzenanlagen gehen können. Es wird dadurch der Weg von und in den Beruf zu einem Erholungsspaziergang. Die Gründe, weshalb Baum- und Gartenpflanzungen im Bereiche der städtischen Bebauung vorteilhaft wirken, sind übrigens mannigfaltige. Ich will nicht auf die Wechselbeziehung zwischen Menschen und Pflanze hinweisen, die hinlänglich bekannt sein dürfte. In anderer Weise wirken die Pflanzen zur Verbesserung der Atmungsluft durch Verminderung des Staubes.“

Noch vor dem Ersten Weltkrieg kam es zu Veränderungen im politischen Alltag. Die Sozialdemokratie als politische Bewegung als politische Partei gab es seit 1889 offiziell, gestalterische Möglichkeiten hatte sie unter der Habsburgermonarchie aber nur sehr eingeschränkt. Bedeutsam war die Arbeiterbewegung vor allem als gesellschaftliches Gegengewicht zu den in Tirol alles dominierenden katholischen Strukturen. 1865 entstand in Innsbruck der erste Tiroler Arbeiterbildungsverein. Arbeiter sollten sich ihrer Stellung innerhalb der Gesellschaft bewusst werden vor der anstehenden Weltrevolution. Dafür war es unumgänglich, ein Mindestmaß an Bildung zu besitzen und Lesen und Schreiben zu beherrschen. 10 Jahre später gründete Franz Reisch den Allgemeinen Arbeiter-Verein in Innsbruck. Weitere zwei Jahre später wurde reichsweit die Allgemeine Arbeiter-, Kranken-, und Invaliden-Casse“ an den Start geschickt. Trotz staatlicher Repression kam es immer wieder zu beträchtlichen Versammlungen der Radicalen.  Seit 1893 erschien in Innsbruck die sozialdemokratische Volkszeitung als Gegenstimme zu den katholischen Blättern.

1899 wurde in der heutigen Maximilianstraße die Erste Tiroler Arbeiter-Bäckerei, kurz ETAB, eröffnet. Die Genossenschaft machte es sich zum Ziel, unter guten Arbeits- und Hygienebedingungen hochwertiges Brot zu fairen Preisen herzustellen. Nach mehreren Standortwechseln landete die ETAB in der Hallerstraße, wo sie bis 1999 täglich frische Backwaren produzierte.

Die ersten freien Wahlen innerhalb der k.u.k. Monarchie zum Reichsrat für alle männlichen Bürger im Jahr 1907 veränderten nicht nur die politischen, sondern auch die sozialen Kraftverhältnisse. Der Pofel hatte nun politisches Mitspracherecht. Wichtige Gesetze wie Arbeitszeitbeschränkungen und Verbesserung in den Arbeitsbedingungen konnten nun mit mehr Nachdruck verlangt werden. Das Kronland Tirol hatte gemeinsam mit Oberösterreich die längsten Arbeitszeiten in der gesamten Donaumonarchie. Die Gewerkschaftsmitglieder stiegen zahlenmäßig zwar auch an, außerhalb der kleinstädtischen Zentren war Tirol aber zu sehr bäuerlich geprägt, um nennenswerten Druck erzeugen zu können.

Auf Gemeindeebene blieb das Zensuswahlrecht, das großdeutsch-liberalen und konservativ-klerikalen Politikern jahrzehntelang einen Freifahrtschein an die Macht ausgestellt hatte, bis nach dem Krieg bestehen. Die Erfüllung der daraus folgenden Forderungen musste auch nach den ersten Gemeinderatswahlen nach 1918 noch warten. Die Kassen der Nachkriegszeit waren nur dürftig gefüllt. Die großen Innsbrucker Infrastruktur- und Wohnbauprojekte wie das Tivoli, das Städtische Hallenbad, der Pembaur-, der Mandelsberger- oder der Schlachthofblock wurden erst in der Ersten Republik umgesetzt.

Ein bekannter Innsbrucker Vertreter der Lebensreform und der Sozialdemokratie war Josef Prachensky (1861 – 1931), der Vater des Architekten und Stadtplaners Theodor Prachensky. Er war im deutschsprachigen Böhmen, damals Teil der K.u.K. Monarchie aufgewachsen. Als gelernter Buchdrucker hatte er auf seiner Wanderschaft in Wien während des Buchdruckerstreiks die Arbeiterbewegung für sich entdeckt. Nach seiner Hochzeit mit einer Tirolerin ließ er sich in Innsbruck nieder, wo er als Redakteur für die sozialdemokratische Volkszeitung für Tirol und Vorarlberg arbeitete. Josef Prachensky unterstützte den Arbeiter-Consum-Verein, die Tiroler Arbeiterbäckerei und gründete den Gastrobetrieb „Alkoholfrei“ in der Museumstraße, der ganz im Sinne der Lebensreformbewegung und des Sozialismus die Verbesserung der allgemeinen Gesundheit zum Ziel hatte. Bereits Friedrich Engels (1820 – 1895), der Mitverfasser des Kommunistischen Manifestes, hatte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Schnaps und Branntwein als ein Übel der Arbeiterklasse erkannt hatte. Das Ziel, Menschen vom Alkohol wegzubekommen teilte der Sozialismus wie so vieles mit kirchlichen Vereinen. Die Weltrevolution war mit Suchtkranken ebenso wenig durchführbar wie ein tugendhaftes, gottgefälliges Leben. Prachensky war an der Gründung der Sozialdemokratischen Partei Tirols 1890 und nach dem Ersten Weltkrieg an der Gründung des Tiroler Republikanischen Schutzbundes RESCH beteiligt, dem linken Gegenstück zu den rechten Heimwehrverbänden. Ein besonderes politisches Anliegen war ihm die Einschränkung der Kirche auf den Schulunterricht, der im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts auch im eigentlich liberalen Innsbruck, das sich an die nationale Schulordnung halten musste, noch sehr groß war.

Lebensreform und der wachsende Einfluss der Sozialdemokratie beeinflussten auch Kunst und Architektur. Man wollte sich von dem, was Max Weber als protestantische Ethik beschrieb, der Industrie, den Stechuhren, ganz allgemein dem rasenden technischen Fortschritt mit allen Auswirkungen auf den Menschen und das Sozialgefüge, abgrenzen. Der Mensch als Individuum, nicht seine Wirtschaftsleistung, sollte wieder im Mittelpunkt stehen. Die Kultur der alten Gesellschaft, in der Adel und Klerus über dem Rest der Gesellschaft standen, sollte überwunden werden. Der Jugendstil in seiner Verspieltheit war die künstlerische Antwort eines exzentrischen und alternativen Teils des Bürgertums auf dieses Zurück zum Ursprung der Jahrhundertwende. Im Wohnbau der Ersten Republik gewann der Architekturstil der Neuen Sachlichkeit die Oberhand.

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